Читать книгу Bedrohte Art. Ein Hamburg-Friedrichstadt-Krimi - Minos Efstathiadis - Страница 11
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Es ist nicht einfach, irgendeinen beständigen Punkt in dieser Landschaft festzulegen. Alles sieht so aus, als sei es aus derselben dickflüssigen, milchigen Substanz gemacht, ein Spiegel in einem anderen Spiegel, der sich selbst vervielfacht. Irgendwo hier, Angelikas Beschreibung zufolge, versteckt sich Bergers Haus.
Das Navigationsgerät hilft mir nur bei der anfänglichen Orientierung. Der Bildschirm zeigt mir, dass ich ein dunkelgrünes Rechteck durchquere, auf dem keine Straße mehr abgebildet ist. In Wirklichkeit hat der Herbst alles in ein Grau getaucht, während die nicht verzeichneten Landwirtschaftswege rechts und links wie die Netze einer toten Spinne auftauchen, die sich vorsichtig um mich herum ausbreiten. Mit geringer Geschwindigkeit folge ich einem ähnlich schmalen Weg, wie der, der zu Hausmanns Grundstück führt. Nach zehn Minuten Fahrt sind die Umrisse eines Hauses zu erkennen. Langsam wird es sichtbar, deutlich größer und moderner, als ich erwartet habe. Ich parke ein paar Meter vom Gebäude entfernt und steige aus. Hypnotisiert vom Fahren und der permanenten Farblosigkeit gehe ich zwei Schritte und meine Schuhe versinken in frischem Matsch.
Vor dem Haupteingang schlägt mir ein Gestank nach Verfaultem entgegen. Ich drücke auf die durchsichtige Plastikklingel, auf der kein Name steht. Keine Antwort. Ich versuche es wieder. Mit einer Verzögerung von wenigen Sekunden meine ich, eine Stimme aus dem Inneren des Hauses zu hören.
„Komm rein.“
Ich warte, um sicher zu sein. Ja, jemand wiederholt diesen Satz zweimal. Ich gehorche.
Die Tür öffnet sich knarrend, um einen großen, leeren Raum mit einem noch stärkeren Gestank zu enthüllen. Ich brauche eine Weile, um die Gegenstände zu erkennen. Der gefangene Zigarettenrauch lässt das Zimmer gleichermaßen ähnlich der Nebellandschaft draußen erscheinen.
„Bring ein Glas aus der Küche mit.“
Der Mann, der mir den Befehl gibt, liegt auf einem grünen Sofa. Er sieht mich ernsthaft an, hält ein Wasserglas in der rechten Hand und in der linken eine Zigarette. Ich tue ihm den Gefallen und gehe in Richtung Küche, die sich irgendwo auf der anderen Seite des Raumes befinden muss. Ein schmaler Flur, die Küche links, immer im Dämmerlicht, das feige durch die wenigen Fenster blickt. Ich versuche, ein sauberes Glas zu finden, was gar nicht einfach ist. Stapelweise ungespülte Teller, Messer und Gabeln und Kochgeschirr mit verschiedenen Essensresten sind überall verstreut. Die Gläser in kleinen Pyramiden, gefüllt mit verschiedenfarbigen Flüssigkeiten. Ich öffne mehrere Schränke und entdecke die wohl letzte saubere Tasse in einem Umkreis von mehreren Kilometern.
Als der Mann mich näher kommen sieht, versucht er sich lustlos aufzusetzen, um normal zu wirken.
„Was hast du denn da gebracht? Glaubst du, wir servieren hier Tee?“
„Ich mag es, aus solchen Tassen zu trinken. Niemand kann erraten, was sich darin befindet.“
Er denkt eine Weile darüber nach – die Langsamkeit des Alkohols. Letztendlich gefällt ihm meine Idee und er lächelt schwach.
„Bist du der Detektiv?“
„Bist du der Berger?“
Ich zünde eine Zigarette an. Sofort schnorrt er sich eine.
„Ich habe auch noch ein paar … doch die möchte ich nicht so gerne aufbrauchen, also versuche ich es hinauszuzögern.“
„Ich lasse dir das Päckchen hier.“
„Wichtig, sehr … wichtig. Nur Raucher können das verstehen. Darüber hinaus ist das ganze Leben eine Hinauszögerung.“
Er gibt mir die Flasche Jameson herüber, die vor ihm auf dem Boden steht. Durch Schlafmangel verursachtes Zittern, Müdigkeit und Teilnahmslosigkeit konkurrieren miteinander. Ich entschließe mich, ihn etwas Wichtiges zu fragen, das ihn sehr wahrscheinlich interessiert.
„Du magst die Irischen?“
„Was magst du denn so? Die anderen machen keinen Whisky, sondern Flüssigkeit für Fußbäder.“
Der Berger ist dünn und schmächtig. Er trägt offenbar dieselbe Kleidung – breite Jeans und eine Adidas Trainingsjacke – schon seit Tagen. Er ist ungewaschen, unrasiert, unausgeschlafen, auch seit Tagen. Die dicken, braunen Socken stinken, allerdings nicht schlimmer als der ganze Raum oder Syds Schuppen. Er sieht mich durch halbgeöffnete Augen an.
