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Ehre I: Das Schicksal, das schlimmer ist als der Tod
ОглавлениеAllerdings kam die Auffassung, dass Vergewaltigung deshalb ein besonderes Verbrechen sei, weil dabei die Seele oder die Essenz einer Frau angegriffen werde, nicht erst in den 1970er Jahren auf, sondern lässt sich so weit zurückverfolgen wie die entgegengesetzte Überzeugung, dass Frauen nur darauf warteten, überwältigt zu werden. Vergewaltigung ist wie kaum ein anderes Thema voller Paradoxien und Widersprüche. Doch lag dieser spezielle Widerspruch an der Vorstellung dessen, was eine »echte« Vergewaltigung konstituierte und wer als »vergewaltigbar« galt. Von dieser Kategorie waren nicht nur cis Männer und trans Menschen ausgeschlossen, sondern auch ein großer Teil der cis Frauen, wenn diese beispielsweise nicht weiß waren oder in anderer Form den Normen von Weiblichkeit nicht entsprachen. Tatsächlich machte der Raub jener Essenz sie erst zu einem »echten« Opfer, dem »echte« Rechte zustanden. Das bedeute allerdings auch, dass eine Frau ohne diese Essenz schlicht keine echte Frau war. Doch wie kam es überhaupt zu dem Axiom, dass die Sexualität einer Frau ihre Essenz sei? Schließlich ist die Selbstbestimmung über die eigene Sexualität eine wichtige Angelegenheit für alle Geschlechter – ebenso wie die Selbstbestimmung über den eigenen Geist, und über die Gesundheit, wie die Gewährleistung der Grundbedürfnisse und all der anderen Dinge, die das Leben lebenswert machen. Warum also wurde der Aspekt der Sexualität bei Frauen aus dem Ensemble der Menschenrechte herausgelöst und an eine so exponierte Stelle gestellt?
Um das zu verstehen, bedarf es des Konzepts der Ehre. Die abendländische Vorstellung von Ehre ist maßgeblich durch die klassische Antike geprägt, hauptsächlich durch Aristoteles’ Nikomachische Ethik. Bloß hat diese Schrift heute nur noch ein Bruchteil der Bevölkerung gelesen. Besser bekannt – wenn auch nicht unbedingt unter diesem Namen – sind dagegen zwei Geschichten, die deren Ideen versinnbildlichen: Die Schlacht bei den Thermopylen und die Vergewaltigung der tugendsamen Lucretia.
»Die Schlacht bei den Thermopylen ist eines der wichtigsten Ereignisse für den akademischen Diskurs über Scham«, erklärt Edith Hall, Professorin für Klassische Altertumswissenschaft. »Das liegt daran, dass sich die Spartaner in der Schlacht bei den Thermopylen – während der zweiten persischen Invasion von 480 vor unserer Zeitrechnung – freiwillig opferten. Doch der Grund für diese heroische Tat ist, dass sie zehn Jahre zuvor – 490 bei der Schlacht von Marathon – einfach nicht aufgetaucht sind und die Griechen allein kämpfen ließen.«157 Die Scham der Spartaner über diesen Ehrverlust war so groß, dass sie sich nicht etwa opferten, um die Schlacht zu gewinnen – diese war bereits verloren, und die legendären 300 Spartaner konnten nur den Rückzug des griechischen Heeres decken –, sondern weil dies die einzige Möglichkeit war, ihre Ehre zurückzugewinnen. Entsprechend wurden sie danach mit einem Denkmal geehrt, auf dem der berühmte Zweizeiler des Simonides von Keos gestanden haben soll: »Wanderer, kommst du nach Sparta, verkünde dorten, du habest uns hier liegen gesehen, wie das Gesetz es befahl.«158 So die Übersetzung Friedrich Schillers, der den Spartanern – nur für den Fall, dass die Inschrift nicht deutlich genug sein sollte – zwei Zeilen zuvor zurief: »Ehre ward euch.«159
Die Ehre des Mannes wurde also im öffentlichen Raum verhandelt, das heißt auf dem Schlachtfeld oder im Beruf. Entsprechend gab es »ehrliche« – also ehrbare – und »unehrliche« Berufe, was nichts mit ethischen Überlegungen zu tun hatte, sondern mit ihrer gesellschaftlichen Akzeptanz: Schmiede waren ehrbar, Kesselflicker nicht etc. Die Ehre der Frau dagegen wurde in ihrem Körper verortet, in ihrer Jungfräulichkeit oder ihrem Status als ehrbare Ehefrau oder Witwe. Aus diesem Grund hatte auch nur sie etwas, das sie durch eine Vergewaltigung verlieren konnte. Da ihr Platz in der Gesellschaft jedoch maßgeblich durch ihre Ehre bestimmt war, wurde dieser bei einer Vergewaltigung ebenfalls angegriffen, und damit nicht selten ihre Existenzgrundlage. Zwar wurden Männerkörper in Kriegen nicht minder ausgebeutet, ihre Ehre war allerdings erst dann in Gefahr, wenn sie sich diesem System verweigerten, indem sie beispielsweise desertierten, woraufhin sie ebenfalls – meistens durch Hinrichtung – aus der Gesellschaft ausgeschlossen wurden.
