Читать книгу Das Dorf des Willkommens - Mimmo Lucano - Страница 19
ОглавлениеIn Kalabrien gab es in der Zeit meiner frühen Jugend keine »Arbeiterfrage«, mit der wir unsere politischen Proteste befeuern konnten. Erst in den 1970er-Jahren entstand auch hier im tiefen, vergessenen Süden ein wirkliches Klassenbewusstsein. Vor allem jüngere Menschen, aber nicht nur, wurden sich immer klarer darüber, dass sie Teil einer gespaltenen Gesellschaft waren.
Da es in Süditalien kaum Fabriken gab, waren die »Proletarier«, auf die sich die Analyse hier zu richten hatte, vor allem die Landarbeiter und Kleinbauern, die auf den Feldern arbeiteten und für ein winziges Stückchen Land und ein Leben in Würde kämpften. Der Süden war traditionell vom Agrarkapitalismus dominiert, der in Gesellschaft und Kultur tief verwurzelten Latifundienwirtschaft,16 und nicht zuletzt auch von der Herrschaft der Mafia bzw. der spezifisch kalabrischen ’Ndrangheta,17 die vom Kleinbürgertum meist heimlich toleriert, wenn nicht sogar offen unterstützt wurde. Für die Sehnsucht nach einer gleichberechtigten Gesellschaft schien hier gar kein Platz zu sein, geschweige denn für die »Revolution des Proletariats«.
Ich habe immer gedacht, dass sich in einer Gesellschaft, in der die Menschen nicht gleich sind und Diskriminierung toleriert wird, um Privilegien zu erhalten, die Machtstellung der Herrschenden verfestigt. Wenn sich einige wenige jedoch auflehnen, kommt es nicht selten zur Rebellion. In unserer Region gibt es ein berühmtes Beispiel für eine solche Revolte, die ihren Ausgang in einer natürlichen Katastrophe nahm, der eine bürokratische folgte.
Corrado Stajano erzählt diese Geschichte in seinem 1977 erschienenen Buch »Africo«,18 einer hervorragenden Reportage für diejenigen, die das Süditalien der Nachkriegszeit besser verstehen wollen. Africo war ein armes, isoliertes Dorf im Aspromonte-Gebirge, bewohnt von Bauern und Schäfern, die ihr Leben ohne die Errungenschaften des modernen Lebens fristeten und weder fließendes Wasser noch elektrischen Strom hatten. Um in die »Zivilisation« zu gelangen, sprich die nächstgelegene Ortschaft Bova Marina, musste man einen Fußweg von 15 Kilometern durch unwegsames und abschüssiges Gelände zurücklegen, eine Entfernung, die auch symbolisch ist für die Distanz zwischen Africo und dem italienischen Staat. Immer wieder hatten Einwohner Alarm geschlagen, weil es weit und breit keine ärztliche Versorgung gab, mit oft tragischen Konsequenzen. Zu Beginn der 1950er-Jahre fanden eine hochschwangere Frau und ihr ungeborenes Kind auf dem Weg nach Bova Marina den Tod: Freunde und Verwandte hatten versucht, sie auf einer improvisierten Krankentrage zu einem Arzt zu bringen, doch die Frau starb nach wenigen Kilometern.
Was dann geschah, wird in Pietro Criacos Roman »Via dall’Aspromonte« (2017) erzählt, oder auch dessen Verfilmung »Aspromonte, la terra degli ultimi« von Mimmo Calopresti (2019). Die Einwohner Africos reagierten auf die Tragödie, indem sie den Staat und die mächtigen lokalen Mafiosi herausforderten und ihr Schicksal schließlich selbst in die Hand nahmen. Männer, Frauen und Kinder krempelten die Ärmel hoch und begannen, eine Straße zu bauen, die von Africo nach Bova Marina führten sollte. Doch ihr tapferes Werk wurde gnadenlos vernichtet, weil eine andere Macht dazwischenkam, mit der man in dieser schönen, aber verfluchten Gegend immer zu rechnen hat: die Natur. Zwischen dem 14. und dem 18. Oktober 1951 wurde das uralte Dorf im Aspromonte, dessen Ursprünge bis in die Zeit der Griechen zurückgehen, durch eine Überschwemmung völlig verwüstet.
