Читать книгу Die Farben des Mörders - Miriam Rademacher - Страница 4

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Christine stand auf ihrem Balkon und sah in den Innenhof des Hauses hinab. Der nächtliche Himmel über ihr war sternenklar. Obwohl es bereits recht spät am Abend war, sah sie viele Lichter hinter den Fenstern des zweistöckigen, u-förmigen Gebäudes, in dem auch sie sich befand. Dieses Haus schlief nie. Ganz egal, zu welcher Uhrzeit sie auf ihren Balkon hinaustrat, das Haus lag niemals in völliger Dunkelheit. Der Theorie, dass alte Menschen weniger Schlaf benötigten, schien viel Wahrheit anzuhaften. Doch außer Christine stand im Moment keiner der Heimbewohner auf seinem kleinen Balkon. Und auch der Vorplatz, stets beleuchtet von langweiligen weißen Kugellampen, die den Weg zum Haupteingang flankierten, lag verlassen da.

Christine umklammerte die eiserne Brüstung ihres Balkons, als wollte sie sie erwürgen, und war dabei zutiefst unzufrieden mit sich selbst. In der letzten Stunde hatte sie intensiv an einem Brief gearbeitet. An einem Brief, mit dem sie sich vieles von der Seele schreiben, vieles erklären wollte. Doch was sie zustande gebracht hatte, erinnerte eher an die schwülstigen Liebesbekenntnisse eines unreifen Teenagers und erklärte so gut wie nichts. Das Geschreibsel war die Tinte nicht wert und sie hatte keine Zeit für einen zweiten Versuch. Sie hatte eine Verabredung. Sie ließ von dem unschuldigen Eisengeländer ab und trat zurück in ihr übersichtliches Reich. Ein Zimmer, kaum größer als eine Garage, ausgestattet mit einem Bett, einem Schreibtisch und einem Bücherregal.

Auf dem Schreibtisch lag noch immer der läppische Brief auf gelbem Büttenpapier. Sie sollte ihn wegwerfen. Er enthielt nichts von Bedeutung. Nur ihre Liebe. Und was zählte schon die Liebe in einem Moment wie diesem? Trotzdem würde der Brief seinen Adressaten erreichen, denn wer konnte schon wissen, ob sie jemals wieder den Mut finden würde, auch nur den Ansatz einer Erklärung abzuliefern?

Sie faltete den Brief zusammen und schob ihn in die Tasche ihres maigrünen Bademantels. Während sie den Ausschnitt des Mantels zurechtzupfte, sah sie sich aufmerksam in ihrem Zimmer um. Was konnte ihr von Nutzen sein? Ein schweres Buch oder der Porzellanhund auf dem Nachttisch erschienen ihr lächerlich. Damit konnte sie eine Fliege erschlagen, aber heute Abend ging es um ein größeres lästiges Geschöpf. Vielleicht konnte ihre Nagelschere Wunder wirken, wo Worte nicht geholfen hatten? Wie effektiv war wohl eine Nagelschere, wenn sie als Stichwaffe eingesetzt wurde? Sie verspürte einen Anflug von Ungeduld, als ihr Blick zufällig auf den nichtssagenden Druck an ihrer Zimmerwand fiel. Ein kitschiger Sonnenuntergang mit Fischerboot in einem schlichten Rahmen. Das Interessante war für sie in diesem Moment aber nicht das Motiv oder der Rahmen. Das Interessante war die Bildaufhängung. Das Bild hing an stählernen Strippen von einer verblendeten Schiene an der Decke. Das dünne Stahlseil war lang und machte einen stabilen Eindruck auf sie.

Entschlossen nahm Christine das Bild von der Wand und ließ eines der jetzt nutzlosen Seile seitwärts aus der Schiene flutschen. Während sie es aufrollte, spürte sie, wie gut sich der Draht in ihrer Hand anfühlte. Er war sogar mehr als gut. Er war perfekt.

Während sie die Stahlseilrolle in die Tasche ihres Bademantels schob, warf sie einen prüfenden Blick in ihren Garderobenspiegel. Christine hatte zeitlebens auf ihr Äußeres geachtet, die mehr als siebzig Jahre sah man ihr noch immer nicht an. Die Haut ihres spitzen Gesichts war weich und gepflegt, die lockige Haarpracht glänzte derzeit in dunklem Braun. Wie immer trug sie ein dezentes und teures Make-up. Und selbst in diesem wenig schmeichelhaften Bademantel konnte man ihre wohlproportionierte Figur erahnen.

»Du böses, böses Mädchen«, sagte sie zu ihrem Spiegelbild und schob die Hände in die Taschen des Bademantels. »Willst du nicht doch lieber davonlaufen? Das kannst du doch so gut.« Doch sie wusste, dass sie sich bereits anders entschieden hatte. In der rechten Tasche spürte sie das aufgerollte Stahlseil, in der linken ihre Schachtel Zigaretten, ein Feuerzeug und den lächerlichen Brief. Sie hatte alles, was sie brauchte. Es war Zeit für ihre Verabredung.

Leise zog sie die Zimmertür von außen zu und stand auf dem langen, verlassenen Flur mit seinen vielen Türen. Hinter jeder dieser Türen schlief oder wachte ein Mensch, und sie tat sicher gut daran, den Fahrstuhl und die große Eingangshalle zu meiden, wenn sie ungesehen aus dem Haus kommen wollte. Noch immer konnten sich schlaflose Wanderer auf der Suche nach Leidensgenossen auf den Fluren herumtreiben. Kurz bevor sie eines der weniger genutzten Treppenhäuser erreichte, bückte sie sich und schob ihren Brief unter einer Tür durch. Seiner Tür. Sie lauschte einen Augenblick. Alles blieb still. Sicher schlief er schon. So schnell es ihr in den lächerlichen Gesundheitsschuhen möglich war, huschte sie die Treppe herunter, stieß die Tür auf und trat hinaus in die Nacht. Vor ihr lag der verlassene Innenhof, nicht weit von ihr erstrahlte der Haupteingang im Licht der Kugellaternen. Christine hielt sich dicht an der Mauer und schlich so schnell sie konnte davon. Mit dem Gefühl, ungesehen entkommen zu sein, bog sie um eine Ecke.

Die einsame Gestalt, die nur wenige Augenblicke zuvor auf einen der Balkone des Gebäudes getreten war, hatte sie nicht bemerkt. Auch nicht den Schatten an der Wand, der dem ihren unbeirrt folgte.

Die Farben des Mörders

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