Entsprechend wurde der Kampf um Lucretias Ehre nicht auf dem Feld, sondern im Schlafzimmer ausgefochten. Der römische Geschichtsschreiber Livius berichtet in Ab urbe condita von der vorbildlichen Lucretia, die im 6. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung gelebt haben soll, als der despotische König Tarquinius Superbus über Rom herrschte. Lucretias Ehemann, der Prinz Collantius, wettete mit anderen Patriziern, dass seine Frau die Tugendhafteste sei. Und tatsächlich fanden die Adligen Lucretia als Einzige fleißig an ihrem Spinnrad, während ihre Schwägerinnen sich mit ihren Freundinnen vergnügten. Verärgert, die Wette verloren zu haben, schlich Sextus Tarquinius, der Neffe des tyrannischen Königs, sich daraufhin nachts zu Lucretia und versuchte, sie mit gezogenem Schwert zum Beischlaf zu zwingen. Doch sie weigerte sich mit den berühmten Worten, sie würde lieber sterben, als ihrem Mann untreu zu werden (also ihre Ehre zu verlieren). Da drohte er, nicht nur sie zu töten, sondern auch noch einen Sklaven, dessen nackten Körper neben sie zu legen, und ihrem Mann zu berichten, er habe die beiden auf frischer Tat ertappt (wodurch sie ebenfalls ihre Ehre verloren hätte). Weil sie keinen anderen Ausweg sah, gab Lucretia auf, und Sextus vergewaltigte sie.
Wobei weder das Wort »Vergewaltigung« noch die damit verbundenen Konzepte damals existierten. Stattdessen gab es im Lateinischen ein ganzes Cluster von Begriffen, um sexualisierte Gewalt zu beschreiben – wie stuprum, raptus, violentia, contaminatio etc., die ein ganzes Spektrum von Bedeutungen aufwiesen: »Schande, Befleckung, Verhöhnung […] Verletzung, Verderben, Unzucht, Zwang und Raub«, oder schlicht: »Geschlechtsverkehr«160 – so bezeichnet »stuprum« Schändung, Entehrung, Unzucht und Ehebruch.
Nach der Tat rief Lucretia ihren Vater und ihren Ehemann zu sich, berichtete, was Sextus getan hatte, und teilte ihnen den Entschluss mit, sterben zu wollen. Die beiden beschworen sie, sich nicht umzubringen. Doch sie sagte, sie wolle verhindern, dass sich in Zukunft untreue Ehefrauen auf sie berufen könnten, und nahm sich mit einem Dolch das Leben. An der Wahl der Argumente wird deutlich, dass es sich hier um ein Lehrstück handelt und nicht um ein historisch verbrieftes Geschehen. Wichtig war, dass Lucretia durch den erzwungenen Geschlechtsakt ihrer Ehre beraubt wurde und es auch für sie nur eine Möglichkeit gab, diese zurückzuerlangen, nämlich den geschändeten Körper hinter sich zu lassen. Und so galt Lucretias Freitod als heroische Tat, vergleichbar dem Heldentod der Spartaner.