In Africo gab es einen Priester namens Don Giovanni Stilo, der über große Macht verfügte und überall seine Finger im Spiel hatte. Als nach der Zerstörung des Dorfes beschlossen wurde, dass die Ruinen sich selbst überlassen und die Menschen zwangsumgesiedelt werden sollten, stellte er sich zunächst dagegen. Später jedoch änderte er seine Meinung und wurde zum glühendsten Befürworter und Sponsor der Initiative, ein neues Africo in der Ebene am Meer zu bauen. Ich war ihm gegenüber immer misstrauisch, denn es war bekannt, dass er der Mafia nahestand und enge Beziehungen zu großen Kalibern der Cosa Nostra und der lokalen ’Ndrine19 unterhielt. Er soll den Mafiaboss Luciano Liggio kurz vor seiner Verhaftung im Mai 1974 beherbergt haben und stand auch mit Totò Riina, einem der berühmtesten Mafiabosse aller Zeiten aus dem sizilianischen Corleone, in Kontakt.
Nach der Überschwemmung organisierte die Linke in Africo zahlreiche Proteste und Streiks, um eine Verbesserung der Lebensbedingungen für die Menschen zu erreichen. Auch hier war jedoch immer unklar, ob Verbindungen zur lokalen Mafia bestanden. Die Kämpfe der Genossen waren dieselben, die auch in anderen Gegenden im Gange waren, auch in Riace. Und doch schienen in Africo die Bestrebungen der Linken und der ’Ndrangheta gemeinsame Zielsetzungen zu haben, jedenfalls für den, der nicht aus der Gegend kam und keinen tieferen Einblick hatte.
Es hat eine lange Phase gegeben, in der in Kalabrien ebenso wie in anderen Gegenden Süditaliens der Staat oft eher als Gegner empfunden wurde, den es zu bekämpfen galt, statt als Verbündeten, der für seine Bürger da ist. Auch die außerparlamentarische oder revolutionäre Linke war dieser Ansicht. Bei vielen Themen kam es so ungewollt zu gemeinsamen Interessenlagen mit der ’Ndrangheta. In Africo, San Luca und anderen Orten, die als Herrschaftsgebiet der Mafia organisiert sind, ersetzt diese – auch heute noch – in mancherlei Hinsicht den Staat. Die Verflechtungen zwischen Mafia und Gesellschaft sind so dicht, dass Bürger, um Probleme ihres alltäglichen Lebens zu lösen, oft nicht einmal auf die Idee kommen, sich an die staatlichen Behörden zu wenden, sondern fast automatisch auf die organisierte Kriminalität zurückgreifen. Es war sehr schmerzhaft für mich, mir dieser Tatsache bewusst zu werden, denn ich hatte ursprünglich angenommen, dass die Mafia und unser Kampf für eine bessere Gesellschaft zwei Extreme wären, zwischen denen es keine Berührungspunkte geben kann.
Glücklicherweise gab es damals auch Menschen, deren Engagement über jeden Zweifel erhaben war, und die keine Kompromisse eingingen. Ausgerechnet in Don Stilos Diözese kam in den 1970er-Jahren ein neuer Pfarrer namens Natale Bianchi, der aus der lombardischen Provinz Varese stammte und gerade von einer Mission aus Thailand zurückgekehrt war. Noch ganz belebt von seinen Erfahrungen dort, merkte er sofort, dass das System, das Don Stilo errichtet hatte, mit den Werten des Christentums und dem Beispiel des Fleisch gewordenen Christus im Evangelium nicht zu vereinbaren war.
Die Auseinandersetzung zwischen den beiden Priestern war ungewöhnlich hart. Ich war damals Student, und meine Kommilitonen und ich verbündeten uns sofort mit Natale Bianchi, weil wir in diesem jungen Priester, der so konsequent seinem Gewissen folgte, einen Fürsprecher für unseren Kampf für soziale Gerechtigkeit erkannten. Pater Bianchi nannte sich einen »Christen für den Sozialismus« und erzählte uns, dass Bischöfe in Lateinamerika eine Bewegung namens »Befreiungstheologie« gegründet hatten, die sich auf die Seite der Landlosen stellte und eine Agrarreform forderte. In Kalabrien konnte Natale Bianchi seine Position sehr schnell stärken, weil er die Kirche für das Volk öffnete. Ich erinnere mich an einen Satz, den er damals gesagt hat, und er bleibt bis heute eine Mahnung, auch angesichts der immer noch erschreckenden Macht der ’Ndrangheta: »Christus hat sich nicht um seine eigenen Angelegenheiten gekümmert, deshalb haben sie ihn ans Kreuz geschlagen.«
Dieses Motto lebte Natale Bianchi auch persönlich vor, denn er war ein Priester, der sich nicht in die Sakristei einschloss und sich auch nicht darauf beschränkte, stundenlang vor dem Altar zu knien und für die Rettung der armen Seelen zu beten. Ganz im Gegenteil, er machte die Türen seiner Pfarrei weit auf, und er kam sogar selbst heraus auf die Straße. In seinem Kampf für eine bessere Welt wandte er für einen Priester oft sehr unkonventionelle Methoden an. Nach dem Mafiamord an Rocco Gatto etwa war er die treibende Kraft, um eine Demonstration auf die Beine zu stellen.
