Читать книгу Bedrohte Art. Ein Hamburg-Friedrichstadt-Krimi - Minos Efstathiadis - Страница 6

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Konrad Hausmann hatten sie nicht einfach nur ermordet. Sie hatten ihn zerrissen; das ist das richtige Wort. Der Schnitt beginnt am unteren Teil des Bauches und führt weiter bis zur Brust. Er muss mit einem ausgezeichnet scharfen Gegenstand vollzogen worden sein, mit der Akribie und Stabilität eines chirurgischen Werkzeugs. Eine absolut gerade Linie. Die Hände, die dies ausgeführt haben, zitterten ganz sicher nicht.

Während ich die Leiche aus zwei, drei Metern Entfernung betrachte, hält mich etwas an der Stelle, wo ich stehe, gebannt, unfähig einen Schritt nach vorn zu machen. Es sieht nach einer Operation aus, die mit einem einzigen Ziel gestartet wurde : in der Mitte aufzuhören. Du kannst fast noch den Schmerz spüren, wie er Raum und Zeit durchquert, an dir hinaufklettert und sich langsam in deine Haut einkerbt.

Dicke Blutlachen und eine Menge anderer Flüssigkeiten rannen nach links und rechts und durchtränkten die Bettlaken, die Matratze, den Boden. Von Rot und Braun beherrscht, gibt es auch dünnes Grau und dreckiges Grün, durchsichtiges Weiß, alle über unregelmäßige Nebenflüsse in einem finsteren See versammelt. Konrad ruht völlig nackt und auf dem Rücken liegend in seinem Bett, die Beine geschlossen und seine Hände gestreckt. Unmöglich, die Ähnlichkeit mit einem Gekreuzigten nicht zu bemerken. Ihm fehlt natürlich das Kreuz, jedoch nicht der Pathos. Seine Augen starren an die Decke in einem unsagbaren, eisigen Schauder. Er hat seinen Mund, soweit es ihm möglich war, geöffnet, aber wahrscheinlich nicht einen Ton herausgebracht. Ein Apfel ist zwischen seinen bläulichen Lippen verkeilt, die Hälfte der Frucht steht hervor.

Seine Beine scheinen fast aneinandergeklebt, offenbar waren sie von Anfang an stramm zusammengebunden, so, wie sie sich jetzt befinden. Ungewiss wie, doch auf eine bestimmte Weise, blieben seine Arme in dieser vom Körper weit weg ausgestreckten Haltung. Professionelle Arbeit.

Es ist das trübe, unsichere Licht, das durch das einzige Fenster des Zimmers hereintritt, welches mich dazu zwingt, ständig mit den Lidern zu blinzeln. Oder eher das abscheuliche Spektakel der Kreuzigung? Ich trete näher an ihn heran, an seinen Handgelenken sind vier, fünf dicke Einschnitte an verschiedenen Stellen zu erkennen. Es scheint mir, dass sie ihn mit etwas Metallenem gefesselt haben, als sie ihn in zwei Stücke teilten. Zu dem Zeitpunkt war er noch lebendig und sie wollten ihn so lange wie möglich am Leben halten.

Auf seinen letzen Atemzug hat er lange warten müssen. Die gesamte Szene enthüllt die geplante Langsamkeit; dieser Chirurg hat dem Tod seinen eigenen Rhythmus auferlegt. Es ist nicht auszuschließen, dass Konrad verblutet ist, denn der Schnitt an seinem Körper zeigt, dass die inneren Organe nicht getroffen wurden. Wahrscheinlich blieb ihm die Zeit, viel zu denken und zu fühlen, bevor er aus seinem Leben, aus diesem Albtraum fliehen konnte.

Jetzt ist es hier drinnen genauso kalt wie draußen. Die Temperatur dringt beständig und beharrlich herein, auch in meine Gedanken. Ich sehe mich noch einmal um. Das Zimmer, weiß und sauber, nichts weist auf einen Kampf hin. Drei Paar Stiefel in der einen Ecke, ein alter Kassettenrekorder neben zwei Kartons voller Kassetten in der anderen, keine Kleider außer einem Ledermantel, der hinter die Tür gehängt ist. Noch nicht einmal Staub liegt auf den Gegenständen. Als wäre eine pedantische Putzfrau zeitgleich mit dem Tod vorbeigekommen.

Ich höre nicht den kleinsten Laut aus dem restlichen Teil des Hauses und diese hypnotische Stille erinnert mich daran, dass es Zeit ist, das Schlafzimmer zu verlassen. Außerdem verfüge ich nicht über das nötige Fachwissen, um tiefere Nachforschungen zu betreiben. Bevor ich hinausgehe, mache ich mit meinem Handy fünf Fotos von der Leiche und drei von dem Zimmer. Der Rest ist Aufgabe des Gerichtsmediziners und der Spurensicherung.

