Читать книгу Harrowmore Souls (Band 2): - Miriam Rademacher - Страница 8
Kapitel 1
ОглавлениеLondoner Stadtteil Kensington, September 2018, kurz nach 11.00 Uhr.
Lieber Conrad,
erinnerst du dich noch an deinen alten Kumpel und Schulfreund Brian Lawrence?
Conny ließ den Brief, den er in der Hand hielt, sinken und sah Allison an. Seine Gefährtin bot den typischen Es-ist-gerade-erst-elf-Uhr-Anblick: Ihr langes schwarzes Haar glich einem verlassenen Vogelnest und ihr schlanker Körper, der es noch nicht aus dem Bett geschafft hatte, steckte in einem Overall mit Häschenmotiven. Hätte nicht jedes der Häschen ein Jagdgewehr im Anschlag gehabt, gekrönt von einer Sprechblase mit den Worten: »Wag es!«, dann wäre der Anblick ganz niedlich gewesen. Doch Allison war nur sehr selten niedlich.
»Also, an dieser Stelle möchte ich einfügen, dass Brian Lawrence und ich niemals Kumpel waren.« Conny tippte mit dem Zeigefinger auf die eng beschriebenen Zeilen des Briefes. »Er ist genau der Typ Mensch, der Jungen wie mir zu Beginn eines neuen Schuljahres den Kopf ins Klo gesteckt hat und das auch noch komisch fand.«
»Umso spannender kommt es mir vor, dass er dir schreibt«, brachte Allison begleitet von einem Gähnen heraus. »Lies weiter, vielleicht hat der Kerl ja einen Job für uns.«
Conny runzelte die Stirn, begann aber erneut, Allison den Inhalt des Briefes vorzulesen. »›Sicher hast du gedacht, dass du nie wieder von mir hören würdest, richtig?‹« Conny nickte zustimmend, doch als Allison ihm einen Fausthieb auf den Oberarm gab, las er brav weiter. »›Wie du dir sicher vorstellen kannst, habe ich inzwischen eine glänzende Karriere hingelegt. Im Gegensatz zu dir sind meine Klienten lebendig und zahlungsfähig. Was für eine verrückte Idee von dir, eine Kanzlei ins Leben zu rufen, die sich um die Belange von Geistern kümmert. Aber du warst ja schon immer etwas seltsam.‹« Conny sah auf. »Wieder so eine versteckte Gemeinheit. Ich war nie seltsam. Bevor ich auf dich traf, war ich völlig normal.«
»Lies einfach vor, Conny«, fauchte Allison und warf ein Kissen nach ihm. »Das kann doch nicht so schwer sein.«
»Also gut.« Er räusperte sich. »›Leider läuft es bei mir im Privaten nicht ganz so rund, wie ich es mir wünschen würde. Vor einigen Wochen musste die Frau, die ich geheiratet habe, eine schwere Krankheit durchmachen, die sie sehr mitgenommen hat. Um ihr etwas Erholung zu verschaffen, habe ich eine herrlich mittelalterliche Location an der Küste für uns gemietet. Zuerst war Hillary von unserem Domizil begeistert, das Leben auf einer Burg gefiel ihr. Doch seit einer Weile wird sie immer nervöser. Sie behauptet allen Ernstes, Erscheinungen zu haben.‹« Conrad zog eine Augenbraue hoch und warf Allison einen vielsagenden Blick zu. »Merkst du, was ich meine? Er spricht nicht von Liebe, sondern von der Frau, die er geheiratet hat, und allen Ernstes von einer ›mittelalterlichen Location‹. Er ist ein Blödmann. Ein klassischer Idiot.«
»Weiter!«, quengelte Allison und starrte an die Decke ihres gemeinsamen Zimmers, das sie erst kürzlich zur Untermiete bezogen hatten.
Tante Ethel, keine echte Verwandte, aber eine alte Bekannte von Allison, überließ ihnen preisgünstig diese Bleibe im Stadtteil Kensington, wo die alte Dame ihr ganzes Leben zugebracht hatte. Die Verbesserung bestand für Conny nicht nur darin, dass er jetzt nicht mehr auf einem Feldbett in seinem Büro nächtigen musste. Nein, das Leben bei Tante Ethel hielt noch weitere Vorzüge wie beispielsweise regelmäßige, selbst zubereitete Mahlzeiten für ihn parat. Letzteres begann glücklicherweise noch nicht, sich auf seine schlanke Figur auszuwirken.