Rocco Gatto wurde am 12. März 1977 ermordet, weil er beschlossen hatte, sich nicht zu beugen. Er war aktives Mitglied der Kommunistischen Partei und ein Mensch von großer Demut: Seit seiner Kindheit hatte er als Knecht für eine Mühle in Gioiosa Jonica gearbeitet. Nach und nach hatte er es unter schweren Opfern schließlich so weit gebracht, dass er sie kaufen konnte. Es war nicht leicht, ein kleiner Unternehmer in Kalabrien zu sein: Der Ursino-Clan kontrollierte das Territorium und verlangte von allen Geschäftsleuten Schutzgeld. Gatto weigerte sich jedoch zu zahlen und bot den Mafiosi die Stirn, die ihn wiederholt bedrohten und ihm das Leben unmöglich machten. Immer massiver wurden ihre Einschüchterungsversuche, bis sie schließlich darin kulminierten, dass man seine Mühle in Brand steckte. Rocco war ganz auf sich allein gestellt, ohne jede Unterstützung von Gemeinde und Staat.
Im November 1976 wurde der Chef des Ursino-Clans, Vincenzo Ursino, in einem bewaffneten Konflikt mit den Carabinieri erschossen. Der Clan erlegte allen Geschäftsleuten von Gioiosa Jonica eine Art Zwangstribut auf, zum Zeichen des »Respekts« für den Mafioso. Darüber hinaus sollte die ganze Stadt zu Ehren des Toten die Arbeit niederlegen. Rocco weigerte sich und arbeitete unverzagt weiter in seiner Mühle, wodurch er nochmals, allen Warnungen zum Trotz, seine Empörung und Entschlossenheit zum Ausdruck brachte. Er verstand nicht, was mit seinen Landsleuten los war, warum sie die Mafia unterstützten, die seit Jahrzehnten ihre Macht missbraucht und ihnen immer nur Tod und Verderben gebracht hatte. Rocco Gatto war jedoch der Einzige im Dorf, der die Autorität der Mafia nicht anerkannte, während sie den meisten anderen Menschen nach so vielen Jahren der Unterdrückung selbstverständlich schien.
Am Tag seines Todes packte er ein paar Mehlsäcke in seinen Lieferwagen und machte sich auf den Weg, um sie an seine Kunden auszuliefern. Auf der Staatsstraße in der Nähe von Gioiosa erwarteten ihn schon seine Mörder. Sein von Schüssen durchsiebter Körper landete in den Mehlsäcken, die die Frucht seiner Arbeit und Ehrenhaftigkeit waren, und befleckte sie mit Blut.
Natale Bianchi schaffte es, eine Demonstration zu organisieren, an der auch Bürger des »anderen« Gioiosa Jonica teilnahmen, jene nämlich, die so dachten wie Rocco Gatto und die nach dem Mord den Mut fanden, auf die Straße zu gehen. Vor allem aber bestand die Demonstration aus uns jungen Leuten von den linken Jugendvereinen sowie anderen politisch Engagierten aus den umliegenden Dörfern. Wir waren nicht viele, aber wir waren entschlossen, die Botschaft dieses bescheidenen Mannes weiterzutragen: Ein Mensch, dem seine Würde etwas bedeutet, beugt sich nicht vor denen, die den Tod verbreiten.
Drei Jahre später kam der italienische Präsident Sandro Pertini in die Locride, um Roccos Familie die Goldmedaille für zivile Tapferkeit zu verleihen. Dennoch ist ihm nie volle Gerechtigkeit widerfahren: Die mutmaßlichen Mörder konnte man zwar ermitteln, Mario Simonetta und Luigi Ursini vom Ursini-Clan, und sie wurden später wegen schwerer Erpressung zu sieben und zehn Jahren Haft und einer Geldstrafe von zwei Millionen Lire verurteilt. Von der Anklage des Mordes aber wurden sie aus Mangel an Beweisen freigesprochen.
