Читать книгу Bedrohte Art. Ein Hamburg-Friedrichstadt-Krimi - Minos Efstathiadis - Страница 9
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Als ich den Warteraum wieder betrete, erwartet mich eine kleine Überraschung. Während meines Aufenthaltes in Webers Büro hatte ich Angelika fast vergessen. Sie mich jedoch nicht. Sie sitzt immer noch neben meinem Stuhl, ausdruckslos, reglos. Ohne einen Blick, weder auf mich noch auf den Kommissar zu werfen, der einige Schritte hinter mir ist, steht sie auf, um zu gehen, wie wir gekommen sind. Zusammen.
Der Wind fegt immer noch mit derselben Beharrlichkeit durch die verlassenen Straßen. Es ist vier Uhr am Nachmittag und vom Tag ist noch eine schwache, silberne Bewölkung übrig geblieben, während die Lichter der Stadt die einbrechende Dunkelheit betonen. Wir bleiben eine Weile vor unseren Autos stehen. Ein älteres Ehepaar nähert sich uns, grüßt und wir erwidern es. Banaler Gedanke. Das Leben geht weiter und wählt immer verschiedene Wege dies auszudrücken.
„Was sollen wir jetzt tun?“
Angelikas Frage verrät kindliche Einfachheit und Eile. Sie wartet auf meine Anweisungen und vermeidet es trotzdem, mich anzusehen.
„Ich würde gern mit Ihnen ein paar Fragen klären …“
„Ja, natürlich, Sie haben recht. Wollen Sie mit zu mir kommen?“
Ich folge wieder ihrem weißen Golf, zwei, drei Minuten Wegeslänge. Wir parken vor einem zweistöckigen Gebäude, das in demselben holländischen Stil gebaut ist, der durchweg die ganze Nachbarschaft kennzeichnet. Die Fassade ist auf die zentrale Gracht gerichtet.
„Es ist ungefähr vierhundert Jahre alt“, sagt mir Angelika an der Türschwelle, als hätte sie meine Bewunderung oder Gedanken erraten. Wir gehen hinein und sie führt mich in ein Wohnzimmer, in dem es nach Kerzen und Weihrauch duftet. Der Raum wird beherrscht von altmodischen Möbeln in dunkler Kirschfarbe und einem voluminösen Kronleuchter aus Glas. Wie ein prähistorischer Vogel hängt er über uns und veranlasst, dass sich in mir eine unbestimmte Bedrohung breitmacht.
„Kann ich Ihnen etwas anbieten?“
„Kaffee.“
„Entschuldigen Sie … wir trinken hier keinen Kaffee. Vielleicht etwas anderes?“
„Cognac?“
„Natürlich.“
Nach ein paar Sekunden kehrt sie mit einer Kristallkaraffe und einem Glas zurück. Sie stellt sie eilig vor mir auf den Tisch. Sie bittet um Entschuldigung, da sie nun kurz weg müsse und geht davon. Sekunden später knarrt eine Treppe, jemand rennt hinauf in den oberen Stock.
Der Cognac hat einen süßen, holzähnlichen Geschmack. Mein durchgefrorenes Blut unterhält sich mit dem Alkohol, ist begeistert und entschließt sich, ganz langsam wieder in meine Beine zu gleiten. Ich stehe auf, durch die doppelte Balkontür hat das Zimmer eine frontale Sicht auf die Gracht. An der linken Seite des Hauses erscheint ein kleiner, kiesgestreuter Innenhof leer und verlassen. Als Angelika zurückkommt, sind mehr als zehn Minuten vergangen und die Cognacs haben sich verdoppelt.
Sie sitzt gegenüber vom Sofa, auf dem ich es mir gemütlich gemacht habe, und faltet ihre Handflächen wie zum Gebet.
„Meine Beziehung mit Kon hielt acht Jahre. Ich kannte ihn bereits aus der Schule, er war drei Jahre älter. Wir trafen uns wieder, als … Entschuldigen Sie mich, diese Vergangenheit hat vielleicht jetzt keine Bedeutung mehr.“
„Wir sind nicht in Eile.“
„In all der Zeit, in der wir ein Paar waren, lebte er in seinem und ich in meinem Haus. Ich ging oft zu ihm, doch er nie zu mir. Besonders zu Beginn ließ es die Situation mit meiner Mutter nicht zu … dass er so häufig hier auftauchte. Meine Mutter leidet unter … ernsthaften Gesundheitsproblemen und … verlässt nicht das Haus. Jetzt ist sie im oberen Stock. Deshalb habe ich mich eben so verspätet.“
„Erzählen Sie mir mehr über Konrad. Was für ein Mensch war er? Was hatte er für Freunde?“
„Ruhig, einsam, ohne viel Beschäftigung. In letzter Zeit arbeitete er nur sporadisch. Er hatte nicht viel mit Leuten zu tun. Ich verstand ihn. Sicher … er hatte es auf eine bestimmte Weise satt.“
Warum? Ich frage es nicht laut, doch sofort bohrt sich diese Frage in mein Hirn. Angelika hat bereits einen entschuldigenden Ton angenommen. Wenn ich sie noch mehr unter Druck setze, dann führt uns das nirgendwo hin. Er hatte es satt. Konrad Hausmann konnte nicht älter als vierzig Jahre gewesen sein und wahrscheinlich wollte er überhaupt nicht arbeiten.