Ich gehe ins Wohnzimmer und Angelika sieht mich an, immer noch reglos. Sie steht mit dem Rücken an der Wand neben dem Kamin, der voller Asche und angebranntem Holz ist. Ich kam vor etwa einer Viertelstunde hier an und fand sie in genau der gleichen Position. Als ich sie dort sah, dachte ich sofort, dass sie sich wahrscheinlich seit ihrem Anruf nicht vom Fleck bewegt hat, vor fast drei Stunden. Eine gläserne Statue, starr und gleichzeitig zerbrechlich. Ihr Körper scheint unterkühlt, genauso wie dieses Haus, und doch versucht sie ruhig zu bleiben, um nicht eine unsichtbare, doch bestimmte Grenze zu überschreiten. Jetzt senkt sie leicht den Kopf und statt mir einen Haufen Fragen zu stellen, sendet sie eine stille Ratlosigkeit zu mir herüber.

Ich gehe zu ihr und biete ihr meine Zigaretten an. Sie lehnt ab, also raucht sie nicht. So langsam werde ich mir bewusst, dass auch ich nicht rauchen sollte. Bevor die Polizei kommt, sollten wir nichts verändern, auch Rauch kann eine Aussage darüber machen, wer in den vergangenen Stunden in diesem Raum gewesen ist.

Ich will Angelika mit nach draußen nehmen, nicht nur, weil ich rauchen möchte. Das Gefühl, dass wir frische Luft brauchen, wird immer stärker. Doch irgendetwas versteckt sich hinter ihrer versteinerten Haltung, ihrer Unbeweglichkeit. Der Verdacht, dass sie beim ersten Schritt zusammenbrechen wird.

„Angelika, erinnern Sie sich vielleicht, um welche Uhrzeit Sie heute Morgen hier angekommen sind?“

Sie braucht eine Weile, bis sie mir antwortet, denn zuerst fragt sie ihre Armbanduhr mit einem verlorenen Blick um Rat. Sie versucht zu rechnen, die Zeit in eine Ordnung zu bringen. Ihre Stimme flüstert.

„Ich glaube … so um zehn Uhr.“

„Haben Sie vorher mit Konrad telefoniert?“

„Nein. Ich bin daran gewöhnt, herzukommen, wann immer ich möchte, darüber hinaus hat er kein Telefon. Kon lebt allein … er hat mir ein Paar Schlüssel gegeben … schon vor Jahren.“

„Können Sie mir beschreiben, was Sie genau gemacht haben, nachdem Sie aus Ihrem Auto gestiegen sind?“

In langsamen Bewegungen fährt sich Angelika mit der rechten Hand durch ihre blonden Haare, immer wieder, während sie beharrlich zum Kamin schaut. Sie scheint von der Gegenwart getrennt zu sein, als könne sie sich nicht genau daran erinnern, auf was ich mich beziehe, als wäre all das gelöscht und in eine dunkle Ecke ihres Gehirns geworfen.

„Wenn es geht, dann möchte ich gern, dass Sie mir alles von Anfang an erzählen, der Reihe nach. Keine Eile.“

„Ich hielt hier draußen, wo ich gewöhnlich parke. Als ich an der Tür ankam, klopfte ich ein, zwei Mal. Kon machte nicht auf und antwortete mir auch nicht. Das passiert manchmal, wenn er den Fernseher auf volle Lautstärke gestellt hat oder er sich zufällig hinten im Schuppen aufhält. Die Tür lässt er aber immer aufgeschlossen. Ich öffnete sie und ging hinein … rief wiederholt nach ihm, ohne Ergebnis. Im Wohnzimmer war niemand, auch in der Küche nicht. Als ich im Schlafzimmer angelangt war … sah ich ihn so … dort …“

Angelika verstummt eine Weile, nur ihre Hand drängt sich ununterbrochen in ihr Haar. Ich erwarte nicht, ihre Stimme noch einmal zu hören, doch sie spricht weiter, etwas lauter nun.

„Kon sah permanent an die Decke und war … geöffnet. Es gab nichts, was ich machen oder sagen konnte. Ich ging hierher zurück und verbrachte … einige Zeit … bis ich Sie anrief.“

„Wieso haben Sie zuerst mich angerufen und nicht die Polizei?“

„Keine Ahnung … in jenem Moment hatte ich solche Angst. Ich wollte zuerst … jemanden, der weiß, was zu tun ist.“

„Und wie sind Sie an meine Nummer gekommen?“

„Von meinem Handy aus habe ich die Auskunft angerufen und nach einem Detektiv in Hamburg gefragt. Husum ist zwar näher, aber ich dachte mir, dass es lieber jemand aus einer größeren Stadt übernehmen sollte. Die Dame von der Auskunft sagte mir, dass ich zwischen mehreren aussuchen könne. Ich bestand darauf, dass sie mir irgendeinen Namen gibt. Doch in jenem Moment war das Wichtigste die Zeit … irgendetwas musste passieren.“

Ihre Beschreibung, in immer ängstlicherem Ton und einer Kurzatmigkeit, reichte mir, um eine erste Schlussfolgerung zu ziehen. Angelika stattete ihrem Liebhaber einen morgendlichen Besuch ab und anstatt ihn bei der Gartenarbeit oder beim Maronenrösten im Kamin zu sehen, findet sie ihn in zwei Stücke geteilt in seinem Schlafzimmer vor. In ihrer Verwirrung suchte sie nach jemandem, der ihr helfen sollte. Es stimmt, dass die Polizei in solchen Fällen nicht den besten Ruf hat.