Einer der Märtyrer im Kampf gegen die Mafia und eine zentrale Bezugsfigur für die kalabrische Linke war Peppe Valarioti. Er stammte aus einer einfachen Bauernfamilie in Rosarno, doch durch seine Zielstrebigkeit schaffte er es, zu studieren und Gymnasiallehrer zu werden. Er war hochgebildet und hatte eine große Leidenschaft für alte Geschichte, weshalb er oft bei archäologischen Ausgrabungen in der Region mitarbeitete. Und er war ein Freigeist, was in seinem Fall bedeutete, dass er eine Provokation für die ’Ndrangheta darstellte, die die Alleinherrschaft darüber haben wollte, in welche Richtung sich die süditalienische Gesellschaft entwickeln sollte.
Mitte der 1970er-Jahre wurde Valarioti Vorsitzender der Kommunistischen Partei PCI (Partito Comunista Italiano) und anschließend Stadtrat in Rosarno. Voller Tatkraft machte er sich daran, dem schlechten Ruf der örtlichen Politik zu begegnen, indem er sich für die Rechte der Landarbeiter und den Fortschritt von Freiheit und Gerechtigkeit einsetzte. Es war eine Zeit des starken Wandels für die Region: Man war gerade dabei, mit den Arbeiten für den Bau des Hafens von Gioia Tauro zu beginnen, der einer der größten und meistgenutzten Häfen Europas werden sollte. Auch die ’Ndrangheta wartete schon mit Spannung auf ihn, und bis heute ist er für den Drogenschmuggel von allerhöchster Bedeutung.
Der Kampf gegen die ’Ndrangheta war für den PCI von Rosarno eines der drängendsten Probleme, und an der Seite Valariotis kämpfte sein Freund und Namensvetter Peppino Lavorato. Im Mai 1980 konnten die beiden einen unerwarteten Wahlsieg feiern, denn eine beträchtliche Anzahl der Bürger von Rosarno schenkte der Kommunistischen Partei ihr Vertrauen und votierte damit gegen die althergebrachte Überzeugung, dass sich in dieser geschundenen Region nie etwas ändern würde. Der Wahlkampf war jedoch von einer langen Reihe von Einschüchterungsversuchen und Schikanen gegenüber den beiden Politikern begleitet, und man hatte unter anderem Lavoratos Auto und den Parteisitz des PCI in Brand gesteckt.
»Genossen, das haben wir uns wirklich verdient«, sagte Valarioti bei dem gemeinsamen Abendessen anlässlich ihres Wahlsiegs am 11. Juni 1980 im Restaurant La Pergola bei Nicotera zu seinen Mitstreitern. Doch dann, beim Verlassen des Restaurants, wurde er aus einem Hinterhalt von zwei Schüssen aus einem Jagdgewehr niedergestreckt. Valarioti starb in den Armen seines Freundes Lavorato, noch auf dem Weg ins Krankenhaus, im Alter von nur 30 Jahren. Peppino Lavorato führte sein Erbe weiter und wurde später Parlamentsabgeordneter (1987–1992) und Bürgermeister von Rosarno (1994–2003).
Peppino Lavorato gehört zu den Menschen, denen ich mich für den Rest meines Lebens tief verbunden fühle. Er hatte immer schon die außergewöhnliche Fähigkeit, seine Leidenschaft auf andere zu übertragen und sie mit seinem unbeirrbaren Engagement anzustecken. Seine persönliche Betroffenheit durch den Tod Valariotis, seine unbedingte Ehrlichkeit und Authentizität haben ihm in seinem Amt als Bürgermeister, in dem er sich sehr für die Rechte der Landarbeiter einsetzte, besondere Glaubwürdigkeit verliehen. Aufgrund seines hohen Alters ist er heute nicht mehr aktiv in der Politik tätig, aber er ist als streitbarer Mahner immer noch nicht verstummt und der Mission der Linken immer treu geblieben. Sehr früh schon hat er sich auch auf die Seite der Migranten gestellt, die heute den Platz der ehemals kalabrischen Landarbeiter eingenommen haben und auf den Tomaten- und Gemüsefeldern ausgebeutet und erniedrigt werden.
Manche sagen, der Mord an Valarioti sei der erste politische Mord der ’Ndrangheta gewesen, das erste unmissverständliche Signal der Mafia an die Politik, »auf ihrem Platz zu bleiben«. Auf jeden Fall aber war er nur der Anfang, denn schon zehn Tage später wurde ein weiterer kommunistischer Politiker erschossen – Giannino Losardo, Stadtrat von Cetraro, in der Provinz Cosenza.