Natürlich träumte Conrad davon, eines Tages eine eigene Wohnung für sich und Allison unterhalten zu können. Doch ihre gemeinsame Kanzlei, Harrowmore Souls, befand sich noch im Aufbau, und Geld gehörte nicht zu den Dingen, die sie derzeit im Überfluss besaßen. Also war das Wohnen zur Untermiete bei Tante Ethel die denkbar beste Zwischenlösung.
Während ein schwacher Duft nach Kaffee und geröstetem Brot Conrad daran erinnerte, dass Tante Ethel bereits beim zweiten Frühstück saß, beugte er sich erneut über den Brief und fuhr fort: »›Zuerst hielt ich Hillarys Berichte für Hirngespinste und schob alles auf ihre Medikamente, aber kürzlich hatte ich selbst ein höchst eigenartiges Erlebnis und halte es nun für möglich, dass es auf Hidden Manor nicht mit rechten Dingen zugeht. So bitte ich also meinen Freund aus alten Tagen, dich, der du dich dem Übersinnlichen verschrieben hast, um Hilfe. Und es eilt, denn wir haben zu einem großen Maskenball geladen, um Hillarys Genesung zu feiern, die leider längst nicht so schnell voranschreitet, wie wir es uns gewünscht haben. Einen Skandal darf ich mir, wie du dir sicher vorstellen kannst, nicht erlauben, und Spuk ist nun einmal skandalös, das brauche ich dir ja nicht zu sagen. Mit diesem Brief lasse ich dir und deiner Kollegin eine Einladung zukommen und hoffe, dich sehr bald, gerne noch vor den anderen Gästen, auf Hidden Manor begrüßen zu dürfen. Dein alter Freund Brian.‹« Conny ließ den Brief sinken. »Das war’s. Der Typ will uns tatsächlich anheuern. Nicht so sehr, damit wir seine Ballgäste vor Schaden, sondern ihn vor Klatsch bewahren, kaum zu fassen. Komm, wir verbrennen diesen Schrieb und überlassen ihn seinem Schicksal.«
»Diesem Brian könnte ich das problemlos antun, aber was ist mit den Geistern in seinem Haus?« Allison sah nachdenklich aus. »Klingt doch sehr danach, als ob die einen Anwalt und eine Seelensorgerin bitter nötig hätten. Bei den oberflächlichen Bewohnern um sie herum bin ich schon etwas beunruhigt.«
»Mich beunruhigt viel mehr, dass mein ›alter Freund‹ hier eher eine Einladung zu einem Ball ausspricht, aber keine Zeile von einem offiziellen Auftrag für unsere Kanzlei darin steht. Ich traue ihm ohne Weiteres zu, dass er sich damit um eine Bezahlung unserer Dienste drücken will«, erwiderte Conny und beobachtete, wie Allison mit einem Satz aus dem Bett sprang und auf der Ablagefläche einer wuchtigen Kommode herumwühlte.
Schließlich fand sie zwischen Socken und leeren Kekspackungen, wonach sie gesucht hatte: einen Kugelschreiber und einen Notizblock.
»Schreib ihm sofort zurück«, forderte sie ihn auf. »Nicht per Mail, sondern ebenfalls auf dem Postweg, genau wie er. Das hat Klasse. Schreib ihm, dass du den Auftrag gern annimmst und mit deinem gesamten Team am Tag des Balles anrückst, was natürlich nicht billig für ihn wird.«
»Mit meinem gesamten Team?« Conny schwante Übles.
»Ja, mit deiner Partnerin, dem Empfangssekretär und einer zusätzlichen Assistentin samt Kanzlei-Maskottchen. Er soll alles für uns vorbereiten. Mach es richtig schön teuer für ihn.« Allisons Miene duldete keinen Widerspruch.
Gehorsam nahm Conny Block und Stift entgegen und formulierte laut sein Antwortschreiben: »Lieber Brian, ich komme am nächsten Wochenende in Begleitung einer Zeitreisenden, eines Gespenstes, meiner stummen Putzfrau und einer Ente zu dir. Stell dich auf eine gesalzene Rechnung ein.«
»Klingt super. Gesprochen wie ein echter Großkotz, das wird diesen Brian beeindrucken.« Allison grinste. »Jetzt lassen wir das von Nigel auf unser Briefpapier tippen und packen unsere Sachen. Was soll ich bloß anziehen? Wir sind schließlich zu einem Ball eingeladen.«
»Einem Maskenball«, korrigierte Conny. »Und er findet bereits am kommenden Wochenende statt.«
»Na, dann ist es ja allerhöchste Zeit, dass wir unsere Vorbereitungen treffen.« Allison turnte erneut aus dem Bett und riss die Türen des einzigen Kleiderschrankes im Raum weit auf. Auf ihrer Seite hingen ein paar für sie typische Overalls, die Kampfanzügen glichen, und ein paar enge Jeans. »Mist. Ob ich als Rambo gehen kann?« Sie zerrte einen Einteiler in Tarnfarben von seinem Bügel.