Die berühmten Gemälde von Botticelli, Cranach, Dürer und Rembrandt zeigen entweder den Vergewaltiger mit einem Dolch an Lucretias Brust oder Lucretia, wie sie sich danach selbst einen Dolch ins Herz stößt. Händel besang sie. Shakespeare wurde durch sein episches Gedicht The Rape of Lucrece berühmt. Und der Wikipedia-Eintrag »Vergewaltigung«, ebenso wie der englische Wikipedia-Eintrag »rape«, illustriert das Thema mit dem Bild Die Vergewaltigung der Lucretia von Tizian.161 In Kunst und Literatur ist die Römerin so allgegenwärtig, dass sie zur Referenzfigur162 für Vergewaltigung geworden ist und zahlreiche Nachfolgerinnen in Romanen und Filmen fand. Am berüchtigtsten ist der Nazi-Propagandafilm Jud Süß, in dem die unschuldige Dorothea von dem Juden Joseph Süß Oppenheimer vergewaltigt wird und sich daraufhin ertränkt. »Vergewaltigung wird, auch wenn das Opfer dabei nicht umgebracht wird, als eine Form des symbolischen Todes gelesen«163, beschreibt Tanya Horek die gnadenlose Logik dieser Narrative.
Das ist jedoch keine unweigerliche Lehre aus der Geschichte, sondern eine äußerst selektive Lehre aus der Geschichte, denn in der klassischen Antike gibt es genug Gegenfiguren zur tugendhaften Lucretia. So berichtet Livius in Ab urbe condita ebenfalls von der keltischen Königin Chiomara, die im Jahr 189 vor unserer Zeitrechnung bei dem Raubzug des römischen Konsuls Gnaeus Manlius Vulso entführt und von einem seiner Zenturionen vergewaltigt worden war.164 Als der erkannte, dass er eine Königin in seiner Gewalt hatte, verlangte er, sie solle von ihrem Ehemann, Ortagion, dem Führer des Stammes der Tolistobogier, ein Lösegeld verlangen. Chiomara willigte ein, ein Sklave wurde zu den Tolistobogiern entsandt und ein geheimer Ort zur Übergabe ausgemacht, und während der Zenturio das Gold zählte, gab Chiomara ihren Leuten den Befehl, ihm die Kehle durchzuschneiden.165 Es überrascht wenig, dass Chiomara, obwohl sie im Gegensatz zu Lucretia den Vorteil hat, eine echte historische Person zu sein, nicht als Rollenmodell herhalten durfte.
Etwas besser erging es der ebenfalls keltischen Königin Boudicca (oder Boudica oder Boudicea), für die das – in diesem Fall an ihren Töchtern begangene – Verbrechen ebenfalls keinen Ehrverlust bedeutete, sondern Dial, das altwalisische (Antiquae Linguae Britannicae) Wort für Rache. Boudicca hatte das Glück, dass ihr Name dieselbe Bedeutung hatte wie der Königin Victorias – nämlich »die Siegreiche« – und diese dringend eine weibliche britische Königin als Identifikationsfigur brauchte, um ihre Herrschaft symbolisch zu rechtfertigen. Also entdeckten die Viktorianer die bereits vergessene Königin des Stammes der Iceni wieder, die in den Jahren 60/61 n. Chr. Colchester (Camulodunum), London (Londinium) und St. Albans (Verulamium) eroberte und die Römer beinahe dazu gebracht hätte, aus Britannien abzuziehen. Der Poet Laureate Alfred Lord Tennyson verewigte sie in einem Gedicht, und Ende des 19. Jahrhunderts wurde die Statuengruppe von Boudicca und ihren Töchtern gegenüber von Big Ben errichtet (und das Gerücht kam auf, dass sie unter Gleis 9 oder 10 der Kings Cross Station begraben sei, von wo aus heute der Hogwarts-Express Hexen und Zauberer wie Harry Potter zur Schule bringt). Da ihr Leben nur in römischen Quellen überliefert ist – hauptsächlich von Tacitus und Cassius Dio –, wirkt Boudicca jedoch wie eine im Streitwagen fahrende und schwertschwingende Version der Lucretia. Vor allem in der Rede, die ihr Tacitus vor ihrer letzten Schlacht in den Mund legt: »Jetzt aber räche [ich] … die verlorene Freiheit, den zerschlagenen Leib, die geschändete Ehre [meiner] Töchter. So weit trieben nun die Römer ihre Lüste, daß sie nicht die Person, ja selbst das Alter nicht oder Jungfräulichkeit unbefleckt ließen.«166
Nirgendwo wird die Gleichsetzung des Verlusts der weiblichen Ehre mit dem sozialen Tod so gnadenlos auf den Punkt gebracht wie in dem Satz, Vergewaltigung sei ein »Schicksal, das schlimmer ist als der Tod«, eine Redewendung, die ebenfalls auf das antike Rom zurückgeht, allerdings nicht auf eine lateinische Quelle, sondern auf Band IV der Geschichte vom Verfall und Untergang des römischen Imperiums von 1788. Darin beschreibt der britische Historiker Edward Gibbon die Vergewaltigung römischer Ehefrauen und Jungfrauen durch die Goten als »Gewalttaten … die nach den Maßstäben der Keuschheit schlimmer waren als der Tod«167.