Trotz der zahlreichen Proteste und Demonstrationen nach seinem Tod konnten Valariotis Mörder nie zur Rechenschaft gezogen werden. Der Prozess dauerte elf Jahre, doch trotz unzähliger Aussagen von »Pentiti«,20 die auch von einer Unterwanderung lokaler Genossenschaften durch die ’Ndrangheta berichteten, trotz aller verschwundenen Aktenordner und trotz aller Unterbrechungen und Neuaufnahmen des Prozesses kam es letztendlich zu keiner Verurteilung. Dabei gab es einen nur allzu begründeten Verdacht gegen die ’Ndrine Pesce und Piromalli, die zu den mächtigsten ’Ndrangheta-Clans überhaupt gehören.
Natale Bianchi ist noch heute vielen bekannt als mutiger und rebellischer Priester, der sich beherzt gegen die ’Ndrangheta gestellt hat. Er hatte die Kraft, die Kirche herauszufordern, oder jedenfalls den Teil davon, der nur auf sich selbst und seine Hierarchien zurückgeworfen ist, der beharrlich die Augen schließt, statt Position zu beziehen, wo dies nötig ist. Er war immer unbequem, und so war es nicht verwunderlich, dass man ihn 1975 aufforderte, seine Pfarrei San Rocco in Gioiosa Jonica aufzugeben. Er hat sich lange widersetzt und wurde dabei von vielen Gemeindemitgliedern unterstützt, die sogar die Kirche besetzt hielten, bis sie von den Carabinieri gezwungen wurden, sie zu verlassen. Hinzu kam, dass er keinen Hehl aus seiner Unterstützung des Referendums für das Recht auf Scheidung machte, was letztendlich zu seiner Suspension a divinis führte, die im Kirchenrecht Kleriker aus dem aktiven Priesterdienst ausschließt. Ich persönlich glaube, dass bei der Entscheidung, einen so bekannten Repräsentanten des Ideals der sozialen Gerechtigkeit aus dem Kirchendienst zu verbannen, auch Don Stilo seine Finger im Spiel hatte. Natale selbst erinnert sich noch gut, wie Stilo ihn sich eines Tages zur Brust nahm und ihm ins Gesicht schrie: »Du weißt nicht, wer ich bin, selbst die Steine hier kennen mich. Du bist für mich wie ein Ameise, und wie eine Ameise kann ich dich zerquetschen.«
Natale hat sich nicht einschüchtern lassen, nicht einmal durch die Suspendierung. Er fährt zwar manchmal in seine Heimat Varese in den Norden, um dort seine Familie zu besuchen, doch ist er trotz allem in der Locride geblieben. Seit Jahrzehnten lässt er sich seinen Glauben an diese Region nicht nehmen, indem er sich etwa auch für Genossenschaften einsetzt, die eine echte Alternative zur Ausbeutung durch die ’Ndrangheta und die mit ihr verbundenen Unternehmen darstellen. Für viele von uns bleibt er bis heute Ansporn und Inspiration.
Doch Natale Bianchi ist nicht der einzige Priester, der uns geholfen hat, das Projekt Riace voranzubringen. Da ist zum Beispiel auch Giancarlo Maria Bregantini, der von 1994 bis 2007 Bischof von Locri war. Monsignor Bregantini war es auch, der zum ersten Mal von einem »Modell Riace« gesprochen hat, und ohne ihn hätte die Welt dieses Modell vielleicht nie kennengelernt. Als er sein Amt damals antrat, befand sich die Region in einer tiefen Identitätskrise, denn seit langer Zeit schon war die Politik nicht in der Lage gewesen, Antworten für ihre vielen Probleme zu finden. Die Alten waren längst in Resignation verfallen, und die Jungen verließen so bald wie möglich ihre Heimat, um die dortigen prekären Verhältnisse hinter sich zu lassen und sich irgendwo anders eine Zukunft aufzubauen.
Wie Pater Bianchi kam auch Bregantini aus dem Norden in die Locride, er stammte aus dem Nonstal in der Provinz Trentino. Um seine Beziehung zu Kalabrien zu erklären, erzählt er oft eine Anekdote, die seiner Ansicht nach die kalabrische Seele auf den Punkt bringt. Er war gerade in Rom zum Bischof ernannt worden und befand sich auf der Rückfahrt in den Süden, auf einer dieser endlos anmutenden Zugreisen, die meine Landsleute und ich so gut kennen. Ihm gegenüber saß ein älteres Ehepaar, das sich zur Mittagszeit daran machte, das Tischchen zwischen ihnen auszuklappen und es dann liebevoll zu decken, samt Tischdecke, Servietten und Plastiktellern.
