Читать книгу Die Farben des Mörders - Miriam Rademacher - Страница 6
Lehmbraun
Оглавление»Graham Horton! Nicht Graham Norton. Seine ganze Beerdigung lang habe ich den Mann mit dem Talkmaster aus dem Fernsehen verwechselt! Mann, war das peinlich. Und die versteinerten Gesichter der Hinterbliebenen, während alle anderen in ihre Taschentücher glucksten! Was für ein Albtraum. Merk dir das Colin: Man darf den Pfarrer nicht betrunken machen!«
»Ich schreibe es zur Strafe hundert Mal auf dein Zeichenpapier.«
»Hast du eine Ahnung, was für einen Kater ich habe? Und warum musste es ausgerechnet ein Malkurs sein? Warum nicht Seilspringen? Darin war ich in meiner Schulzeit ganz gut.«
»Seilspringen für Senioren. Das nenne ich wirklich innovativ«, gab Colin zur Antwort und umfuhr elegant eine Reihe von Schlaglöchern auf der schmalen Teerstraße vor ihrer Motorhaube. Die gewundene Zufahrt zu Hodge House hatte schon bessere Tage gesehen. Der wendige kleine Seat, den er sich für seine Ausflüge zu dem Seniorenheim von seiner Zimmerwirtin lieh, auch. Doch er erfüllte seinen Zweck und brachte ihn und Jasper ihrem Ziel am Ende der Straße zuverlässig näher.
»Und was sollte das eigentlich mit der Badehose?«, erkundigte sich Jasper. »Ich hoffe sehr, dass ich nicht auch noch selbst Modell stehen muss!«
»Das wäre mal etwas Neues für die alten Leutchen: Heute malen wir den Pfarrer in der Badehose! Nein, die Badehose ist für unseren wohlverdienten Feierabend gedacht. Rose Halligan, die Leiterin von Hodge House, erlaubt mir, zu meiner Entspannung das Therapieschwimmbecken im Keller zu nutzen. Ab dem frühen Abend ist dort niemand mehr und das Wasser ist kuschelig warm. Ich dachte, das könnte dir auch gefallen.«
Jasper schwieg einen Moment und murmelte dann: »Das tut es auch. Ja, das gefällt mir wirklich. Das versöhnt mich schon fast mit dem Malkurs. Wenn mir nur ein gutes Thema für die erste Stunde einfallen würde. Wie lautet ein therapeutisches Thema?«
»Mach es dir nicht so schwer. Maltherapie ist anspruchsloser als du denkst. Wie wäre es beispielsweise mit blau?«, schlug Colin vor. »Sag deinen Schäfchen, dass sie heute nur Blautöne verwenden dürfen. Weil blau so beruhigend ist.«
»Genial!« Jasper schlug sich auf die Schenkel. »Und nächste Woche nehme ich dann gelb und übernächste grün und so weiter!«
»Das könnte dann doch etwas eintönig werden. Im wahrsten Sinne des Wortes«, gab Colin zu bedenken.
Als sie die nächste Kurve hinter sich gebracht hatten, lag vor ihnen auf einer Anhöhe inmitten grüner Hügel das u-förmige Gebäude namens Hodge House. Ein früher Herbst färbte die Blätter der umstehenden Bäume bereits bunt, doch der Rasen vor dem und um das Gebäude war sauber geharkt worden. Das Gelände rund ums Haus machte einen gepflegten Eindruck. Einen Augenblick lang genossen sie den friedlichen Anblick schweigend.
»Hodge House ist eigentlich recht hübsch«, bemerkte Colin dann. »Kein großer moderner Kasten. Eher schlicht und übersichtlich gehalten. Ich frage mich allerdings, was die Mauerreste entlang der Grundstücksgrenze zu bedeuten haben. Sie scheinen uralt zu sein.« Er wies mit dem Finger auf schmutzig-gelbe Steinmauern, die wie vereinzelte Zähne aus dem Rasen herausragten.
