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Der dunkle Doppelgänger der Geschlechterverhältnisse

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Es ist auffällig, dass über sexuelle Gewalt häufig nicht als spezifisches Verbrechen gesprochen wird, sondern als eine Art Risiko der conditio humana – solange diese Menschen Frauen sind. »Obwohl ich selbst kein Opfer von Vergewaltigung bin, hat die Gefahr der Vergewaltigung einen tiefgreifenden Einfluss auf die Struktur und Qualität meines Lebens«, beschreibt die Philosophieprofessorin Ann Cahill, wie Vergewaltigung bis in die geborgensten Bereiche ihres Alltags dringt. »Wegen der Möglichkeit von sexueller Gewalt lud ich einen neuen, männlichen Freund – später einer meiner besten Freunde – nach unserem ersten oder zweiten Treffen nicht ein, noch einen Kaffee in meinem Zimmer zu trinken. Ich war vergewaltigbar, also war ich vorsichtig.«6

Das Gefühl, mit einer – mal mehr, mal weniger, aber stets anwesenden – Bedrohung zu leben, ist keineswegs der zweiten Welle der Frauenbewegung vorbehalten. Auch jüngere Feminist*innen wie Hengameh Yaghoobifarah vom Missy Magazine schildern die Vorahnung von sexualisierter Gewalt nicht als Ausnahme, sondern als Alltag: »Laute Typengruppen bedeuten einen Straßenseitenwechsel, das bereite Handy für die Notruf-Schnellwahl, zwischen den Fingern zu einem Schlagring aufgestellte Schlüssel und viel Herzrasen […] all diese Maßnahmen sind zur Routine geworden. Denn Frau zu sein bedeutet leider, in ständiger Angst vor Gewalt leben zu müssen.«7

Nach wie vor gehört die Warnung vor Vergewaltigung zu den Initiationen in die Geschlechterverhältnisse. Zuweilen noch vor jeglicher Form von sexueller Aufklärung erfahren Mädchen, dass sie aufpassen müssen – in der Regel ohne nähere Informationen, wie sich das gestalten soll. Jungen wachsen mit ebenso verwirrenden Botschaften auf, so sollen sie auf Mädchen besondere Rücksicht nehmen und vorsichtig mit ihnen umgehen, gleichzeitig gelten aber genau diese Eigenschaften als »unmännlich«: die Philosophin Susan Bordo nennt das den »Double Bind der Männlichkeit«8.

Im Vergewaltigungsskript gibt es nur zwei Geschlechter: Täter und Opfer. Wer Vergewaltigung sagt, denkt an aggressive Männer und ängstliche Frauen, an Penisse als Waffen und Vaginas als ungeschützte Einfallstore in ebenso ungeschützte Körper; oder weniger martialisch: an Männer, die meinen, »ein Recht« auf Frauenkörper zu haben. Um die Rechte dieser Frauenkörper zu verteidigen, prägte die Frauenbewegung in den 1970er Jahren die Parole »Nein heißt nein!«, die noch heute die Anti-Vergewaltigungs-Politik maßgeblich bestimmt. Diese Parole hat, wie im nächsten Kapitel ausgeführt wird, eine Geschichte und eine Funktion, doch bricht sie nicht mit den Vorstellungen, auf denen der Vergewaltigungsdiskurs basiert, nämlich: dass Männer sexuell aktiv bis überaktiv sind, während sich die Aktivität der Frauen auf Nein-Sagen beschränkt, dass männliche Sexualität monströs und gefährlich ist, gegenüber der »guten« weiblichen Sexualität und so weiter.

Auch ich habe »Nein heißt nein!« auf zahllosen Demonstrationen, auf zahllosen Transparenten durch die Gegend getragen und mir mit Kajal auf den Bauch geschrieben (zusammen mit »Mein Körper gehört mir« und »Mein Bauch gehört mir«). Um die Welt von Vergewaltigung zu befreien, schien es ein kleiner Preis, dass sich unser Stil an diesem Punkt nur unwesentlich von der Rhetorik derjenigen unterschied, gegen die wir doch eigentlich kämpften. »Welchen Teil von Nein verstehst du nicht?« war wenigstens witzig, und es enthielt noch einen Hauch von Austausch. Doch »Nein heißt nein« war das Äquivalent zu »Noch ein Wort, und du gehst ohne Abendbrot ins Bett«.

