Читать книгу Bedrohte Art. Ein Hamburg-Friedrichstadt-Krimi - Minos Efstathiadis - Страница 8

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Die zwei Streifenwagen der Polizei kommen zwölf Minuten nach dem Anruf an. Ich berechne ihre Zeit, um herauszufinden, ob es einen anderen, kürzeren Weg von der Stadt bis hierher gibt. Wahrscheinlich nicht. Sie tauchen von dort auf, von wo auch ich gekommen bin, offenbar haben sie denselben Wirtschaftsweg genommen. Er beginnt an der südlichen Seite von Friedrichstadt, geht schmal mit einigen leichten Kurven weiter und endet in ein langsames, doch entwaffnendes Versinken in die leere Landschaft. Wenn man diesen Weg noch nicht kennt, ist es fast unmöglich ihn ohne Navigationsgerät zu finden. Von seinem Anfang am Rande der Stadt bis zu Hausmann gibt es kein einziges Schild. Es könnte der perfekte Weg zu einem Ort sein, der sich versteckt, ohne eine Einzeichnung auf der Landkarte zu hinterlassen.

Obwohl es unendlich viel Platz zum Parken gibt, hält die Polizei direkt neben meinem Wagen und nicht neben Angelikas altem weißen Golf. Wir beide rühren uns nicht von der Stelle, neben der Wand, genau vor der Haustür. Georg Weber ist ein großer Mann mit dünnen Beinen und vorgestrecktem Bauch, der ihm gegen seinen Willen angeklebt zu sein scheint. Er kommt mit schnellen Schritten auf uns zu, begrüßt erst Angelika mit einem eiligen Händedruck und danach mich. Seine Hände, dick und kalt, das Gesicht ausdruckslos.

Während ein uniformierter Polizist damit beginnt, das gesamte Gebäude mit einem rot-weißen Band zu umwickeln, befragt uns der Polizeihauptmeister nacheinander. Zuerst Angelika und dann mich. Er käut die Formalitäten wieder. Ob wir etwas berührt hätten, zu welcher Uhrzeit wir angekommen seien, in welchem Zustand wir sein Zimmer vorgefunden hätten. Angelika ist sich sicher, dass man ihre Fingerabdrücke finden wird. Sie hat alles mehrere Male berührt, da sie fast jeden Tag hierher kam.

Herr Weber macht auf mich denselben Eindruck wie schon bei unserem Telefonat vor ein paar Minuten. Er vermeidet es, auch nur den geringsten Kommentar von sich zu geben, achtet permanent auf seinen Gesprächspartner, während ihn selbst ein angeborener Zweifel jagt. Am Ende murmelt er eine Entschuldigung und lässt uns stehen, um ins Haus zu gehen.

Inzwischen wird es draußen immer kälter, meine eingeschlafenen Füße verwandeln sich so langsam in zerbrechliche Eissäulen. Angelika befindet sich immer noch in strammer Haltung, den Blick auf die graue Landschaft genagelt. Auch ich sehe in die Richtung, um herauszufinden, was den Blick meiner Kundin so magnetisch anzieht. An einer Stelle vereinen sich Himmel und Erde zu einer unauflöslichen Masse; wenn man sie umdrehen würde, könnte man zwischen ihnen keinen Unterschied sehen. Es sieht aus wie eine provisorische Skizze, die die Relativität zwischen richtig und falsch, existent und imaginär neu ausdrückt.

Der Polizeihauptmeister kommt nach zwanzig Minuten wieder heraus. Heute berechne ich immer wieder die Zeit. Sein Gesichtsausdruck ist ernst, undurchdringlich. Er zündet sich auch eine Zigarette an. Zum ersten Mal wiederholt er eine Frage, die er schon einmal gestellt hat.

„Haben Sie ihn an demselben Platz gefunden, an dem er sich jetzt befindet?“

Angelika nickt, beim ersten Mal hatte sie dieselbe Antwort gegeben. Mit zwei Schritten steht Weber direkt vor ihr.

„Angelika, wieso hast du nicht als erstes die Polizei benachrichtigt? So viele Jahre lebst du in Friedrichstadt und anstatt uns … rufst du sofort irgendeinen Detektiv aus Hamburg an?“

Sie zögert etwas, hinter ihrem Schweigen scheint sich Erschöpfung oder Sinnesabwesenheit zu verstecken. „Eine Entscheidung des Moments“, sagt sie ihm und sieht ihn dabei an. Der Polizeihauptmeister akzeptiert ihre Antwort. Am Ende bittet er uns, ihm auf die Wache zu folgen.