»Großartige Idee. Dann kannst du einfach so bleiben, wie du bist. Die bewaffneten Häschen auf deinem Pyjama wirken sehr überzeugend«, gab Conny zurück und sah an sich herab. »Ich denke, ich gehe als Conny Bligh, das ist ein nettes, praktisches und zeitsparendes Kostüm. Außerdem ist es jetzt erst mal allerhöchste Zeit für mein Frühstück. Nur weil deine Tage nicht vor elf Uhr beginnen, trifft das nicht auf deine Mitmenschen zu. Ich bin schon in aller Frühe um den Häuserblock gejoggt, habe den Briefkasten geleert und mich geduscht.«
»Du bist mein Held der frühen Stunde«, spottete Allison. »Obwohl du mir bisher noch nie eine Burg an der Küste gemietet hast wie dieser Brian für seine Frau. Er scheint sich doch sehr um sie zu sorgen, auch wenn er nicht ausdrücklich erwähnt hat, dass er sie liebt.« Allison warf den Overall zurück in den Schrank. »Weißt du, wofür ich dich liebe? Für das Duschen nach dem Joggen. Dein frischer Seifenduft macht fast so wach wie Frühstücksduft. Fast. Würdest du mir wohl einen Kaffee ans Bett bringen, Schätzchen? Währenddessen denke ich über mein Kostüm nach.«
»Mal sehen.« Doch er erhob sich augenblicklich und marschierte los, um ihr den Wunsch zu erfüllen.
In der Küche traf Conny auf Tante Ethel, die fröhlich vor sich hin summte und gleichzeitig einen Honigtoast vertilgte.
Tante Ethel war genau die Art Mensch, die man sofort und ohne Vorbehalte lieb gewann. Und zwar, weil sie es genauso hielt. Als Conny vor einigen Wochen zum ersten Mal in Allisons Begleitung in diese Küche gekommen war, hatte Tante Ethel ihm augenblicklich einen Sitzplatz, einen heißen Tee, Kekse und einen Platz in ihrem Herzen angeboten. Conny hatte alles dankbar angenommen und sich seit dem Auszug aus seinem Elternhaus nie wohler gefühlt als in Tante Ethels Gästezimmer, das sie ihnen zu einem Spottpreis auf unbestimmte Zeit überließ.
Die schlanke Frau mit den feinen roten Haaren, deren Alter sich nur schwer schätzen ließ, hatte niemals eine eigene Familie gehabt, sondern stattdessen ihr Patenkind Livie Emerson aufgezogen. Besagtes Patenkind war allerdings früh verstorben und durch Umstände, die Conny nicht verstehen, sondern nur akzeptieren konnte, zur Banshee der Familie Harrowmore und später zur Patentante seiner Gefährtin Allison geworden.
So schloss sich der Kreis. Tante Ethel, nach Livies Tod doch etwas einsam, hatte nun wieder Gesellschaft in Form von Allison, Livies Patenkind, das eigentlich gar nicht hier sein sollte, weil es aus einer mehr als zwanzig Jahre entfernten Zukunft angereist war, um mit ihm, Conny, zu leben.
Denn Conny und Allison waren füreinander bestimmt, so hatte sie es ihm gesagt. Und wer würde es schon wagen, einer Frau zu widersprechen, deren Pyjama mit bewaffneten Häschen bedruckt war?
»Na, was treibt unsere kleine Zeitreisende denn so?«, wollte Tante Ethel wissen und bestrich ihm unaufgefordert einen Toast mit Honig und Butter.
»Sie plant einen Großeinsatz der Kanzlei Harrowmore Souls«, erzählte Conny freimütig. »Im Landhaus eines meiner Schulkameraden scheint es nicht mit rechten Dingen zuzugehen. Wir werden uns dort umsehen, während gleichzeitig ein großer Maskenball stattfinden soll. Klingt bizarr und irgendwie nach Edgar Allen Poe, ich weiß. Aber es klingt auch ganz und gar nach Brian Lawrence. Seine Party muss steigen, ganz egal, was dagegensprechen könnte. Und falls ihm Gespenster Probleme bereiten wollen, dann gibt es ja noch den guten alten Conny Bligh.« Conny lachte gekünstelt, doch Tante Ethel verzog keine Miene. Sie schien seine Gefühle zu erraten.