„Wenn Sie einsam sagen, meinen Sie dann, dass er keine Freunde hatte?“
„In den letzten Jahren traf er sich nur noch mit dem Berger. Auch der wohnt in einem entfernten Gehöft, fünf, sechs Kilometer westlich von Kons Haus. Klassischer Bauer.“
„Vorhin haben Sie ein Stück Land erwähnt, das auf Konrads Namen läuft.“
„Ja, er hat von seinen Eltern einen Acker um die drei Hektar geerbt. Seit der Zeit, als sie noch gelebt haben, ist es an Herrn Schmidt, einen Viehzüchter, verpachtet. Letztes Jahr gab es ein paar Meinungsverschiedenheiten über die Höhe der Pacht, doch am Ende erschien wieder derselbe Mensch als alleiniger Interessent für das Land. Ich denke, dass niemand anderes ein Angebot gemacht hat, da Herr Schmidt ein respektiertes Mitglied der örtlichen Gesellschaft ist. Kon mochte ihn nicht sehr, er konnte jedoch nichts anderes tun. Er brauchte dieses Geld sehr dringend.“
Wieder derselbe Ton. Immer wenn Angelika sich auf die Arbeit oder eher den Mangel an Arbeit ihres Liebhabers bezieht, dann beginnt sie sich unbewusst zu entschuldigen. Sie fühlt sich nicht wohl dabei, dass Hausmann nur von der Pacht lebte.
Ich bleibe hartnäckig. „Also war Hausmann im Wesentlichen arbeitslos?“
„Er arbeitete manchmal hier und da. Darüber hinaus gab es um sein Bauernhaus weitere ein bis zwei Hektar … es ist nicht einfach für jemanden, das alles ohne tägliche Mühe zu schaffen. Wie ich Ihnen vorhin sagte, bekam er auch eine kleine Hilfe für das Füttern des Schweins. Es handelt sich um ein Programm mit dem Ziel, bestimmte Tierarten zu erhalten.“
Angelika ist an ihre Grenzen gekommen. Sie kann sich nicht länger für das Leben ihres Liebhabers entschuldigen. Sie steht auf, dreht mir den Rücken zu und sieht durch die dunklen Scheiben auf die Gracht. Wir müssen das Gesprächsthema wechseln; ich werde heute Abend nichts mehr über Hausmann erfahren. Ich versuche noch ein paar nützliche Informationen über Syd zu bekommen.
„Wer kümmert sich denn jetzt eigentlich um Syd?“
„Keine Ahnung. Kon hatte keine Verwandten außer ein paar alten Onkeln in einem Vorort von Bonn. Normalerweise müsste wieder der Tierschutzverein die Pflege des Schweins übernehmen.“
„Ich kann mir vorstellen, dass am Ende so etwas auch passieren wird, doch spreche ich von heute oder morgen. Wer gibt ihm nun Wasser und was zu fressen? Zumindest könnten Sie, wenn Sie wieder zu Konrads Haus fahren …“
„Nein, nein, ich fahre nie wieder dorthin. Niemals. Ich habe heute genug gesehen.“
Ihr letzter Satz klingt entschlossen. Unvermeidlicherweise schweigen wir. Angelika hat sich wieder in sich selbst zurückgezogen, während die Nacht, dunkel und eiskalt, durch die Balkontür ins Zimmer gelangt ist und neben uns thront. Der Kronleuchter, bestückt mit kleinen Lämpchen, transformiert die Reflektionen in krankhafte Schatten, statt zu leuchten.
„Was kostet es … denjenigen zu finden, der es getan hat?“ Angelika bricht unerwartet das Schweigen. Ihre Frage hört sich trocken, nicht zusammenpassend, fast kindlich an.
„Wissen Sie … man kann nie sicher sein, dass man des Rätsels Lösung findet.“
„Also, was kostet ein Versuch?“
„Das hängt von den Tagen ab, an denen ich damit beschäftigt bin. Ich berechne neunzig Euro pro Tag plus Spesen.“
„Ich möchte, dass Sie es versuchen. Tun Sie, was Sie können. So viele Tage dazu auch nötig sind. Geld spielt keine Rolle. Entschuldigen Sie mich jetzt, ich muss wieder zu meiner Mutter.“
Ich stehe auf und verabschiede mich von ihr. In ihrem Gesicht spiegelt sich dieser leere Ausdruck, den völlig Fremde an sich tragen. Sie bringt mich bis zur Haustür und schließt sie geräuschlos hinter mir. Die Kälte ergießt sich überall und nur einer Sache bin ich mir nun ganz sicher : des Cognacs.