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Sexing the Difference II: Ja heißt nein!

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Bei der Lektüre dieser ganzen psychoanalytischen Texte, in denen die Vorstellung von Sexualität nie einfach für Sexualität steht, sondern stets für etwas weitaus Dunkleres, Tieferliegendes, kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass auch Vergewaltigung und Masochismus Stellvertreter für ganz andere Auseinandersetzungen waren und dass sich sexuelle Macht und Ohnmacht völlig banal auf reale Macht und Ohnmacht bezogen.

Tatsächlich schreiben Freud und Deutsch und Ellis nicht über Masochismus als sexuelle Phantasie, sondern als (neurotische) Charaktereigenschaft. Damit sind diese Texte streng genommen gar keine sexualpsychologischen Schriften, sondern Psychogramme ihrer Gesellschaft anhand von sexuellen Symptomen. Und so wurden sie auch gelesen. Außer einem kleinen Fachpublikum interessierte sich niemand ernsthaft für die Probleme des »Rattenmannes« oder der »Anna O.«, aber alle wollten wissen, was Männer und Frauen wirklich dachten und fühlten. Freud und Ellis informierten die gebannte Öffentlichkeit – nicht überraschend, aber doch überraschend unverblümt –, dass der Sexualtrieb nicht nur in seiner männlichen Ausprägung aktiv wäre und in seiner weiblichen passiv, sondern dass Dominieren Männlichkeit und Dominiertwerden Weiblichkeit definiere.

Der Einfluss dieser Definition erklärt, warum Masochismus noch heute ein solches Reizthema ist, dass der Erfolg eines Softporno-Bestsellers wie 50 Shades of Grey ausreichte, um eine Debatte darüber auszulösen, warum sich Frauen in der Tiefe ihrer Psyche danach sehnten, von Männern dominiert zu werden – so, als würden Menschen ihre sexuellen Praktiken eins zu eins auf andere Interaktionen, auf berufliche Ambitionen und vor allem die Politik übertragen. Newsweek widmete dem männlichen Dom und der weiblichen Sub des Romans eine Coverstory und fragte: »Warum ist der freie Wille eine solche Last für Frauen?«62

Worauf die britische Autorin und Aktivistin Laurie Penny antwortete: »Zu den Dingen, die Jean-Jacques Rousseau wirklich zu schätzen wusste, zählten neben der Freiheitsphilosophie auch junge Damen, die ihm bis zur Ekstase den Hintern versohlten. […] Nie gab es jedoch auch nur den kleinsten Hinweis darauf, dass Männer, die sich sexuell gern von Frauen dominieren lassen, auch sozial und wirtschaftlich von ihnen dominiert werden wollen. […] Dass Kink – besonders der Sadomasochismus – dermaßen salonfähig geworden ist, soll den Frauen aber angeblich beweisen, dass es mit unserem Emanzipationskram eben doch nicht so weit her ist, wie wir es vielleicht glauben.«63 Auch die geschlechtsspezifische Vorstellung der sexuellen Präferenzen – Männer hauptsächlich dominant versus Frauen hauptsächlich submissiv – hat mehr mit Deutsch/Freud/Ellis zu tun als mit gelebten Realitäten. 2015 belegte eine Studie an der Universität Merseburg, dass sich Männer und Frauen in Bezug auf ihre sexuellen Vorlieben statistisch schlicht nicht voneinander unterscheiden.64

Die aufgebrachten Artikel und Kommentare über die weitgehend harmlose Cinderella-Geschichte mit – nicht einmal wirklich masochistischen – Sexszenen lassen das Ausmaß des Schadens, den der psychoanalytische Masochismus-Diskurs angerichtet hat, erahnen. Besonders problematisch war, dass Freud in der Psychopathologie des Alltagslebens die berüchtigte Behauptung aufgestellt hatte, Frauen fänden es schwierig, sich gegen eine Vergewaltigung zu wehren, weil ein Teil von ihnen diese herbeisehne. Er illustrierte das nicht etwa mit einem Fall aus seiner Praxis, sondern mit einem Ausschnitt aus einem literarischen Werk: Don Quijote von Miguel de Cervantes.

