Читать книгу Die mechanischen Katzen - Miriam Rieger - Страница 4
2. Kapitel
Оглавление„Wir sind angekommen“, ertönte eine dumpfe Stimme, kurz nachdem das Schnauben und Stampfen des Ungetüms verstummt war. Nach dem Lärm, der Bender die letzten zwanzig Minuten umhüllt hatte, war die plötzlich eintretende Stille wohltuend für seine Ohren. Längst hatte Bender sich eingestehen müssen, die Orientierung verloren zu haben. Zu wenige Anhaltspunkte hatte es gegeben, um sich ein Bild machen zu können. Die Tür wurde aufgerissen, und Bender sprang ins Freie. Wenig überrascht erblickte er eine Backsteinmauer von der Art, die für gewöhnlich ein Anwesen umgab. Ein Blick reichte um zu erkennen, dass er sich innerhalb dieser Abgrenzung befand. Das imposante Tor hinter dem Gefährt schloss sich wie von Geisterhand. Bender hatte bereits von solchen Apparaturen gehört: Ein komplizierter Mechanismus aus ineinander verflochtenen Zahnrädern sorgte dafür, dass Muskelkraft nicht mehr vonnöten war, um die Tür zu bewegen. Es war jedoch das erste Mal, dass Bender derartiges mit eigenen Augen sah, und er fragte sich, wieso man so viel Geld und Aufwand in eine Tür stecken mochte. Die Antwort gab er sich im nächsten Augenblick selbst: Für den Eigentümer würde Geld in dieser Größenordnung kaum eine Rolle spielen.
Bender wandte sich um. Ein Park umgab ein zweistöckiges Haus, das im Inneren vermutlich Platz für zwanzig Zimmer, Ballsaal inklusive, bot. Sämtliche Bäume und Sträucher, die den Weg säumten, waren akkurat gestutzt, kein Blatt und kein Stiel waren dem Lauf der Natur überlassen worden. Die Blumen auf den Beeten waren so angeordnet, dass sie ein komplexes Muster aus Zahnrädern ergaben. Wer auch immer hier residierte, musste eine Schwäche für Technik haben und ein Pedant sein. Beides wäre kein Problem gewesen, wenn nicht der sichtliche Wunsch des Eigentümers, mit seinem Geld zu protzen, Bender abgeschreckt hätte.
„Folgen Sie mir. Sie werden bereits erwartet.“
Ohne sich umzublicken, schritt der Fahrer auf das Haus zu. Bender folgte ihm über eine mit Statuen gesäumte Marmortreppe in das Innere des Hauses. Die Empfangshalle bestätigte den nach außen getragenen Reichtum des Gastgebers. Benders Abscheu focht einen Kampf mit seiner Neugier, der mit einem Remis sein vorläufiges Ende fand, als der Gastgeber auftauchte.
Mortimer Bender hatte in seinem Leben, das um einiges länger war, als es sein Äußeres vermuten ließ, schon viel erlebt, so dass es schwierig war, ihn zu überraschen. Dieser Tag jedoch schien alles daran zu setzen, genau dies zu schaffen. Das Auftauchen des Ungetüms war bereits ein guter erster Schritt gewesen. Der Gastgeber toppte dies.
„Herr Hellthal“, entfuhr es Bender, doch sogleich hatte er sich wieder in der Gewalt und glättete seine Züge. Dennoch umspielte ein schmallippiges Lächeln das Gesicht Hellthals. Dass sein Gastgeber ein an Geld und Macht reicher Mann und es gewohnt war, dass die Menschen nach seiner Pfeife tanzten, war Bender schon seit dem Auftauchen der Straßenlokomotive bewusst gewesen. Doch Hellthal – das war noch eine Nummer größer als erwartet. Was die Frage, warum er ausgerechnet Bender hatte kommen lassen, noch interessanter erschienen ließ.