Denselben Weg zurück in die Stadt, ohne Schilder, dieses Mal ohne Navigationsgerät. Ich folge Angelikas Auto und sie Webers Streifenwagen. Der zweite Streifenwagen ist am Tatort zurückgeblieben, wahrscheinlich warten sie auf den Gerichtsmediziner.

Bis heute wusste ich nicht einmal von der Existenz Friedrichstadts, den unbekannten Namen hörte ich von Angelika. Als ich heute Morgen Richtung Hausmann fuhr, musste ich nicht direkt in die Stadt fahren, denn ich nahm die Umgehungsstraße, die mir meine Kundin beschrieb. Ich fahre durch die Straßen in einem einschläfernden, gleichmäßigen Rhythmus, den die beiden Vorausfahrenden adoptiert haben. Beim ersten Eindruck ähnelt Friedrichstadt überhaupt nicht einer deutschen Stadt, eher einer holländischen. Enge Grachten breiten sich der Länge nach aus und schneiden die ebene Erde quer in Scheiben. Die Boote und kleinen Schiffchen neben den Strassen, die Architektur, die lebendigen Farben der alten Häuser, all das erinnert an eine provinzielle Verkleinerung Amsterdams.

Wir halten vor der Polizeiwache. Es ist ein zweistöckiges, reizloses Gebäude, welches es in jeder beliebigen Stadt des Landes gibt. Nebenan die Feuerwehr, drei ihrer Löschfahrzeuge in einer Reihe. Mittag ist fast vorüber, der Verkehr ist spärlich und um die zahlreichen Häuserecken verrichtet der eisige Wind seine Arbeit.

Der Polizeihauptmeister steigt als erster aus dem Streifenwagen und zeigt uns, wo wir parken sollen. Zwei Minuten später sitzen wir in einem Warteraum auf unbequemen Plastikstühlen, umgeben von völlig leeren, gelben Wänden, die Bürokratie ausstrahlen. Herr Weber bietet uns Kaffee an, ich nehme gern einen, Angelika nicht. Ohne Zeit zu verlieren, bittet er sie in sein Büro. Die Tür schließt sich hinter ihnen, während ein Telefon im Hintergrund klingelt.

Kurz darauf bringt mir ein gut rasierter, junger Polizeibeamter einen Kaffee in einem Pappbecher. Er murmelt unschlüssig ein „Bitte“, gibt ihn mir, um sofort wieder hinter irgendeiner anderen Tür zu verschwinden. Später erfahre ich, dass nur vier Beamte auf dieser Wache beschäftigt sind. Die anderen zwei sind jene, die bei Hausmann geblieben sind und auf den Gerichtsmediziner warten.

Die Zeit vergeht, die Tür des Hauptmeisters bleibt geschlossen und ich frage mich verschiedene Dinge, hauptsächlich über die seltsamen Umstände, die mich hierher geführt haben. Ich sage seltsam, weil ich keinesfalls zu der kleinen Kategorie meiner Kollegen gehöre, die sich mit Mord und ähnlich ernsten Fällen beschäftigt. Wenn du dich dazu entscheidest, der Günstigste auf dem Markt zu sein, dann solltest du dich auf dem Boden der Tatsachen befinden. Nächtliche Hafenstraßen, verlassene Parkplätze und billige Hotels, an solchen Orten übe ich für gewöhnlich meinen Beruf aus. Damenparfum, Autoreifen und frische Präservative, dies sind meine gewohnten Gerüche. Muss ich noch erklären, dass ich mich fast ausschließlich mit der Beobachtung untreuer Ehepaare beschäftige? Was gibt es sonst dort draußen für den günstigsten Detektiv Hamburgs?

Mein Kaffee ist schon lange leer, als Angelika aus dem Büro des Hauptmeisters kommt und mit mechanischen Schritten meinen Nachbarstuhl erreicht. Ihre starren Bewegungen erinnern an ein eisernes Fabrikat, einen mit Ockerfarben angemalten Roboter. Ich warte vergeblich auf irgendeine Reaktion ihrerseits. Sie spricht nicht, sieht mich nicht an, sie ist fast nicht da.

Georg Weber sitzt hinter seinem Holzschreibtisch und ruft mir zu, dass ich nun an der Reihe bin. Ich trete ein und aus beruflicher Gewohnheit, schließe auch ich die Tür hinter mir. Nach den Förmlichkeiten, wie Name, Adresse, Lizenz für meine Berufsausübung, beginnen die wirklichen Fragen. Es scheint, als höre ich mich selbst. Wieso hat Frau Angelika Merle mich ausgewählt?