„Eine große Ungerechtigkeit, dass sie Kon auf diese Weise um die Ecke gebracht haben. Wirst du herausfinden, welcher Mistkerl das getan hat?“
„Es heißt, dass du sein Freund gewesen bist, von dir erwarte ich Hilfe. Sicherlich weißt du mehr als die anderen.“
„Was soll ich sagen? Er war ein einsamer Mensch. Weder hatte er Feinde noch häufigen Umgang mit anderen und sicher kein Geld. Seitdem ich ihn kenne, hat er nie jemandem etwas getan.“
„Wie lange kennst du ihn?“
„Vierzig Jahre. Er war zweiundvierzig und ich ein Jahr älter. Während der Kindergartenzeit stellt man sich nicht vor, hier zu enden.“
„Und Angelika?“
„Am Ende werde ich auch noch daran glauben, dass Gegensätze sich anziehen, also diesen Scheiß der Physiklehrer und die Schrullen der Psychologen. Kon und Angelika sind … waren zwei völlig verschiedene Welten. Niemand wird je verstehen, wie sich diese beiden gefunden haben. Die Einsamkeit … hat vielleicht ihr Wunder vollbracht. Sie nimmt alles in die Zange wie ein Schraubstock.“
„Was hast du für eine Meinung von ihr? Was ist sie für eine Person?“
„Hart … wie die ganze Gegend hier. Still, verschlossen in ihrer weißen Haut und Erziehung. Die Mutter hat ihr eine astreine Gehirnwäsche verabreicht.“
„Die hat doch ein ernstes gesundheitliches Problem? Ich dachte, sie bleibt permanent im Haus?“
„Es stimmt, seit ihr Mann sie verlassen hat, ist sie nicht mehr nach draußen gegangen. Eines Abends, vor etwa zwanzig Jahren, ist Angelikas Vater mit einer Polin durchgebrannt. Die Mutter hat diesen Schlag nie verkraftet. Sie verschanzte sich im Haus und verwandelte sich allmählich in eine fanatische, religiöse Frau.“
Während der Berger erzählt, wird seine Stimme immer schwächer, als breche sie Stück für Stück. Er versucht, mich nicht mehr anzusehen. Sein Äußeres scheint noch schlimmer als vorher zu sein. Er möchte diese Unterhaltung abbrechen. Irgendetwas stört ihn, setzt ihn unter Druck. Ich versuche das Thema zu wechseln.
„Du scheinst auch nicht sehr viel an der frischen Luft zu sein, was?“
Unabsichtlich, scheint es, dass ich ihn direkt dort getroffen habe, wo es wehtut. Berger fixiert mich mit dem, was von dem Blick seiner Augen übriggeblieben ist. „Seitdem mich meine eigene Frau verlassen hat, geht es mir genauso. Ich glaube nicht an die Kirche, jedoch an die Iren. Jeder stirbt mit seinem Gott in den Armen.“
„Wann habt ihr euch getrennt?“
„Vor fünf Monaten. Jetzt warte ich darauf, dass sie kommen und mir mein Haus wegnehmen.“
„Wer?“
„Die Diebe, wer sonst? Die Banken. Ich habe einen Kredit aufgenommen, um es zu renovieren und danach habe ich wie ein Sklave gearbeitet, um es wieder zurückzuzahlen. Die Zeit ist gekommen, dass auch das zum Teufel geht. Besser sie nehmen es, damit ich meine Ruhe habe. Zumindest wird meine Exfrau nichts mehr zum Fressen vorfinden.“
„Ist sie weit weg gegangen?“
Er lächelt mich an, die Bitterkeit tropft von überall. Er gibt sich große Mühe aufzustehen. Schafft es. Erreicht die Terrassentür und macht mir ein Zeichen, zu ihm zu kommen. Als ich neben ihm stehe, streckt er die linke Hand aus und zeigt mit dem Zeigefinger schweigend auf eine bestimmte Stelle am trüben Horizont.
„Was ist dort?“
„Meine Frau und meine beiden Kinder.“
„Wo?“
„Siehst du den weißen Zaun dort vorne?“
Ich kann etwas im Nebel erkennen.
„Ja … ich denke schon.“
„Gut. Dort leben sie nun. In dem Haus hinter dem Zaun. Am Ort der Freude und des Traums.“
„Und wem gehört das Haus?“
„Meinem Anwalt.“
Ich versuche etwas zu sagen. Vergeblich. Wir bleiben dort stehen und schauen uns die Umrisse des Zauns an. Und als mich der Berger bis zur Haustür hinausbegleitet, höre ich seine volle Stimme.
„Wenn du das nächste Mal in unsere Gegend kommst, dann bezahlen sie dich, damit du mich jagst.“
„Wieso dich?“
„Ich werde sie in Stücke geschnitten haben. Nicht die Kinder. Nur die beiden. Ich werde sie den Tieren zum Fraß vorwerfen.“
Er hebt die Hand mit der Zigarette zum Gruß. Ich erwidere ihn.