»Sind sie auch. Hodge House ist keine dreißig Jahre alt. Es steht auf den Ruinen einer alten Klosteranlage. So ein idyllischer Bauplatz bleibt ja nicht unbemerkt über die Jahrhunderte. Lange Zeit standen hier nur diese Mauerreste. Dann setzte man Hodge House einfach in die Mitte. Ein nettes Seniorenheim, auch wenn es sich nicht für schwere Pflegefälle eignet. Seine Bewohner kommen alle auf ihren eigenen zwei Beinen hinein. Es sind Menschen, denen der Haushalt zu viel wurde. Oder die Einsamkeit. Oder beides.«
»Es ist nur ein wenig abgelegen. Hier gibt es rein gar nichts in der Nähe«, erwiderte Colin. »Nichts außer Bäumen und nochmals Bäumen. Von hier in die Zivilisation gelangt man eigentlich nur mit einem Wagen. Und die meisten der Bewohner tun gut daran, nicht mehr aktiv am Straßenverkehr teilzunehmen, fürchte ich.«
Jasper zuckte mit den Achseln. »Es ist ein Altenheim. Sie haben ihr eigenes Café mit Marzipantorte, einen Canasta-Club und Deppen wie dich und mich, die hier freiwillig das Unterhaltungsprogramm bestreiten. Was sollten die Bewohner also vermissen?«
»Hast du gerade freiwillig gesagt?«, knurrte Colin. »Und wie kommt es eigentlich, dass du Hodge House hier draußen entdeckt hast?«
»Kunststück. Sie haben auch eine eigene Kapelle. Ich habe dort einige Male gepredigt. Durch diese Besuche kam ich doch erst auf die Idee, dass den alten Leuten hier ein Tanzlehrer fehlt. Und wer könnte hier besser Schwung in die alten Knochen bringen als du?«
»Aber warum musste es denn ausgerechnet eine Tanztherapie sein?«, stöhnte Colin und steuerte den Seat auf einen Besucherparkplatz nahe dem Eingang.
»Weil man dazu keine Paare braucht, Colin. Männer sind hier nämlich Mangelware. Die Zahl der weiblichen Insassen übersteigt die der männlichen bei Weitem. Dass Frauen älter werden als Männer, ist nicht nur eine miese kleine Statistik, die uns ärgern will. Es ist das wahre Leben.«
»Mein Leben verkürzt die Tanztherapie mit Sicherheit mit jeder Stunde, die ich damit verbringe.«
Der Seat kam mit einem Ruck zum Stehen. Jasper stieß die Beifahrertür auf und quälte sich aus dem niedrigen Sitz. Nach einigen Dehnübungen holte er tief Luft. »Ist schön hier, oder? Es riecht so wunderbar nach Wald und Wiese. Hier seinen Lebensabend zu verbringen, hat durchaus Charme. Wir sollten uns einen Platz reservieren.«
»Das hat ja wohl noch etwas Zeit«, protestierte Colin halb scherzhaft, halb im Ernst und zog einen tragbaren CD-Player und eine CD-Tasche vom Rücksitz des Seat. Ungelenk schloss er die Wagentür mit einem Schubser und ging auf den Eingang zu, wo eine schlanke Blondine mittleren Alters mit Pagenkopf auf ihn und Jasper zu warten schien. Ihr Lächeln wurde breiter, als die beiden Männer auf sie zukamen. Colin fragte sich, was für ein Bild sie beide an diesem Morgen boten. Er, der hochgewachsene schlanke Mann mit vollem eisgrauem Haar, der sich gerade hielt. Und der rundgesichtige und kugelbäuchige Jasper, dem man den mangelnden Schlaf der letzten Nacht mit jedem Schritt anmerkte.