»Ich hatte nichts zu essen bei mir«, erzählt Bregantini, »und ich wurde natürlich hungrig, als mir der Duft der ausgepackten Panini in die Nase stieg. Da zog die Frau kurzerhand ein weiteres Sandwich aus der Tasche und bot es mir an: ›Das ist für Euch. Wir sind Kalabresen, und die Gastfreundschaft ist uns heilig.‹«
So hat Monsignor Bregantini Kalabrien lieb gewonnen, auch wenn ihm in all den Jahren seines Lebens hier auch seine dunkelsten und deprimierendsten Seiten nicht verborgen blieben. Zeitlebens hat er entschlossen gegen die ’Ndrangheta gekämpft und ist in seinem Auftreten immer bescheiden geblieben. Ich erinnere mich noch gut, wie er sich in seiner Zeit als Bischof, ohne irgendeinen Personenschutz und mit einem gebrauchten alten Golf als Wagen, unverdrossen durch die Locride bewegte, und wie er oft an der Straße anhielt, um einen Plausch mit den Leuten zu halten oder mit den Kindern Ball zu spielen.
Als damals die allerersten Flüchtlinge nach Riace kamen, die Kurden, die am 1. Juli 1998 »vom Wind gebracht« wurden, war Bregantini Bischof von Locri und erklärte sich spontan bereit, den Menschen das Haus des Pilgers in Riace zur Verfügung zu stellen. Von Anfang an war er an unserer Seite und hat uns tatkräftig unterstützt, obwohl er ein hoher kirchlicher Würdenträger war und meine Gefährten und ich von vielen Dorfbewohnern als »Extremisten« und »Umstürzler« betrachtet wurden.
»Ich bin der Bischof«, sagte er schlicht, als wir uns damals zum ersten Mal begegneten, und ein spontanes Lächeln überzog sein Gesicht, als ich erwiderte: »Und ich bin ein ehemaliges Mitglied der Democrazia Proletaria.« Bald darauf lud er mich zu sich nach Hause ein, wo sein »Gefolge« schon auf uns wartete, das nur aus seiner Mutter, einer schon sehr alten und äußerst streng wirkenden Dame, und Pater Tarcisio, einem 90-jährigen Priester, bestand. Die Mutter stand mir zunächst mit offensichtlichem Misstrauen gegenüber, auch weil ich wohl der Erste war, der die Ehre hatte, zum Mittagessen in ihr Haus eingeladen zu werden. »Was ist das denn für einer?«, fragte sie ihren Sohn skeptisch, und der Bischof erwiderte: »Das ist einer, der nicht in die Kirche kommt.« Auf ihre konsternierte Frage, warum er mich dann in sein Haus geholt hatte, erwiderte Bregantini: »Aber Mama, wir müssen diese Leute doch aufnehmen, es sind gerade die verlorenen Schafe, um die wir uns kümmern müssen.« Nach dem Essen schien die Signora jedenfalls versöhnt, denn sie schenkte mir zum Abschied einen Korb Äpfel aus dem Nonstal, mit dem Markenzeichen der Genossenschaft darauf, die der Bruder des Bischofs gegründet hatte.
Bregantini, der wie Natale Bianchi der Befreiungstheologie nahestand und früher »Arbeiterpfarrer« in einer kirchlichen Basisgemeinde gewesen war, war sich unserer Unterschiede stets bewusst, aber noch mehr unserer Gemeinsamkeiten. Genau wie ich ist er der festen Überzeugung, dass man die Probleme unserer Region nur lösen kann, indem man dem Territorium seine Identität zurückgibt, und genau wie ich weiß er, dass das kulturelle Erbe der Magna Graecia21 in Kalabrien immer noch lebendig und die Gastfreundschaft ein hoher Wert ist, den es zu erhalten gilt. Er hatte zu jeder Zeit ein offenes Ohr für uns, ohne sich jemals aufzudrängen, und er teilte mit uns den Glauben an die Utopie einer besseren Gesellschaft. Und es gibt eine weitere Überzeugung, die uns beide verbindet: Immer wieder hat er die Meinung geäußert, dass die 1968er-Bewegung auch ein großer Evangelisierungprozess gewesen ist. Genau wie ich wird er nicht müde zu betonen, dass die Botschaft des Evangeliums und die sozialen Utopien der Linken viele Gemeinsamkeiten haben.