Darin kommt eine Frau zu dem Richter Sancho Panza und zeigt eine Vergewaltigung an. Panza nimmt dem Angeklagten seine volle Geldbörse weg und gibt sie der Frau als Entschädigung. Sobald diese gegangen ist, schickt er ihr den Mann jedoch hinterher mit dem Auftrag, die Börse zurückzustehlen. Nach einer Weile kommen die beiden kämpfend und fluchend zurück zum Gerichtshaus. Woraufhin Sancho Panza zu der Frau sagt: Hättest du nur die Hälfte der Kraft, die du aufgewandt hast, um deine Geldbörse zu behalten, eingesetzt, um deine Keuschheit zu schützen, so wärst du nicht vergewaltigt worden.

Damit nicht genug, legte Freud nahe, »dass unter dem sittsamen Benehmen noch immer das Feuer der Begierde in der weiblichen Brust kochte und ihr eine überaktive sexuelle Fantasie verlieh, die mitunter zu falschen Anschuldigungen von Vergewaltigung führte«65. Aufbauend auf Freuds Ätiologie der Hysterie arbeitete der einflussreiche US-amerikanische Neurologe Bernard Sachs die Verbindung zwischen Hysterie und falschen Vergewaltigungsvorwürfen heraus. Nach ihm neigten »hysterische Frauen zu solchen Anschuldigungen, wenn sie sich in einem Zustand großer Erregung befanden, wie etwa während der Menstruation«. Umgekehrt war für Ärzte zu Beginn des 20. Jahrhunderts »die Neigung zu Anschuldigungen von unanständigem sexuellen Verhalten ein Nachweis für Hysterie bei einer Frau«.66 Deshalb entschied in den 1930er Jahren ein US-amerikanisches Komitee unter Vorsitz des Rechtsexperten John Henry Wigmore, dass Richter sich vor Hysterikerinnen und pathologischen Lügnerinnen in Acht nehmen und alle Frauen, die eine Vergewaltigung anzeigten, zuerst von einem Psychiater auf Freudianische Komplexe untersucht werden sollten.67

Auch wenn sie nicht logen, rückten die Opfer ab den 1940er Jahren mit dem neu begründeten Feld der Viktimologie endgültig in den Fokus der Forschung. »So es Kriminelle gibt, ist es offensichtlich, dass es (ebenfalls) geborene Opfer geben muss, autoaggressiv und selbstzerstörerisch«68, erklärte Hans von Hentig in dem Grundlagenwerk der Viktimologie The Criminal and His Victim. Vergewaltigung wurde in der Fachliteratur zu einem durch das Opfer verursachten Verbrechen (»victim-precipitated«). Der Psychoanalytiker (und ehemalige Leiter der Forschungsgruppe, die die Insassen des Sing Sing Gefängnisses in New York untersucht hatte) David Abrahamsen stellte in seiner einflussreichen Studie The Psychology of Crime fest: »Das Opfer kann ebenfalls unbewusst selbst ihren Angreifer zu der Tat verleiten. Die bewusste oder unbewusste physische und psychische Attraktion zwischen Mann und Frau besteht nicht nur auf der Seite des Täters, der sich zu der Frau hingezogen fühlt, auch sie fühlt sich zu ihm hingezogen, was in vielen Fällen zu einem gewissen Maß der Auslöser für den sexuellen Übergriff sein kann. Häufig wünscht sich eine Frau unbewusst, mit Gewalt genommen zu werden.«69

Diese nahezu telekinetische Energie, mit der Frauen Männer zu Kriminellen machten, ist umso verblüffender, als es ihnen gleichzeitig an eigener krimineller Energie mangeln sollte.70 So sich die frühen Kriminologen überhaupt mit der Frage des Geschlechts befassten, dann, um zu erklären, warum Frauen keine bemerkenswerten Verbrechen begingen. Cesare Lombroso, der Vater der Kriminologie, ging davon aus: »Wegen ihrer geringeren kortikalen Erregbarkeit haben Frauen allerdings auch weniger das Bedürfnis [nach dem Laster], das beim Manne immer stärker wird, je mehr seine Intelligenz wächst, und außerdem bildet der weibliche Misoneismus, der Respekt vor den einmal herrschenden Sitten, einen Zügel.«71