»Pfarrer Johnson! Wie schön, dass Sie uns Ihre wertvolle Zeit opfern. Mr Duffot sagte mir bei seinem letzten Besuch, dass er Sie mitbringen würde, und ich war gleich begeistert von der Idee einer Maltherapie.«
Jasper warf Colin einen schiefen Blick zu. »Du musst dir deiner Sache ja sehr sicher gewesen sein. Alle Achtung.«
Colin erwiderte nichts und grinste nur zufrieden. Mrs Rose Halligan hatte sich ihm nur ein paar Wochen zuvor mit ähnlichen Worten vorgestellt. Seitdem hatte er mit ihr nie mehr als einige wenige Begrüßungsfloskeln gewechselt, und doch glaubte Colin, die Heimleiterin bereits gut zu kennen. Die Jahre auf dem Tanzparkett hatten ihn zwar nicht zu einem unfehlbaren Menschenkenner gemacht, doch er vermochte Körpersprache und Bewegungen eines Menschen zu deuten und lag dabei nur selten daneben.
Rose Halligan hatte sich eine leitende Position bestimmt nie erträumt. Sie hatte schwache Schultern, die immer leicht nach vorn fielen und oft bis zu den Ohren hochgezogen wurden. Am liebsten, so vermutete Colin, wäre sie bis zum Scheitel zwischen ihnen verschwunden. Aber ein Hauch von Mut oder ein ausgeprägtes Verantwortungsbewusstsein hielten sie auf ihrem Posten und das bewunderte Colin an der zarten Frau.
»Vielen Dank für die Begrüßung, Mrs Halligan. Schön, wieder einmal hier zu sein«, antwortete Jasper und schüttelte der Heimleiterin die Hand.
»Wir kommen sehr gerne«, ergänzte Colin und lächelte dazu. Wenn er jetzt in das freundliche Gesicht der Heimleiterin blickte und die herrliche Landschaft ihre beruhigende Wirkung auf ihn entfaltete, hatte er nicht einmal das Gefühl, dass er log. Ein leichter Wind strich ihm über die Haut und rauschte in den Laubbäumen nahe der Grundstücksgrenze. Es hätte alles perfekt sein können, wäre da nicht der Anlass ihres Besuches gewesen.
»Ich habe für jeden von Ihnen eine Namensliste. Kontrollieren Sie bitte, ob alle Personen, die dort aufgeführt sind, auch an ihrem Kurs teilgenommen haben, und haken Sie sie ab.« Rose Halligan hielt Jasper und Colin zwei beschriebene Zettel hin, die Jasper mit einem Stirnrunzeln an sich nahm.
»Das klingt ja fast so, als wären nicht alle freiwillig in den Kursen.«
Die Heimleiterin lächelte verkniffen. »Die meisten von ihnen schon. Diese Anmeldeliste hängt immer an unserem Informationsbrett in der Halle. Jeder, der möchte, kann sich eintragen und somit ein gesundes und belebendes Freizeitangebot nutzen. Es gibt jedoch einige, sagen wir mal, Spezialfälle in unserem Heim, die man gelegentlich zu ihrem Glück zwingen muss. Sonst würden sie freiwillig nicht einmal aufstehen, obwohl sie es könnten. Diese Personen habe ich heute auf der Liste nachgetragen und über ihre Chance informiert, an Ihren Angeboten teilzunehmen. Wenn sie nicht erscheinen sollten, möchte ich das natürlich wissen.« Rose Halligan hatte sehr schnell gesprochen und ihr Hals hatte sich während ihrer Worte wieder auffallend verkürzt. Sie erinnerte Colin an eine Schildkröte, kurz vor dem ultimativen Rückzieher in den eigenen Panzer.