Vor dem Hintergrund der Tatsache, dass sexuelle Gewalt einen so gewaltigen Einfluss darauf hat, wie wir uns in der Welt verorten und anderen Menschen gegenübertreten, ist die Sprache, die wir dafür finden, jedoch keineswegs ein Nebenwiderspruch, wie mir heute klar ist. Und die Kommunikation in diesem Kontext wird mitnichten nur von Feministinnen mit paternalistischer Autorität geprägt, so scheint es manchmal, als gäbe es genau genommen gar keine Kommunikation zwischen zwei Seiten, die in so überzogener Form den gängigen Geschlechterstereotypen entsprechen, dass es schwerfällt, sie als Mitglieder derselben Spezies zu erkennen. Der Vergewaltigungsdiskurs ist eine der letzten Bastionen und Brutzellen für Geschlechterzuschreibungen, die wir ansonsten kaum wagen würden zu denken, geschweige denn auszusprechen – und zwar durch alle politischen Lager und Gesellschaftsschichten hindurch. Sobald wir das V-Wort in den Mund nehmen, laufen die Uhren rückwärts, und es ist für immer 1955. Die Propaganda im Kalten Krieg der Geschlechter besagt, dass weibliche Sexualität ein bedrohtes Gebiet ist, das geschützt und verteidigt werden muss – anstatt erforscht und genossen. Etwas weiter unter dem Radar, aber nicht weniger folgenreich, sind die Botschaften über männliche Sexualität, die als zerstörerische Macht erscheint, die kontrolliert und beherrscht werden muss – anstatt erforscht und genossen. Die Publizistin Katie Roiphe nennt dies das »Vampirmodell männlicher Sexualität«9.

Dass diese Diskurse keineswegs mit dem letzten Jahrtausend beendet wurden, bewiesen die Biologen Randy Thornhill und Craig T. Palmer, als sie 2000 versuchten, Vergewaltigung evolutionsbiologisch zu erklären. Ihr Buch A Natural History of Rape basiert auf der Grundthese, dass Männer genetisch darauf programmiert seien zu vergewaltigen, um ihre evolutionären Chancen zu verbessern, indem sie ansonsten unerreichbare Frauen schwängern.10 Anthropolog*innen, Psycholog*innen und Soziolog*innen aus aller Welt wiesen darauf hin, dass keineswegs nur Frauen im gebärfähigen Alter vergewaltigt würden, dass die Wahrscheinlichkeit, durch eine Vergewaltigung schwanger zu werden, prozentual deutlich unter der von einvernehmlichem Geschlechtsverkehr liege,11 von diesen Schwangerschaften ein guter Teil nicht ausgetragen werde und dass die evolutionären Vorteile, unter solch belasteten Umständen zur Welt zu kommen, sowieso fraglich seien. Vor allem aber müssen Sexualstraftäter verblüfft gewesen sein, als sie den Grund für ihre Verbrechen erfuhren.

»Die meisten männlichen Verbrecher geben reproduktiven Erfolg nicht als Motivation für ihre Verbrechen an. Das liegt daran, dass psychologische Mechanismen normalerweise im Bereich des Unbewussten wirksam sind«, verteidigten Satoshi Kanazawa von der Indiana University of Pennsylvania und Mary C. Still von der Cornell University die Fortpflanzungdurch-Vergewaltigung-These. »Etwas treibt sie dazu. Unser Schluss ist, dass dieses Etwas der entwicklungspsychologische Mechanismus ist, der alle Männer dazu treibt, nach reproduktivem Erfolg zu streben. Den Männern ist diese evolutionäre Logik überhaupt nicht bewusst.«12 Das hört sich so unheimlich an wie das Klischee von dem Vergewaltiger, der seinem Opfer zuraunt: »Ich weiß, dass du es in Wirklichkeit auch willst«, nur dass es in diesem Fall die Wissenschaft ist, die weiß, was der Vergewaltiger will.

Thornhill und Palmer verstanden die Aufregung nicht, die ihr Buch ausgelöst hatte. »Alle Leute verstehen Sex doch als etwas, das Frauen haben und Männer wollen«13, rechtfertigten sie sich und schlugen ein Anti-Vergewaltigungs-Programm für Schulen vor, in dem junge Männer eindringlich darin trainiert würden, ihren »evolutionsbasierten« Drang zu sexuellen Übergriffen unter ständiger Kontrolle zu halten. Nach dem Motto: Wenn man weiß, wie gefährlich etwas – also man selbst – ist, reißt man sich besonders zusammen.