Besonders schwer war es, sich Frauen als Täterinnen vorzustellen, wenn es um Sexualverbrechen ging72 – mit Ausnahme der Prostitution. Willem Adriaan Bonger, der kurz darauf der erste Professor für Soziologie und Kriminologie in den Niederlanden werden sollte, schrieb 1916: »… die Rolle der Frau im Sexualleben (und damit auch bei Sexualverbrechen) ist eher passiv als aktiv.«73 Darüber hinaus ging man sowieso davon aus, dass Frauen gar nicht vergewaltigen mussten, weil sie jederzeit Sexualpartner finden konnten, da Männer in dieser Hinsicht nicht wählerisch seien. »Während ein Übermaß an Leidenschaft beim Mann, wenn er nicht in die angemessene Bahn geleitet wird, zu sexuellen Übergriffen und Perversionen führt«, brachte es die Sozialreformerin Frances Alice Kellor auf den Punkt, »kulminiert dieselbe bei Frauen am häufigsten in Geisteskrankheit oder physischem Siechtum.«74

Wo Männer vergewaltigen, werden Frauen halt verrückt.

Diedrich Diederichsen prägte den Satz: »Wahres Spießertum erkennt man an der Verve, mit der es auf längst überkommene Tabus eindrischt.«75 Nun ist es natürlich einfach, sich über veraltete Geschlechtervorstellungen lustig zu machen. Doch wenn wir über Vergewaltigung sprechen, hallen dabei stets die Echos vergangener Diskurse mit. Ein großer Teil unseres »Wissens über Vergewaltigung« basiert auf Menschenbildern, die uns heute an den Haaren herbeigezogen erscheinen würden, wenn sie uns denn bewusst wären. Da das aber nicht der Fall ist, haben die daraus resultierenden Haltungen eine weitaus durchdringendere Wirkung und Nachwirkung, als sie hätten, wenn wir um ihre Genese wüssten. »Geschichten prägen uns, auch die miesen und sogar die, die absichtlich simplifizieren und unsere Alltagserfahrungen ausblenden. Über Geschichten organisieren wir unser Leben […] und diese Geschichten formen dann unsere Sehnsüchte und unsere Identität.«76 Das beginnt mit der Sprache. Sex wird als etwas beschrieben, das Männer Frauen geben – oder ihnen antun. Worte wie Koitus, Penetration – und ficken – drehen sich um den Penis und vermitteln, was er und seine Substitute – wie Dildos oder Finger – machen, so als würden sich die Körperöffnungen, die penetriert werden, nicht an dem Geschehen beteiligen. Nun gibt es selbstverständlich zahllose andere sexuelle Handlungen, die auch eine größere sprachliche Aufmerksamkeit verdienen. Doch ist Penetration die offensichtlichste linguistische Scheuklappe. Deswegen schlägt die Autorin Bini Adamczak als Gegenbegriff Circlusion77 vor, eingedeutscht Zirklusion, altmodisch auch Circumclusion: »Beide Worte bezeichnen etwa denselben materiellen Prozess. Aber aus entgegengesetzter Perspektive. Penetration bedeutet einführen oder reinstecken. Circlusion: umschließen oder überstülpen. That’s it. Damit ist aber auch das Verhältnis von Aktivität und Passivität verkehrt.« Dieser Neologismus sollte sich ohne größere Probleme einführen lassen, führt Adamczak aus: »Circlusion ist ohnehin bereits häufiger in der Alltagserfahrung. Denken wir an das Netz, das Fische fängt, den Gaumen, der die Nahrung umschließt, den Nussknacker, der Nüsse zermalmt. […] Circlusion ermöglicht so, eine Erfahrung auszusprechen, die wir schon lange machen.«78 Und damit nicht nur die Sprache, sondern auch das Denken zu verändern.

Mit einem Konzept wie Circlusion als einer der treibenden Kräfte hinter Sexualität würden sich Klassiker wie Donald Symons The Evolution of Human Sexuality – das Thornhill und Palmer als Inspirationsquelle für ihre Natural History of Rape anführen – merkwürdig anhören: »Auf der ganzen Welt sind es vordringlich die Männer, die um die Gunst der Frauen werben, sie umgarnen, anmachen und verführen … Männer machen Frauen Geschenke, um mit ihnen schlafen zu können, und nehmen die Dienste von Prostituierten in Anspruch.« Vergewaltigung erklärt er als Nebenprodukt »der größeren männlichen Erregung, des größeren autonomen Sexdrives, geringerer Fähigkeit sich sexueller Aktivitäten zu enthalten, viel größerer Lust auf Sexualität per se und größerer Bereitschaft zu Sex ohne Liebe, und nicht wählerisch in Bezug auf ihre Sexualpartner zu sein«79. Mit einem Wort, als Nebenprodukt der Penetration. Kein Wunder also, dass es bis 1997 eines Penis bedurfte, um laut Strafgesetzbuch zu vergewaltigen.