Jasper warf Colin einen Blick mit hochgezogenen Brauen zu, den dieser mit einem fast unsichtbaren Nicken quittierte. Dann rückte er seine Nickelbrille zurecht und fragte in sanftem Ton: »Und wenn die alten Leutchen nicht zur Tanzstunde erscheinen, zu der sie verdonnert wurden, was passiert dann? Wird ihnen der Nachtisch gestrichen?«
»Aber nein, Pfarrer Johnson! Wo denken Sie hin? Wir wollen hier nur das Beste für unsere Schützlinge. Wenn sie sich aber nicht aufraffen können, ihre geistige und körperliche Gesundheit zu erhalten, geleite ich sie beim nächsten Termin höchstpersönlich zum Kursangebot und rede ihnen ins Gewissen. Manche Menschen brauchen einen kleinen Anreiz von außen. Vitalität wird uns nicht geschenkt, Herr Pfarrer. Wer sich nicht bewegt, kann sich eines Tages gar nicht mehr bewegen. Wer sein Gedächtnis nicht trainiert, wird irgendwann bemerken, dass ihm plötzlich vieles schwerer fällt. Wir müssen für uns sorgen, in jedem Alter. Aber das ist so schwer einzusehen, wenn das Bett so warm und gemütlich ist, nicht wahr?«
So sehr Jasper ihr im letzten Punkt sicherlich zustimmte, so wenig schien ihn ihre restliche Argumentation zu überzeugen. Doch er atmete einmal tief durch und klemmte sich die Listen unter den Arm. Rose Halligan wandte sich zum Gehen und Jasper und Colin folgten ihr durch die Glastür.
»Keine Sorge. Sie werden alle erscheinen«, raunte Colin ihm zu. »Niemand ist scharf auf einen Vortrag über Gesundheit von Rose.«
Rose Halligan, die diese Worte nicht gehört zu haben schien, erklärte Jasper im Tonfall einer automatischen Bandansage die Abläufe: »In einer Viertelstunde beginnt die Maltherapie. Unsere Bastelstube liegt fast gegenüber dem Gymnastikraum, in dem die Tanztherapie stattfindet. Gleich hier unten im Erdgeschoss.« Sie wackelte auf ihren hohen Absätzen und in ihrem engen Bleistiftrock vor ihnen her. Colin war sich sicher, dass sie sich in dieser Aufmachung sehr unwohl fühlte, doch sie schien zu glauben, als Heimleiterin einem bestimmten Bild entsprechen zu müssen.
Die Halle hinter der Eingangstür bildete das Zentrum des ganzen Hauses. Großzügig angelegte Sitzecken mit Ausblick auf den Rasen durch die lange, gegenüberliegende Fensterfront ließen Hodge House offen, hell und freundlich wirken. Ein hauseigener Kiosk, der von der Zahnbürste bis zum Eisbecher alles im Angebot hatte, belebte das Bild mit seinen farbenfrohen Auslagen. Zur Linken befand sich ein klobiger Empfangstresen, hinter dem ein freundlich lächelnder Mann mit pechschwarzem Haar stand und an seiner Krawatte zupfte.
Rose Halligan winkte ihm kurz zu. »Ich bringe den Pfarrer nur rasch in die Bastelstube und zeige ihm, wo er seine Utensilien findet«, rief sie.
»Guten Tag, Pfarrer Johnson! Wie schön, Sie wieder hier zu haben! Guten Tag, Mr Duffot! Ich habe den Gymnastikraum bereits aufgeschlossen.«
»Vielen Dank, Mr Simms«, antwortete Colin und lächelte unwillkürlich. Der Mann am Empfang hatte immer schon aufgeschlossen, egal zu welcher Zeit Colin im Heim ankam. Er hatte auch immer schon das Licht angemacht und ein paar Hocker für die Erschöpften bereitgestellt. Mr Simms war nach Colins Meinung die Seele des ganzen Hauses. Egal, was man brauchte, Mr Simms besorgte es. Egal, was man suchte, Mr Simms wusste, wo es zu finden war. Mr Simms vergaß nie einen Namen und kein Gesicht. Mr Simms war genau die Art Mensch, die an einem Ort wie diesem nicht fehlen durfte, fand Colin.
Der Heimleiterin folgend, verließen sie die Eingangshalle über einen Korridor zur Linken und erreichten bald eine Tür mit einem großen, augenscheinlich selbst gebastelten Schild mit der Aufschrift Bastelstube. Darunter hatte ein Witzbold mit rotem Edding geschrieben: Ihr, die ihr hier eintretet, lasst alle Hoffnung fahren! Rose Halligan begann augenblicklich, an der roten Farbe herumzukratzen.