Nachdenklich rührte seine Vermieterin in ihrer Kaffeetasse und sah dem Honig dabei zu, wie er vom Toast auf den Teller tropfte. »Und Allison will wirklich alles mitnehmen, was Beine hat? Euren faszinierend leblosen Sekretär ebenso wie die noch immer angeschlagene Putzhilfe Miranda?«
Conny nickte und biss in seinen Toast. Erst jetzt bemerkte er Tante Ethels grüblerischen Gesichtsausdruck. Er hielt im Kauen inne. »Stimmt was nicht? Allison hat gemeint, dass wir es für Brian so richtig schön teuer gestalten können. Deswegen will sie viel Personal auffahren. Meinst du, da steckt mehr dahinter, als sie mir sagt? Muss ich mir Sorgen machen?«
Tante Ethel blickte auf und schien einen Moment lang überrascht von seiner Naivität. Dann bestätigte sie seine Vermutung mit einem Kopfnicken und meinte: »Als Anwalt der Geister solltest du dir immer Sorgen machen, Conny. Man kann nie wissen, in welche Situation ihr als Nächstes geratet. Allison weiß das genau, auch wenn sie sich gern sorglos gibt. Bleib also wachsam, Conny, denn vielleicht wittert die Frau an deiner Seite bereits wieder Unheil und fährt deswegen lieber die scharfen Geschütze auf.«
»Aber Nigel und Miranda sind keine scharfen Geschütze, eher das Gegenteil. Und sie weiß doch auch nicht mehr als ich«, protestierte Conny und legte sein Frühstück zur Seite. »Wir haben beide nur die Informationen aus Brians Brief, den ich ihr vorgelesen habe. Und die sind mehr als dürftig.«
Tante Ethel streckte ihre Hand aus und hielt sie ihm auffordernd hin. »Darf ich dieses Schreiben mal sehen?«
Augenblicklich begann Conny in allen Taschen seiner Kleidung zu suchen und wurde in den Tiefen seiner Cordhose fündig. Bereitwillig gab er den Brief an Ethel weiter und beobachtete gespannt ihre Miene beim Lesen der Zeilen.
Als sie Brians Schreiben zurück in den Umschlag schob, lächelte sie. »Dann ist ja alles klar.«
»Spiel jetzt bitte nicht die Geheimnisvolle«, quengelte Conny und verdrehte die Augen. »Das ertrage ich einfach nicht. Von der Sorte habe ich manchmal eine neben mir im Bett liegen, das reicht völlig.«
»Es ist der Plural in der Schilderung dieses Brian, mein lieber Junge. Das hat deine Freundin nervös gemacht. Und zudem gibt es da natürlich noch den Maskenball mit vielen sorglosen Gästen. Ja, da solltet ihr unbedingt Verstärkung mitbringen.«
»Plural?« Connys Augen wurden schmal. »Wenn es hier um Grammatik geht, muss ich gestehen …«
»Erscheinungen.« Tante Ethel gab ihm den Brief zurück. »Dein Freund spricht von Erscheinungen und Erlebnissen, die seine Frau hatte. Vermutlich hat sie mehr als einen Geist gesehen.«
»Oder mehrfach denselben«, widersprach Conny.
Ethel schüttelte den Kopf. »Das glaube ich weniger. Ihr bekommt es möglicherweise mit einer Vielzahl an Spukgestalten zu tun. Was, wenn die alles andere als harmlos sind? Man stelle sich eine Armee von Geistern auf einer rauschenden Ballnacht mit zahlreichen Gästen vor. Es könnte eine Panik ausbrechen. Hidden Manor klingt nicht wie der Name eines Gebäudes, das mit genügend Notausgängen errichtet wurde. Und zertrampelte Berühmtheiten im Hauseingang machen sich nicht gut auf der weißen Weste deines Schulfreundes. Auf deiner übrigens auch nicht. Du solltest den Job nicht zu leicht nehmen, denn Allison ist ebenfalls auf der Hut.«
Conny lauschte ihren Worten mit wachsender Beunruhigung.
Konnte der Maskenball wirklich eine Gefahr für Leib und Leben darstellen? Er hoffte es nicht. Er wollte lieber an einen kleinen harmlosen Geist glauben, der von sich aus die Menge der Gäste meiden und sich verstecken würde.
Wie wäre es denn mal mit einem netten oder lustigen Gespenst? Das klang doch unterhaltsam. Bei allem anderen würde ihnen Miranda sowieso keine Hilfe sein.