»›Zusammenreißen‹? Ist es so schlimm?«14, fragte der Soziologe Michael Kimmel zynisch. »Wie wäre es stattdessen mit ›ausdrücken‹ – ihren ebenso evolutionsbasierten biologischen Drive: Genuss, Gegenseitigkeit und Freude zu empfinden, auszudrücken? Der ja vielleicht genauso in unsere DNA eingeschrieben ist? Erziehung dazu, sich zusammenzureißen, ist wahrscheinlich die (zweit)größte politische Pleite, die es gibt, und noch dazu völlig ineffektiv.«15

Abgesehen davon, dass eine Botschaft wie »Vergewaltigung liegt in deinen Genen« ein vernichtendes Urteil für Jugendliche bedeutet, ist es auch unmöglich, ein gesundes Verhältnis zu der eigenen Sexualität aufzubauen, wenn man gleichzeitig die ganze Zeit dagegen ankämpfen soll wie ein trockener Alkoholiker gegen sein Verlangen nach Spirituosen. Konsequent zu Ende gedacht, wäre der einzige sichere Ort für eine solche Sexualität hinter Schloss und Riegel. Es muss menschenfreundlichere Theorien und entsprechend auch menschenfreundlichere Lösungen für das Vergewaltigungsenigma geben.

Derweil schlägt Michael Kimmel spielerische Intervention vor, wie den »Spritzschutz«, den ein Kollege von ihm für die »Rape Awareness«-Woche seiner Universität produzieren ließ: »(Für diejenigen, die nicht wissen, was ein Spritzschutz ist: Es handelt sich dabei um die Plastikgitter, die in Männertoiletten in die Pissoirs gestellt werden, um Spritzen zu vermeiden.) Mein Kollege ließ Tausende mit dem einfachen und hoffnungsvollen Slogan herstellen: Das Mittel, Vergewaltigung zu stoppen, liegt in deiner Hand.«16

Dieser Vorschlag ist deutlich sympathischer und berücksichtigt die menschliche Fähigkeit, sich zu ändern und eigene Entscheidungen zu treffen. Allerdings basiert auch er auf der Geschlechterdichotomie Täter = Männer und Opfer = Frauen.17 Doch ist das wirklich so einfach? Oder anders gefragt: Ist das wirklich so?

Laut der jährlichen polizeilichen Kriminalstatistik des Bundeskriminalamts haben Männer ein mehr als 150% höheres Risiko, Opfer von Gewaltverbrechen zu werden. (Es sei denn, sie sind nicht-weiß, dann steigt ihr Anteil noch einmal.)18 Und je brutaler das Verbrechen, desto eher ist das Opfer männlich. Frauen sind draußen nicht nur sicherer als drinnen, sondern auch sicherer als Männer. Warum warnen wir also nicht unsere Söhne davor, das Haus zu verlassen, weil die Welt dort draußen für zarte Geschöpfe wie sie zu gefährlich ist?

Die Antwort lautet: Weil rund 90% Prozent der Täter von Gewaltverbrechen ebenfalls männlich sind und rund 90% der Opfer von Vergewaltigungen weiblich (wie aussagekräftig diese Zahlen sind, wird noch genauer untersucht in dem Kapitel »The Second Sexism«).

Diese Antwort ist ebenso einleuchtend wie falsch. Sie erklärt weder, warum wir uns unverhältnismäßig weniger um unsere Söhne sorgen – schließlich ist Gewalt auch dann schrecklich, wenn es dabei nicht um Sex geht –, noch, warum bei Vergewaltigung andere Maßstäbe angesetzt werden als in nahezu jedem anderen Bereich. Wenn man sich etwa die Statistiken zu Mord anschaut, ist ein signifikanter Prozentsatz der Opfer männlich –, trotzdem würde niemand auf die Idee kommen, dass nur Männer ermordet würden.

Bei Vergewaltigungen ist der Umkehrschluss jedoch anscheinend die Regel. Bis vor nicht allzu langer Zeit war die Beschreibung eines Vergewaltigers in Deutschland: »Wer, mit Gewalt oder durch Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben, eine Frauensperson zur Duldung des außerehelichen Beischlafs nöthigt«. So der Wortlaut des §177 des Reichsstrafgesetzbuches19 von 1871, der bis auf das überflüssige ›th‹ in das deutsche Strafgesetzbuch übernommen wurde. De jure und in der allgemeinen Auffassung konnten demnach

– nur Frauen vergewaltigt werden und

– nur Männer Vergewaltiger sein,

– wenn es dabei zum Beischlaf kam, das bedeutete, zur Penetration,

– was aber nur außerhalb der Ehe als Problem angesehen wurde.