»Das war vorhin noch nicht da«, erklärte sie. »Und ich weiß natürlich, wer es war. Keiner ist so schwer zu seinem Glück zu zwingen wie Nathan Biggles. Na, Sie werden ihn ja gleich selbst kennenlernen, Herr Pfarrer. Ich habe Biggles auf die Liste für die heutige Malstunde gesetzt und so dankt er es mir. Am besten setze ich ihn gleich für alle Termine auf die Liste. Das kann ihm nur guttun. Er ist so unausgeglichen.«
Sie kratzte noch einen Moment lang mit ihren kurzen Fingernägeln an der Farbe herum, dann gab sie es auf und öffnete die Tür. Ein Geruch, der Colin an seine Schulzeit erinnerte, schlug ihnen entgegen. Eine Mischung aus Reinigungsmittel, Sägespänen und Klebstoff. Colin beobachtete, wie Jasper zögernd über die Schwelle trat und den Blick über die zu Gruppen zusammengeschobenen Tische gleiten ließ, deren Arbeitsplatten bereits unter dem häufigen Gebrauch bunter Farben gelitten und eindeutige Spuren davongetragen hatten. Vor einem Fenster standen ein paar wenige Staffeleien und in Regalen entlang der Wände zeugten seltsame Gebilde aus verschiedenen Materialien von der Kreativität in Hodge House.
Mit einem wie er hoffte unschuldigen Augenaufschlag klopfte Colin seinem Freund noch einmal auf die Schulter. »Du packst das schon. Und wenn du Hilfe brauchst, ich bin gleich gegenüber. Genau dort, wo die New-Age-Musik erklingt.«
Jasper war anzusehen, dass er nach einer bissigen Antwort suchte, doch Colin trat rasch den Rückzug an und eilte in die Gymnastikhalle, wo er bereits erwartet wurde.
Die Halle war dank einer langen ebenerdigen Fensterfront lichtdurchflutet. Trotzdem hatte Mr Simms bereits die Deckenbeleuchtung eingeschaltet und auch wieder Hocker bereitgestellt. Auf einem dieser Hocker saß Colins einziger männlicher Teilnehmer der letzten Stunden. Waldemar.
Colin kannte weder seinen vollen Nachnamen, noch wusste er, wie alt Waldemar war und woher er stammte. Mit Sicherheit jedoch gehörte Waldemar zu den freiwilligen Teilnehmern seines Kurses. Sein hingekritzelter Name stand stets ganz oben auf Colins Liste.
Als Colin eintrat, schenkte Waldemar ihm ein höfliches Lächeln, blieb aber stocksteif auf dem Hocker sitzen. Er war klapperdürr. Sein graues Haar sah aus, als würde es nur zu Feiertagen mit einem Brotmesser eingekürzt werden. Seinen Kinnbart trug er wie ein chinesischer Kaiser aus dem Puppentheater zu einem Zopf geflochten, an dessen unterem Ende eine winzige rosa Schleife baumelte. Colin hatte sofort und auf den ersten Blick Vertrauen zu diesem Mann gefasst. Menschen mit rosa Schleifen im Bart konnten nur durch und durch positiv eingestellt sein. Ein längeres Gespräch zwischen ihnen hatte sich seit ihrer ersten Begegnung allerdings nicht ergeben, obwohl Waldemar stets der Erste im Gymnastikraum war. Doch der Althippie, wie Colin ihn gern bezeichnete, war von zurückhaltendem Wesen.
Während Colin seine Arbeitsmaterialen abstellte, den CD-Player anschloss und die CDs bereitlegte, saß Waldemar lächelnd auf seinem Hocker und sah ihm schweigend zu. An diesem Tag schien er jedoch etwas auf dem Herzen zu haben. Colin vernahm zunächst nur ein Räuspern.