Ohne den Hinweis auf Vergewaltigung läge das allerdings noch immer im Mainstream der populären Meinungen. Wenn man die Stichworte Männer und Frauen und Sex in eine Aphorismen-Suchmaschine eingibt, erhält man geflügelte Worte wie: »Männer reden mit Frauen, um mit ihnen schlafen zu können. Frauen schlafen mit Männern, um mit ihnen reden zu können.« (Jay McInerney) Bestseller wie Das weibliche Gehirn behaupten, dass Frauen pro Tag 13.000 Worte mehr als Männer benutzen müssten, während Männer nur eines wollten. Was, ist ja klar. Die Autorin Louann Brizindine führt weder aus, wie sie auf die doch recht konkrete Zahl von 13.000 kommt, noch was mit Frauen passiert, die ihr Pensum nicht erfüllen. Wahrscheinlich explodieren sie und fallen damit aus der Statistik. Das ist sozusagen das Dampfkesselmodell in Bezug auf Sprache.

2010 machte der britische Schriftsteller und Schauspieler Stephen Fry – der in England als Nationalerbe gilt, so wie die Kronjuwelen und Stonehenge – Schlagzeilen, als er in einem Interview mit dem Magazin Attitude erklärte: »Frauen interessieren sich nicht wirklich für Sex. Das ist nur der Preis, den sie für eine Beziehung bezahlen.«80

Zwar hatte er das so nie gesagt, trotzdem wurde die Debatte begeistert von allen Medien aufgegriffen. »Die Wissenschaft von Frauen und Sex: Hat Stephen Fry doch Recht?«, titelte der Independent und griff für seinen Artikel wieder auf Darwin zurück, um anhand der Evolutionstheorie zu erklären, warum Männer ständig wollen und Frauen ständig nicht wollen: »Männer liegen, was ihre Neigung zu Promiskuität angeht, zwischen Gorillas und Schimpansen. Wir können das an der relativen Größe der Hoden erkennen: Erst Gorillas (ein wenig sexuell freizügig, kleine Hoden), dann Männer und schließlich Schimpansen (sehr freizügig, sehr große Hoden).«81 Und an der Nase eines Mannes erkennt man seinen Johannes?

Laut Populär-Primatologie seien schon Affenweibchen schüchtern und sexuell zurückhaltend. Bloß lässt sich das nicht belegen, ganz im Gegenteil. So nennt die Anthropologin Meredith Small eine ganze Reihe von Affenarten, bei denen das Weibchen auf das Männchen zugeht, ihre Genitalien in sein Gesicht drückt und auf unzählige weitere Arten Sex initiiert.82 Pavianweibchen bespringen offensichtlich mit größtem Vergnügen ein Männchen nach dem anderen. Und weibliche Bonobos sind nicht nur während ihres gesamten Zyklus sexuell aktiv, sie sind auch diejenigen, die die männlichen Bonobos anführen – was den Ethnologen Frans B. M. de Waal zu der Spekulation über die Evolutionstheorie anregte: »Was wäre gewesen, wenn die Forschung mit den Bonobos begonnen hätte? Wir würden heute aller Wahrscheinlichkeit nach davon ausgehen, dass frühe Hominide in frauenzentrierten Gesellschaften gelebt haben, in denen Sex wichtige soziale Funktionen erfüllte.«83

Trotzdem ist die Tatsache, dass Frauen nicht primär durch Schokolade und Liebeserklärungen und Babys sexuell erregt werden,84 wohl so überraschend, dass sie immer wieder mit wissenschaftlichen Experimenten bewiesen werden muss. Bis vor kurzem wurden Daten mit dem bewährten Mittel des Fragebogens erhoben. Proband*innen bekamen Bilder oder Filme zu sehen und kreuzten an, was sie ansprach. Wenig überraschend kam dabei genau das heraus, was erwartet wurde: Männer reagierten mehr oder minder stark auf visuelle Reize wie Brüste oder andere Geschlechtsteile, während Frauen nicht durch sexuelle Stimuli erregt wurden, sondern durch emotionale. Bei anonymen Befragungen fielen die Ergebnisse etwas anders aus, aber grundsätzlich schienen Menschen, wenn es um Sex ging, in erster Linie eines zu tun: zu lügen.