Die gefeierte Strafgesetzänderung von 1997 erkannte die Existenz der Vergewaltigung in der Ehe an, stellte nicht nur Penetration, sondern auch »ähnliche sexuelle Handlungen« unter Strafe und machte aus einer »Frauensperson« eine »Person«. Damit wurden zum ersten Mal auch Männer als Opfer von sexualisierter Gewalt denkbar. Wenn auch ziemlich schwer denkbar. In England wurde der Sexual Offences Act erst 2003 dahingehend geändert, so dass nun auch cis Männer und trans Personen vergewaltigt werden können. Südafrika folgte 2007, Schottland 2009, China 2015 …20 Dagegen bedarf es in der Schweiz nach wie vor eines Penis, um »eine Person weiblichen Geschlechts zur Duldung des Beischlafs«21 zu nötigen, sonst ist eine Vergewaltigung keine Vergewaltigung.22

Doch auch die vermeintlich geschlechtsneutrale Formulierung des Sexual Offences Act in England in Bezug auf die Opfer verlangt als Voraussetzung dafür, eine Person als Täter wahrzunehmen, noch immer einen Penis. Kein Penis = kein Vergewaltiger. Das ist nicht etwa ein anachronistisches Überbleibsel aus dem alten Gesetzestext, sondern das Ergebnis einer im Home Office geführten Debatte, nach der Vergewaltigung »so wie sie allgemein verstanden wird«23 nur durch die erzwungene Penetration mit einem Penis (sic!) gegeben sei. Zwar wurde zu den vergewaltigbaren Körperöffnungen – Vagina und Anus – nun noch der Mund gezählt, denn dies sei »ebenso schrecklich, erniedrigend und traumatisierend wie andere Formen der erzwungenen Penetration durch einen Penis«. Eine entsprechende sexuelle Grenzüberschreitung durch eine cis Frau ist dagegen anscheinend nicht »schrecklich, erniedrigend« oder »traumatisierend« genug – vor allem, wenn das Opfer ein Mann ist. »Die Straftat der Penetration durch einen Penis ist ein besonders intimes Vergehen«, erklärte das Home Office, da es »das Risiko von Schwangerschaft und der Übertragung sexueller Krankheiten beinhaltet«24. Allerdings dürfte es schwierig sein, durch erzwungene Fellatio schwanger zu werden, und Geschlechtskrankheiten können genauso gut durch Frauen übertragen werden. Doch hält sich die Vorstellung, dass der weibliche Körper besonders verletzlich ist – genauer gesagt: besonders verletzlich durch sexuelle Handlungen –, aber umgekehrt selbst eine geringere Macht besitzt zu verletzen, hartnäckig. Nicht nur in der englischen Gesetzgebung. So ist in Deutschland zwar die öffentliche Entblößung des männlichen Körpers als Exhibitionismus strafbar, nicht aber die des weiblichen Körpers – und andere Körper kennt der Gesetzestext nicht.25

»Vergewaltigung ist eine ›essenziell umkämpfte Kategorie‹, durch und durch aufgeladen mit politischen Bedeutungen«26, konstatiert die Historikerin Joanna Bourke. All das bedeutet nicht, dass Männer die eigentlichen Opfer wären, sondern dass Vergewaltigung das gegenderteste Verbrechen überhaupt ist. Und damit nicht genug, auch das Verbrechen, das uns am meisten gendert. Denn die Art, wie wir über Vergewaltigung denken, steht in einem erschütternden Verhältnis zu der Art, wie wir über Sex denken, und damit sind in diesem Fall Sexualität und Geschlecht gleichermaßen gemeint.

Was verrät es uns aber über unsere Kultur, dass es uns so schwerfällt, über Vergewaltigung anders zu sprechen als über ein Verbrechen, das Männer Frauen antun, obwohl das nicht die ganze Geschichte ist? Nachdem Genitalien und Chromosomen und Hormone nicht mehr ausreichen, um Geschlecht eindeutig zu bestimmen, und eine Studie der Universität von Tel Aviv nun auch mit dem Mythos vom männlichen versus weiblichen Gehirn aufgeräumt hat (anscheinend haben wir alle menschliche Gehirne)27 – wäre es doch überaus verwunderlich, wenn sich jetzt herausstellte, dass der wahre Geschlechterunterschied in einer Disposition zu sexueller Gewalt begründet liegt.

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