Es gibt auch in der Kirche schwarze Schafe, denen es nur um ihre eigene Macht und ihre persönlichen Interessen geht. Die Kirche Bregantinis aber ist eine der Solidarität und Brüderlichkeit. Und ein weiterer Priester muss hier Erwähnung finden, der diese Werte vermittelt: Pater Alex Zanotelli. Ich habe ihn über unsere gemeinsame Freundin Chiara Sasso 2008 bei der »Carovana del Cuore«22 kennengelernt, die damals auch in Riace vorbeigekommen ist. Heute noch muss ich lächeln, wenn ich daran denke, wie ich diesen Comboni-Missionar in seinem bunten Hemd zum ersten Mal gesehen habe. Er war gerade nach 20 Jahren aufopferungsvollen Engagements in Afrika nach Italien zurückgekehrt und kam mir entgegen mit den Worten: »Was ihr da macht, ist wunderschön. Fragt die Leute nie, woher sie kommen, denkt einfach, dass der Wind sie gebracht hat.« Heute lebt er mitten in Sanità, einem sehr ursprünglichen, aber auch problematischen Viertel Neapels, und kümmert sich dort um die Ärmsten der Armen. Ich schätze ihn dafür, dass er sich immer seine intellektuelle Freiheit bewahrt hat, seine besondere Fähigkeit zur Empathie und seine Nähe zum Schmerz der »Letzten«, so sehr, dass er sogar manchmal seinen Glauben auf die Probe stellt. In Kenia, erzählt er, habe er so viel Hunger, Elend und Krankheit gesehen, gerade auch unter Kindern, dass er sich manchmal gefragt habe, »ob Gott vielleicht krank sei«. Und trotzdem haben ihn die Zuversicht und die Bereitschaft zum Neubeginn nie verlassen. Bei seinem ersten Besuch in Riace hatte eine unserer Neubürgerinnen gerade ein Kind auf die Welt gebracht, und er freute sich so sehr darüber, dass er es mit den Worten kommentierte: »Solange noch Kinder geboren werden, dürfen wir glauben, dass Christus die Menschen noch nicht vergessen hat.«
Über die Jahre hinweg haben wir uns immer wieder getroffen, und ich bin ihm dankbar für seine Freundschaft und für seine Unterstützung bei unseren Protesten, als wir monatelang keine Mittel mehr für die Willkommensprojekte erhielten. Freimütig und unerschrocken hat er seine Stimme erhoben, als die neue Rechte sich immer mehr auszubreiten begann, und er hat nie gezögert, eindeutig Position zu beziehen. So hat er etwa gesagt, dass »die Botschaft der Rechten, wie sie von Salvini repräsentiert wird, eine Botschaft gegen das Evangelium Christi ist. Wer sich als Christ definiert, kann so jemanden niemals wählen.« Ein Salvini und ein Pater Zanotelli sind im Übrigen inkompatibel, denn der eine spricht vom Hass, der andere von der Liebe.
Ich habe oft gehört, wie mutige Priester wie Pater Zanotelli oder auch Don Salvatore Monte oder Pater Giovanni Ladiana ihren Gläubigen ins Gewissen geredet und auf ihre ganz persönliche Art der politischen Propaganda der Rechten entgegengewirkt haben. Eine Propaganda, die schwerwiegende Konsequenzen hat, vor allem für die Schwächsten, und die nicht davor zurückschreckt, die Ikonen des Christentums für ihre Zwecke zu pervertieren: So hat sich Salvini nicht gescheut, vor laufenden Kameras Heiligenbildchen zu präsentieren oder den Rosenkranz zu küssen.
Das Christentum steht für die Botschaft der Liebe. Nicht selten ist es das politische oder soziale Engagement, das den Menschen hilft, diese Botschaft in ihrem Leben zu verwirklichen. Wo Menschen anderen Menschen helfen, erfüllt sich das wichtigste Gebot des Evangeliums, das auch heute noch lautet: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.
Dass wir in Riace nichts anderes getan haben als die Botschaft des Evangeliums in die Tat umzusetzen, hat uns sogar schon Papst Franziskus bestätigt, der diese Botschaft wie kein anderer verkörpert. Im Dezember 2016 hat er mir einen Brief geschrieben, um mir für die Teilnahme an einem Treffen von Bürgermeistern aus aller Welt zu danken, das die Päpstliche Akademie der Wissenschaften organisiert hatte und bei dem Praktiken einer guten Willkommenskultur diskutiert worden waren.