Ihr Anruf bei der Auskunft ist ganz sicher registriert worden, antworte ich ihm. Wahrscheinlich war mein Name der erste, den sie ihr gegeben haben. Wenn der Interessent nicht nach etwas Speziellerem fragt, dann nennen die Telefonisten ihm den Günstigsten. Unter den Privatdetektiven bin ich das. Herrn Webers Gesichtsausdruck zufolge habe ich ihn damit nicht überzeugt.

Und warum rief Angelika mich an, bevor sie die Polizei benachrichtigt hat?

Ich habe keine Antwort auf die Frage des Polizeihauptmeisters. Meiner Klientin bin ich zum ersten Mal in meinem Leben vor ein paar Stunden begegnet. Ich kann nur raten. Unter dem Einfluss des ersten großen Schocks wollte sie vielleicht mit jemandem sprechen, der nicht von der Polizei ist.

Was hat bei mir in Konrad Hausmanns Schlafzimmer den stärksten Eindruck hinterlassen?

Das ist einfach. Dieses Mal habe ich meine Antwort sofort parat. Der überraschend gerade Schnitt an dem toten Körper. Als sei er von Händen vollzogen worden, die Erfahrung mit chirurgischem Werkzeug haben.

Hat noch etwas anderes meine Aufmerksamkeit auf sich gezogen?

Das wirksame Fesseln von Händen und Füßen. Der Vollstrecker wusste, was er tat. Seine Absicht war es, das Opfer so lange wie möglich am Leben zu halten. Zögerlich und mit Ungewissheit füge ich hinzu, dass die Szenerie, die Leiche, ihre Position, das Zimmer, all das, mich auf etwas anderes gebracht haben, nicht nur Mord. Weber beharrt darauf.

Was genau kam mir so anders oder schräg vor?

Da liegt das Problem. Ich kann es nicht mehr ganz genau sagen, antworte ich ihm und danach lasse ich das Schweigen walten. Ich lasse die Schreie von Syd weg. Ich habe sie nicht vergessen, doch bevorzuge ich, diese Einzelheit für mich zu behalten.

Georg Weber scheint älter als fünfzig und mag es ganz sicher nicht, seine wenigen Haare zu kämmen. Eine tückische Erschöpfung breitet sich über sein Gesicht aus. Bei jeder Fragestellung benutzt er so wenige Worte wie möglich. Er steht von seinem Lederstuhl auf, der durch die Zeit und die Menschen abgenutzt ist. Er bleibt etwas verlegen in der Mitte des Raumes stehen, als würde er daran zweifeln, wieso er sich da befindet. Er fragt mich nach meiner Telefonnummer, schreibt sie sich auf und dankt mir. Bevor ich sein Büro verlasse, nimmt er eine dienstliche Haltung ein und fügt einen Epilog hinzu. Mir scheint das nicht notwendig, ihm wahrscheinlich auch nicht, und trotzdem fährt er fort.

„Herr Papas, Friedrichstadt ist eine Provinzstadt mit etwas mehr als zweitausend Einwohnern. Fast alle kennen sich untereinander. Das Klima, welches hier schon seit vielen Jahren herrscht, ist … friedlich. Ich möchte sagen, dass … solche Dinge hier nicht passieren. Nie. Wenn Ihnen etwas Neues auffällt, dann möchte ich Sie daran erinnern, dass es Ihre Pflicht ist, uns zu benachrichtigen. Fragen Sie direkt nach mir.“

„Wie erklären Sie sich dann den Mord an Hausmann?“

Er hebt die Schultern über meine einzige Frage und wendet sich sofort dem Bürofenster zu, als sei dort die Antwort angeklebt. Als ich den Türgriff berühre, bin ich sicher, dass er mir nichts weiter sagen wird.

„Herr Papas, Mord lässt sich immer mit Einfachheit erklären. Er wohnt einer Sache inne, sehen Sie … er liegt in der Natur des Menschen. Manche glauben sehr wohl, dass er eines der interessantesten Elemente unserer Psyche darstellt. Wir brauchen glücklicherweise keine Erklärungen. Für uns ist es ausreichend den jeweiligen Mörder zu finden.“

Bedrohte Art. Ein Hamburg-Friedrichstadt-Krimi

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