„Ich sehe, Sie kennen mich. Damit rechnete ich.“ Es war eine Feststellung. In der gesamten Region gab es vermutlich niemanden, der noch nichts von Edgar Hellthal gehört hatte. Dabei war er vom Aussehen her eine eher unscheinbare Persönlichkeit. Von der Natur mit einer kleinen, schmalen Statur gesegnet, trug Hellthal Schuhe mit höheren Absätzen, vermutlich um die geringe Körpergröße wettzumachen. Dennoch war er immer noch kleiner als Bender, der sich selbst als nur durchschnittlich groß bezeichnete. Graumelierte, perfekt gekämmte Haare schmiegten sich um Hellthals Kopf und offenbarten Geheimratsecken. Er hatte strenge, ebenmäßige Gesichtszüge und einen Blick, der verriet, dass er, wenn schon nicht körperlich, so doch hierarchisch auf andere hinabzusehen pflegte.
„Was wissen Sie über mein Unternehmen?“ Mit hinter dem Rücken verschränkten Armen taxierte Hellthal Bender.
Was andere ebenfalls wissen, war Benders erster Gedanke, den er nicht aussprach. Eine präzisere Antwort wäre wünschenswert, hätte er sicher zu Recht zu hören bekommen.
„Sie führen eines der wichtigsten Unternehmen in Traunstein und Umgebung“, begann Bender. Es klang, als schmierte er seinem Gegenüber Honig um den Mund, doch entsprach es lediglich der Wahrheit. Es gab nur ein weiteres Unternehmen, das ähnlich erfolgreich war: das Luftschiffimperium des Freiherrn von Hohenheim, das seinen Sitz in Berchtesgaden im benachbarten Landkreis hatte. Doch hielt es Bender für klüger, den Namen des Mannes, der in Sachen Macht und Einfluss Hellthals Konkurrent war, nicht in diesem Anwesen zu nennen, wenn es nicht sein musste.
„Sie entwickeln und verkaufen alles, was sich mit Zahnrädern machen lässt.“
„Ihre Beschreibung könnte konkreter ausfallen, aber da sie im Kern der Wahrheit entspricht, werde ich sie stehen lassen.“
Wie in Gedanken versunken schritt Hellthal durch den Empfangsraum, ließ dabei seine Absätze auf dem Marmorboden klappern und blieb vor einem offenen Kamin stehen, der so blitzte, dass er bestimmt noch nie ein Feuer gesehen hatte. Die Rauchentwicklung im Empfangsraum wäre vermutlich auch katastrophal geworden, da der Kamin dreiseitig offen ein gutes Stück in den Raum hineinragte.
„Ich entwickle gerade eine exklusive Produktreihe“, erzählte Hellthal wie beiläufig, doch Bender fiel auf, dass der Millionär aus dem Augenwinkel genau seine Reaktion beobachtete. Was auch immer er erwartete: bestimmt nicht den scheinbar desinteressierten Gesichtsausdruck, hinter dem Bender seine Neugierde versteckte. Dass die Produktreihe exklusiv war, fand er dabei weniger spannend als die Tatsache, dass Hellthal sich die Zeit nahm, ihm davon zu erzählen.
„Es ist eine Katze.“
Einen Augenblick hatte Bender eine echte Katze vor Augen, die Hellthal eine tote Maus vor die auf Hochglanz polierten Lederschuhe legte und ein Lob erwartete. Doch dann fiel sein Blick auf den Kaminsims, und da wusste Bender, warum sein Gastgeber sich ausgerechnet diesen Ort zum vorgeblichen Sinnieren ausgesucht hatte.
Dort saß eine bronzefarbene Katze, deren Innenleben aus Zahnrädern, Schrauben und Uhren bestand. Eine Uhr saß direkt auf der Stirn, knapp oberhalb der Augen. Die Katze hatte seitlich angedeutete Schnurrbarthaare, doch hatte der Produktentwickler Nase und Maul für überflüssig empfunden. Ein Metallrohr, das aussah, als könnte es nach Belieben verkürzt oder verlängert werden, verband Kopf und den restlichen Körper. Weitere drei Uhren zierten diesen. Eine tickte auf der Brust und eine weitere kleine prangte auf der hinteren Pfote. Bei jedem anderen hätte Bender humoristische Hintergründe dafür vermutet, dass die dritte Uhr ausgerechnet seitlich am Hintern ihren Platz gefunden hatte, doch es war davon auszugehen, dass Hellthals Sinn für Humor so ausgeprägt war wie die Bescheidenheit des Anwesens. Der Katzenschwanz bestand aus etwa zehn einzelnen Stücken, die durch Bolzen zusammengehalten wurden, und sich nach oben hin zusammenkrümmten. Von einem Zahnrad, das am Hals befestigt war, hing eine Schnur herab. Scharfe Krallen an den Pfoten rundeten das Bild ab.