Oder sich selbst anzulügen. Oder nicht mitzubekommen, wie ihre Körper reagierten. Deshalb maß J. Michael Bailey, Professor für Psychologie an der Northwestern University in Illinois, 2002 in einer groß angelegten Studie die Reaktionen auf Bilder mit sexuellem Inhalt direkt an den Genitalien.85 In der Gruppe der männlichen Testpersonen wurden heterosexuelle Männer laut Selbstauskunft am meisten durch Pornos mit heterosexuellem Sex erregt, gefolgt von lesbischem und schließlich schwulem Sex. Bei homosexuellen Männern war es umgekehrt. Auch in der Gruppe der weiblichen Testpersonen stuften lesbische Frauen laut Selbstauskunft lesbische Pornos als am stimulierendsten ein, danach heterosexuelle und an letzter Stelle schwule (und heterosexuelle Frauen anders herum) – bloß dass ihre Genitalien eine komplett andere Geschichte erzählten: Durchblutung und Feuchtigkeit war bei jeder Form von homosexuellem Sex am intensivsten, während heterosexuelle Akte zwar niedrigere Werte erzielten, doch sogar kopulierende Bonobos bekamen eine Reaktion.

Die Studie krankte an allem Möglichen: dass sie nur in den Kategorien Männer/Frauen sowie heterosexuell/homosexuell konzipiert war und dass Sex ausschließlich in den Genitalien verortet wurde. Was sie jedoch eindeutig widerlegte, war der Sex-Mythos: »Dass Männer, wenn es um Sex geht, eher auf visuelle Reize reagieren als Frauen, und sowieso immer Sex haben wollen.«86

Doch sobald es um Frauen und Erregung geht, ist das Überraschendste an den bahnbrechenden neuen Erkenntnissen, dass diese bereits als bahnbrechend betrachtet werden.

Damit nicht genug, muss das Gegensatzpaar Männer-visuell/Frauen-emotional wieder und wieder widerlegt werden. Heather Rupp vom Kinsey Institute maß zusammen mit Kim Wallen, Professor für Psychologie und Neuroendokrinologie an der Emory University, die Zeit, die Proband*innen erotische Bilder ansahen, ohne den Blick abzuwenden.87 Selbst im Hundertstelsekundenbereich gab es keine Unterschiede zwischen männlichen und weiblichen Testpersonen. Darauf zeigten sie ihnen Bilder von Sonnenuntergängen, um herauszufinden, ob sie beim Betrachten von Sex größere Hirnaktivität aufwiesen. Selbstverständlich. Spannend wurde es allerdings bei der Auswertung, welche Teile der Bilder sich Wallens und Rupps Proband*innen anschauten. Eye Movement Tracking enthüllte, dass Männer mehr Zeit mit Gesichtern verbrachten, Frauen, die keine hormonelle Empfängnisverhütung benutzten, bevorzugten dagegen Genitalien und Frauen mit hormoneller Empfängnisverhütung die Kleidung der abgebildeten Personen und den Hintergrund. So viel zu der These, dass Männer immer zuerst auf die Titten schauen.

Auch ist aktives weibliches Begehren ja keineswegs eine Erfindung der sexuellen Revolution oder der feministischen Revolution oder der sexuellen feministischen Revolution, sondern seit Jahrhunderten der sprichwörtliche weiße Elefant im Raum. Als Rom 2011 das Archiv der Apostolischen Pönitentiarie für Wissenschaftler*innen öffnete, fanden diese darin Tausende von Briefen aus dem 15. Jahrhundert, in denen Frauen vor dem obersten Gerichtshof der katholischen Kirche ihre sexuelle Befriedigung einklagten.88

Deshalb ist es so bezeichnend, dass Laurie Penny, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, in ihren Texten gerade Unsagbare Dinge – so der Titel eines ihrer Bücher – auszusprechen, reflektiert: »Als ich Unsagbare Dinge schrieb, wollte ich ursprünglich über meine (positiven) sexuellen Erfahrungen schreiben. Aber am Ende entschied ich mich dagegen, weil mich Journalist*innen sonst nur danach gefragt hätten. Und das bedauere ich inzwischen. Mir ist aufgefallen, dass ich es in meinen politischen Texten leichter fand, darüber zu schreiben, dass ich vergewaltigt worden bin, als über all den Sex, den ich selbst wollte.«89

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