»Wir brauchen eine Mitte.«
Colin hielt inne und wandte sich Waldemar zu. Einen Moment lang versuchte er, der Bedeutung der Worte selbst auf die Schliche zu kommen. Ging es Waldemar um etwas Religiöses? Nach kurzem Grübeln gab Colin auf und echote unintelligent: »Eine Mitte?«
»Blumen oder Zweige. Vielleicht eine Kerze?«
Colin sah in die freundlichen Augen Waldemars und versuchte noch einmal, die rätselhafte Botschaft zu entschlüsseln, doch er kam nicht drauf.
»Blumen für die Mitte? Ich fürchte, ich verstehe nicht ganz.«
Auf Waldemars faltigem Gesicht erschien ein freundliches Lächeln. Dann erklärte er mit seiner knarzenden Stimme: »Ein Jahr ist es vielleicht her, da kam ein junges Mädchen zu uns. Auch sie tanzte mit uns. Auch sie nannte es Tanztherapie.« Waldemar machte eine Pause und Colin lag ein sehr ehrlicher Kommentar zum Thema Tanztherapie bereits auf der Zunge, als Waldemar fortfuhr: »Wir fassten uns an den Händen und tanzten im Kreis herum. Genau wie jetzt. Doch es ist einfacher, den Kreis beizubehalten, wenn man eine Mitte zur Orientierung hat. Deswegen legte das Mädchen Blumen und Zweige auf den Boden. In unsere Mitte. Das war schön und nützlich.«
Colins erster Gedanke war, dass er einen Tanz um sterbendes Grün und flackerndes Kerzenlicht zu weinerlicher Musik nur mit Beruhigungsmitteln würde ertragen können. Doch dann dämmerte ihm, dass die Idee tatsächlich etwas für sich hatte. Während der Kreistänze, bei denen sich die alten Leutchen gern gegenseitig gleichermaßen stützten wie behinderten, eierte seine Truppe oft unkontrolliert herum. Mit einer sichtbaren Mitte würde es ihnen sicher leichter fallen, den Kreis beizubehalten. Colin öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch Waldemar war schneller.
»Ich hole eine Kerze. Sie gehen derweil durch diese Tür« – er wies auf die Glasfront hinter sich – »und suchen uns ein paar Blumen. Blumen verbreiten so eine angenehme Stimmung … Wir haben noch genug Zeit. Wir werden beide pünktlich wieder hier sein.«
Mit diesen Worten erhob sich der alte Hippie und schlurfte zur Tür hinaus. Colin sah ihm einen Augenblick lang nach. Seinetwegen hätte es auch ein Hocker als Mittelpunkt des Kreises getan, aber wenn Waldemar gerne Blumen hatte, dann sollte er seine Blumen bekommen. Colin sah er auf seine Armbanduhr. Ihm blieben noch zehn Minuten und er konnte durch die Fenster die Grundstücksgrenze hinter dem gepflegten Rasen liegen sehen. Dort wuchsen Büsche und Gräser hoch und wild. Mit etwas Glück würde er dort sicher irgendetwas Blühendes finden.