Bei dieser Katze gingen Eleganz und perfekt funktionierende Technik Pfote in Pfote, doch was wollte Hellthal mit ihr? Dieser Mann hatte noch nie etwas ohne guten Grund entwickelt.
Der Gastgeber ließ Bender das mechanische Tier begutachten, ehe er weitersprach: „Sie haben die Ehre, den Prototypen meiner neuesten Kreation zu bewundern.“
Mochte es als undankbar gelten, doch Bender empfand es kaum als Ehre. Vielmehr beschäftigte ihn die Frage, welche Erwartungen Hellthal an ihn hatte. Er verschränkte die Arme. „Herr Hellthal, Sie haben gewiss nicht nach mir schicken lassen, weil ich bei einem Gewinnspiel, von dem nur Sie etwas wissen, einen Rundgang mit persönlicher Führung gewonnen habe. Meine Zeit ist im Vergleich zu Ihrer sicher nicht so knapp bemessen, aber ich möchte Sie dennoch bitten, zum Punkt zu kommen.“
Hellthal warf ihm einen Blick zu, bei dem die meisten Menschen den ihren gesenkt hätten. Nicht so Bender. Ohne zu blinzeln hielt er stand, bis Hellthal sich dem Kaminsims zuwandte und die mechanische Katze herunterhob.
„Die Produktreihe umfasst momentan drei Katzen. Doch kam es zu einem unvorhergesehenen Zwischenfall.“ Hellthal legte eine Pause ein, doch Bender tat ihm nicht den Gefallen, nachzuhaken.
„Eine der Katzen befindet sich in meinem Besitz. Es handelt sich um diese. Die beiden anderen wurden gestohlen.“
Es fehlte lediglich ein mit seinen Initialen besticktes Spitzentaschentuch zur Benetzung der Stirn und ein theatralischer Ohnmachtsanfall, um die Dramatik der Szenerie zu untermauern.
„Brachten Sie den Diebstahl bereits bei der Polizei zur Anzeige?“, fragte Bender nur.
Hellthal lächelte dünn. „Ja, doch gibt es bis heute keine Resultate. Protokolle und Fotografien liegen vermutlich en masse in Ordnern, fein säuberlich beschriftet und archiviert. Aber was hilft mir das? Deswegen kommen Sie ins Spiel. Sie werden mir meine Katzen wiederbeschaffen. Für jede gefundene Katze werden Sie selbstverständlich ein Honorar erhalten. Eines, das vermutlich wesentlich höher ausfällt als das übliche Kleingeld, mit dem Sie Ihr Überleben sichern.“
Arroganter Schnösel, war Benders erster Gedanke. „Meines Wissens beschäftigen Sie Sicherheitspersonal, darunter auch einen eigenen Detektiv. Warum vertrauen Sie nicht ihm die Aufgabe an?“
Hellthal beantwortete die Frage nicht gleich. Sein Blick glitt über die Katze, dann über Bender. Vermutlich überlegte er, wie viel er tatsächlich preisgeben durfte.
„Sehen Sie, Herr Bender“, sagte er schließlich. „Auch wenn ich Ihnen keine Details verraten werde, kann ich Ihnen dennoch sagen, dass ich für mein Privatanwesen wie für meinen Firmensitz ein umfangreiches Sicherheitssystem ausgeklügelt habe. Für den Diebstahl der Katzen wurde dieses auf raffinierte Art umgangen. Wer auch immer der Täter oder die Täterin ist, kennt sich genau aus.“
Nun wurde Bender einiges klarer. „Sie schließen nicht aus, dass jemand, den Sie damit beauftragten, für die Sicherheit in Ihrer Firma zu sorgen, dieses Wissen ausnutzte. Da Sie nicht wissen, wer es war, misstrauen Sie pauschal allen Angestellten und übergeben einem Externen den Auftrag.“
„Sie sind ein Mann, der das sagt, was er denkt.“
Wenn ich meine Gedanken zu dir und deinem Auftrag ungefiltert zum Besten gäbe, könnte ich froh sein, wenn ich nur des Anwesens verwiesen würde. „Haben Sie einen Verdacht? Wofür sind die Katzen gebaut worden und für wen sind sie von Interesse?“
„Sie sind zur Zierde gedacht.“
Im ersten Augenblick wusste Bender nicht, was er antworten sollte. Der Gedanke, dass Hellthal einen Detektiv anheuern und fürstlich bezahlen wollte, weil ihm zwei Dekorationsartikel abhanden gekommen waren, schien so abstrus, dass Bender in einer anderen Situation an einen schlecht inszenierten Scherz gedacht hätte.