Auf die Frage, wieso die Auskunft ihr ausgerechnet meine Nummer gegeben hat, gibt es eine einfache Antwort. Weder war es Zufall, noch direkt ausgewählt. Wenn die Angestellten der Auskunft die Seite jeder Berufskategorie öffnen, erscheinen verschiedene Kriterien, durch die sie ihre Suche spezialisieren können. Das erste Kriterium ist der Preis. Wenn der Kunde nicht nach etwas anderem, Speziellerem fragt, dann nehmen sie den Günstigsten. Hier erscheint der Name Chris Papas als Erstes, weil ich der günstigste Detektiv Hamburgs bin.

Ich berühre Angelika leicht am Arm. Ohne etwas zu sagen, lässt sie es zu, dass ich sie nach draußen führe. Ich öffne die Tür und alles um uns herum erscheint in Grau getaucht. Ein kalter Wind pfeift verschwörerisch in den Bäumen. Sie atmet tief ein, sieht in den Himmel, dorthin, wo die dichte Bewölkung uns nicht eine einzige Lücke lässt.

Das Haus befindet sich hier seit vielen, sehr vielen Jahren, diese dicken Wände versuchen nicht ihr Alter zu verstecken. Das Grundstück, etwas größer als einen Hektar, kreist uns mit einem unvollkommenen Holzzaun ein. Einige Bäume, nicht mehr als ein Dutzend, breiten sich weit auseinanderstehend aus und beobachten uns aus der Ferne. Und danach nichts. Dieser Ort hier lässt sich nur mit absoluter Subtraktion und zweifelhafter, poetischer Akribie beschreiben. Er befindet sich buchstäblich inmitten des Nichts. Über die Felder hinweg, bedeckt von der Kruste des winterlichen Eises, verliert sich der Blick ungestört, frei in alle vier Himmelsrichtungen. Die Aussicht überträgt eine unterirdische Kraft, am Anfang glaubst du, dass du dich verirrt hast, doch wenn du weiter hineinsinkst, dann spürst du, dass du nicht mehr nach dem Rückweg suchen musst. An diesem Ort kämpfen zwei Gefühle miteinander um die Vorherrschaft : die Ekstase und die Isolation.

Angelika und ich bleiben reglose, stumme Beobachter des Nichts. Unsere Zeit aber ist zu Ende und es nähert sich der Moment für wichtige Entscheidungen. Die Polizei muss benachrichtigt werden. Bevor ich jedoch etwas mache oder sage, beschließe ich, noch einmal zurückzugehen und mich im übrigen Haus umzusehen. Angelika möchte lieber draußen bleiben.

Durch die Küche schweift der frische, chemische Geruch eines Putzmittels. Ein einziger Kochtopf und wenige Teller sind vorsichtig neben der Spüle aufgestellt. Dieses sterile Gefühl überall erinnert an ein altes Haus, fertig zur Vermietung. Der Kamin, das klobige Sofa, die drei Holzstühle, der nackte Tisch und der alte, viereckige Fernseher, alles, was sich im Wohnzimmer befindet, vervollständigt dasselbe Bild. Sie befinden sich schon seit Jahrzehnten hier, ohne Veränderung.

Am Ende des engen Korridors taucht das zweite Schlafzimmer auf, fast leer. Das alte Doppelbett, bezogen mit weißen Laken, steht in der Mitte, wie ein Augenzeuge der Verlassenheit. Genau daneben führt die letzte Tür zum Bad. Ein enger Raum mit außergewöhnlich sauberer Dusche und glänzender Kloschüssel.

Nur Konrads Zimmer scheint lebendig zu sein, sozusagen natürlich. Doch auch hier herrscht der Eindruck, dass jemand erst kürzlich aufgeräumt hat. Außer dem Bett natürlich.

Ich gehe wieder hinaus; Angelika lehnt immer noch an derselben Stelle, zwei, drei Meter weiter weg.

„Gibt es noch einen anderen Raum hier in der Nähe? Ich meine, außer diesem Haus.“

„Den Schuppen”, antwortet sie mir.

Sie führt mich schweigend dorthin. Er befindet sich im hinteren Teil des Hofes. Eine rechteckige Baracke, gebaut aus dickem Holz. Ich bitte sie als Erste hineinzugehen und für einen Moment reagiert sie unsicher, unentschlossen. Angelika greift endlich an die Klinke und öffnet die Tür. Sie macht den ersten Schritt ins Innere des Schuppens und genau in jenem Moment zerreißt ein schrecklicher Schrei die Luft. Es ist nicht nur die unglaubliche Lautstärke, sondern hauptsächlich die Tonhöhe. Ein Klang, der tief aus der Hölle entspringt.

Bedrohte Art. Ein Hamburg-Friedrichstadt-Krimi

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