Colin öffnete die in die Glasfront integrierte Außentür, trat hinaus in den lauen Tag und schritt entschlossen über den Rasen. Das Gelände stieg hier leicht an. Vereinzelt standen vergessene Gartenliegen herum, unter einer großen Platane stand eine verlassene Bank. Ganz am Ende des Rasens befand sich eine Holzhütte, eine Art Gartenpavillon, um welchen ebenfalls Bänke drapiert worden waren. Es war ein beschauliches Plätzchen. Dort, wo der gepflegte Rasen endete, begann abrupt und ohne jeglichen Übergang die Wildnis. Froh darüber, dass er seine Tanzschuhe daheim gelassen und in normalen Straßenschuhen unterwegs war, stieg Colin in das hohe Gras und ging jetzt langsam und sich sorgfältig umschauend weiter. Hier fiel das Gelände plötzlich steil ab. Er stand auf dem Kamm einer Böschung und blickte hinunter in eine Mischung aus Unterholz und Gartenabfällen. Die Gärtner von Hodge House hatten es sich einfach gemacht und den Rasenschnitt und anderen Unrat einfach über die Grundstücksgrenze gekippt. Ein übler Geruch stieg von den verrottenden Pflanzenresten auf und ließ ihn die Nase rümpfen. An der Grundstücksgrenze kam außer ihm und den Gärtnern wohl nicht oft jemand vorbei. Sonst hätte sich bestimmt mal jemand beschwert und Mr Simms hätte diese Unsitte rasch unterbunden. Colin ging einige Schritte auf dem Kamm entlang und pflückte ein paar der vereinzelt aus dem Gras herausragenden Wildblumen. Doch seine Ausbeute erschien ihm noch zu mickrig und er lief weiter an der Böschung entlang, bis er fast das Gartenhäuschen erreicht hatte. Da entdeckte er unter sich, am Fuße des Hanges, genau das, was ihm jetzt fehlte. Eine schöne Mitte für Waldemar. Ein wahres Prachtexemplar von intensiver roter Farbe. Der absolute Hingucker. Er musste nur ein paar Schritte die Böschung hinuntersteigen, um den Fliegenpilz zu bergen. Langsam, jeden Schritt konzentriert setzend, kletterte Colin den Hang hinunter, hielt sich zwischendurch an den Zweigen einer Weide fest und erreichte leicht rutschend den hübschesten Giftmörder, den Mutter Natur zu bieten hatte. Zufrieden zog er ein Taschentuch aus seiner Hosentasche, legte es auf seine Handfläche und umschloss den Stiel des Pilzes damit. Gerade wollte er ihn abbrechen, als sein Blick auf eine interessante Wurzelformation gleich neben dem Pilz fiel. Die vier krummen Gebilde von lehmbrauner Farbe, die unter einem Hügel aus Gartenabfällen hervorragten, erinnerten ihn irgendwie an Finger. Sie waren auf eine seltsame Art faszinierend. Colin beschloss kurzerhand, auch diese Wurzel mitzunehmen. Während er mit der rechten Hand noch den Pilz abbrach, griff er mit der linken schon nach der Wurzel und wunderte sich augenblicklich über die sich fremd anfühlende Konsistenz. Energisch zog er an der Wurzel, die sofort nachgab und ihm ohne Vorwarnung den Teil von sich präsentierte, der soeben noch unter den Gartenabfällen verborgen gewesen war. Das schmutzige Grün, das entfernt an Moos erinnerte, hatte einen umgenähten Ärmelaufschlag. Aus diesem wuchs Colin das, was er für eine Wurzel gehalten hatte, entgegen. Und nun hatten die vier fingerähnlichen Wurzeln Gesellschaft durch einen Daumen und ein Handgelenk bekommen. Colin erkannte, dass er tatsächlich Händchen hielt. Mit jemandem, der unter einem Berg von Müll begraben lag. Jemandem, der seinen Körper in einen grünen, moosartigen Frotteestoff gehüllt hatte, bevor er zum Sterben unter diese Gartenabfälle gekrochen war. Jemandem, der den Eindruck erweckte, als ob er seine faulenden Finger ebenfalls nach dem Fliegenpilz ausgestreckt hatte.
Ein vertrautes Gefühl stieg in Colin auf. Es war dasselbe Gefühl, das über ihn gekommen war, als er vor ein paar Monaten zum ersten Mal in seinem Leben ein Mordopfer gesehen hatte. Es war eine Kälte, die seinen Brustkorb einengte und ihm das Luftholen schwer machte, doch Luft holen musste er. Es war dieses dumpfe, wattige Gefühl zwischen seinen Ohren, das ihm das Denken erschwerte, doch denken musste er. Und handeln. Er musste handeln, bevor ihm Atmen und Denken abhandenkommen konnten. Colin atmete tief ein und tat genau das, was er in dieser Situation für angemessen hielt. Er schrie laut auf.