„Man stellt die Katze auf ein Regal und lässt sie verstauben?“, hakte er zur Sicherheit nach.
„Nein, Herr Bender.“ Hellthal warf Bender einen verächtlichen Blick zu. „Es ist ein hochwertiges Produkt. Wir leben in einer Zeit, in der Menschen das Bedürfnis haben, die Welt kennen zu lernen, weiße Flecken auf Landkarten zu erschließen und Pionierleistungen zu erbringen!“
Manche Menschen haben das Bedürfnis, die Miete bezahlen und ihre Kinder ernähren zu können. Bender verzichtete jedoch darauf, den Gedanken auszusprechen, da mit dem Verständnis Hellthals nicht zu rechnen war und zynische Kommentare zu Benders Wohngegend niemandem etwas bringen würden.
„Die Uhren zeigen nicht nur an, wie spät es jetzt bei uns ist. Man erkennt gleichzeitig, wie spät es in Amerika, Indien oder Afrika ist. Für welche Länder oder Städte man sich entscheidet, bleibt jedem Katzenbesitzer selbst überlassen. Es erinnert an ferne Kontinente und ist das Richtige für den Mann von Welt!“
„Welch Glück, eine Uhr sein Eigen nennen zu dürfen, die einem die tägliche Mühe des Stundenzählens abnimmt, was die wohl größte Sorge eines jeden Menschen sein dürfte!“
Hellthal verzog das Gesicht zu etwas, das wohl ein Lächeln werden sollte. „Sie mögen es verstehen oder nicht – nehmen Sie den Auftrag an? Wie ich bereits sagte, ist er für Sie lukrativ.“
Wie nebenbei nannte Hellthal eine Summe, die Bender für einen Augenblick die Sprache verschlug, war sie doch um ein Mehrfaches höher als sein übliches Honorar. Aber auch wenn der in Aussicht gestellte Lohn reizvoll war, kein weiterer Auftrag in Sicht war und Bender das Geld gut gebrauchen konnte, um für Miete und Lebensunterhalt aufzukommen, stand der finanzielle Anreiz nur an zweiter Stelle. An die erste hatte sich von Beginn an seine Neugierde platziert. Hellthal spielte nicht mit offenen Karten, und Bender spürte ihn – den Drang, die Wahrheit herausfinden zu wollen.
„Ja, ich nehme ihn an. Haben Sie einen Verdacht, wer die Katzen gestohlen haben könnte? Ich rechne nicht damit, dass es einem Tagelöhner oder Taschendieb gelungen wäre, bei Ihnen einzubrechen oder Ihren Detektiv zu bestechen. Es muss jemand sein, der sowohl über die Katzen als auch Ihre Sicherheitsvorkehrungen informiert ist.“
„Sehr wohl. Ein Mann zeigte bereits Interesse an der Katze. Dennoch war er nicht bereit, für diese zu bezahlen. Zu teuer, erklärte er großspurig. Ihm traue ich einen Diebstahl zu. Es handelt sich um Frederick Martin.“
Frederick Martin, ein ebenfalls einflussreicher Mann, bekannt für seine Brauerei und zahlreichen Wirtshäuser? Es gab so gut wie niemanden, der nicht sein Bier trank, und selbst Kinder kamen kaum an ihm vorbei, da er wie nebenbei auch diverse Säfte auf den Markt brachte. Selbst wenn er die Katze gestohlen hatte: Wie sollte es Bender gelingen, sie ausfindig zu machen?
„Ich beauftragte doch nicht etwa den falschen Mann?“, fragte Hellthal wie beiläufig.
„Nein, Sie haben den richtigen“, erwiderte Bender. Finden würde er die Katzen. Über den Weg dorthin musste er sich allerdings noch Gedanken machen.