»Lieber Bruder Bürgermeister«, schrieb er in seinem Brief. »Ich kenne Ihre Initiativen, Ihre persönlichen Kämpfe und Ihre Leiden; ich drücke Ihnen daher meine Bewunderung und Dankbarkeit aus, für Ihr kluges und mutiges Wirken zugunsten unserer Brüder und Schwestern, die auf der Flucht sind. Die Türen meines Hauses werden für Sie und für dieses neue Netz immer offen stehen.«
Offensichtlich wusste er sehr genau, dass wir damals schon Schwierigkeiten hatten, unsere Arbeit fortzuführen, denn er schloss mit den Worten: »Ich bitte zu Gott dem Herrn, dass er Sie nie verlassen möge, vor allem nicht in diesem schwierigen Moment, und ich begleite Sie mit Dankbarkeit und Zuneigung. Vergessen Sie nicht, für mich zu beten, oder, wenn Sie nicht beten, dann bitte ich Sie, an mich zu denken und mir buena onda zu schicken.«
Als ich den Brief gelesen hatte, rief ich sofort meine Verwandten in Argentinien an, um meine Freude mit ihnen zu teilen. Weder meine Familie noch ich selbst hätten uns je träumen lassen, dass mir einst der Papst höchstpersönlich schreiben würde, ausgerechnet mir, einem, der Vorbildern der Linken gefolgt ist, wie Natale Bianchi, Peppino Lavorato und Peppino Impastato. Und das sind nur wenige der Menschen, die meine soziale und politische Arbeit inspiriert haben, in dieser Grenzregion der Locride, die so voller Kontraste und Schatten ist, und doch manchmal auch voller Licht.
Es gibt eine alte und tiefe Verbindung zwischen Papst Franziskus, damals noch Jorge Mario Bergoglio, und Riace, die viel weiter zurückgeht als der Brief, den er an den Bürgermeister dieses Dorfs im tiefsten Süden Italiens geschrieben hat. Tatsächlich hat Bergoglio in seiner Zeit als Bischof von Buenos Aires sieben Jahre lang in der Gemeinde San Cosmas und Damian die Messe zelebriert, die eines der Zentren dessen ist, was wir »Riace altrove«23 nennen. In Argentinien, und insbesondere in Buenos Aires, leben nämlich sehr viele Auswanderer aus Riace, und als sie damals, vor langer Zeit, ihre Heimat verließen, haben sie in ihren Koffern auch ihre Gebräuche und Traditionen mitgenommen. Eine dieser Traditionen – und vielleicht sogar die wichtigste – ist die tiefe Verehrung der Heiligen Cosmas und Damian. Auch meine Verwandten sind Teil dieser Gemeinde, darunter Onkel und Tanten, Cousins und Cousinen, die ich seit vielen Jahren nicht gesehen hatte, als ich 2011 und dann nochmals 2017 endlich in die argentinische Hauptstadt reiste.
Den nach Argentinien ausgewanderten Riacesi verdanke ich die Bereitschaft, uns ihre leerstehenden Häuser zur Verfügung zu stellen, damit wir dort im Rahmen unseres Willkommensprojekts die zu uns gekommenen Migranten unterbringen konnten. Sie taten das nicht aus Glaubenseifer, sondern aus Solidarität, auch weil sie durch ihre eigene Geschichte ein tiefes Bewusstsein für das Phänomen Migration gewonnen hatten. Sie waren zwar nicht vor dem Krieg geflohen, sondern hatten »nur« aus wirtschaftlichen Gründen einer der prekärsten Regionen Europas den Rücken gekehrt, um in Südamerika Arbeit und eine bessere Zukunft zu finden. Doch auch sie haben ihre familiären Bindungen geopfert. Auch meine Mutter hat Teile ihrer Familie verloren, und als ich ein Kind war, sagte sie oft zu mir: »Als meine Schwestern nach Argentinien gegangen sind, wusste ich genau, dass ich sie nicht wiedersehen würde, wahrscheinlich nie mehr.«
Die Erfahrung eines Abschieds für immer, glaube ich, lässt in einem Menschen eine besondere Sensibilität reifen, und so ist in Argentinien eine ganze Generation von Migranten herangewachsen, die mit einem Fuß in Buenos Aires und einem in Riace lebt, wobei dieses Riace das der Kindheit geblieben ist. Sie erinnern ihre Heimat in einer Dimension, die aufgehoben ist in der Nostalgie, vor allem die, bei denen nach und nach die Möglichkeit einer Rückkehr in die Heimat geschwunden ist, bei denen es nach und nach zur Gewissheit wurde, dass ihre Häuser für immer verlassen bleiben werden. Am Ende ist allen Migranten eines gemeinsam: Sie wurden gezwungen, ihre Heimat zu verlassen, es wurde ihnen von außen auferlegt und ist keine freie Wahl gewesen. Genauso ist es bei den Menschen, die vor Kriegen flüchten, auch wenn die Umstände hier natürlich noch sehr viel dramatischer sind.