Die Viktorianer griffen das Idiom so begeistert auf, dass es zu der Beschreibung für Vergewaltigung wurde. Doch das Verdienst, es ins 20. Jahrhundert transportiert zu haben, kommt Edward Rice Burroughs und seinem Megabestseller Tarzan bei den Affen zu, in dem die US-Amerikanerin Jane Porter im afrikanischen Dschungel von einem Menschenaffen zu einem »Schicksal tausendmal schlimmer als der Tod«168 entführt wird. Die amerikanische Jane über der Schulter des dunklen Affen war – ebenso wie die plündernden Goten – die perfekte Illustration des Schwarzen169 (barbarischen) Vergewaltigers, der eine weiße Unschuld stahl. Selbstverständlich intervenierte Tarzan, der zwar im Dschungel aufgewachsen, aber als Sohn eines britischen Lords weiß genug war, um Jane und ihre Ehre zu retten, so dass sie später seine Ehefrau und die Mutter seines Sohnes werden konnte.
Dass das zentrale Problem bei einer Vergewaltigung der Raub der Ehre war, ist in dem englischen Wort »rape« – von dem Lateinischen »rapere«, von dem unser Wort »Raub« kommt – noch etymologisch enthalten, ebenso wie in dem deutschen Vorläuferbegriff zu Vergewaltigung, nämlich Notnunft (althochdeutsch notnumft, synonym: Not(h)zucht). Jacob Grimm führt Notnunft auf die germanische Wurzel »Noti neman«, also mit Gewalt (Not) nehmen, zurück, die ursprünglich jede Art von Raub bezeichnete, »doch hat man die ausdrücke notnunft, notzuht allmälich auf die an frauen verübte gewaltthätigkeit eingeschränkt«170. Auf Notnunft stand die Todesstrafe. Allerdings nur, wenn die Frau zuvor eine Ehre besaß, die ihr gestohlen werden konnte. Bei verheirateten Frauen und Witwen wurde ihr Leumund überprüft, bei unverheirateten Frauen ihr Körper. Zu diesem Zweck wurde im 18. und 19. Jahrhundert bei Anzeigen unverheirateter Frauen mit dem sogenannten »Fingertest« (auch bekannt als »Zwei-Finger-Test«) anhand der »Dehnbarkeit« der Vagina überprüft, ob die betreffende Frau Geschlechtsverkehr »ertragen konnte«171. Zu diesem Zeitpunkt hatte die Jungfräulichkeit eine nahezu hypnotische Wirkung auf Ärzte und Richter, so dass bei Obduktionen von Frauenleichen immer zuerst das Hymen überprüft wurde, um auszuschließen, dass sich die Tote aus Scham über einen Ehrverlust selbst umgebracht habe.172 Jungfräulichkeit bestimmte den Diskurs um Ehre dergestalt, dass die Begriffe gerne synonym verwendet wurden,173 weshalb auch noch nach dem Wegfallen des Konzepts der weiblichen Geschlechtsehre Jungfräulichkeit weiterhin massiven Einfluss auf die Vergewaltigungsdebatten hatte.
Ein Beispiel: Larry King Live ist eine amerikanische Prime-time-Interviewsendung, in die wichtige Menschen des Zeitgeschehens, wie amtierende Präsidenten, berühmte Schauspieler*innen, Literat*innen, Künstler*innen und Unternehmer*innen, eingeladen werden. 2003 wurde Roman Polanski für seinen Film The Pianist für sieben Academy Awards nominiert, konnte aber nicht nach Hollywood reisen, da er dort sofort verhaftet worden wäre, weil er 1977 die damals 13-jährige Samantha Gailey (die inzwischen Geimer heißt) vergewaltigt hatte. Also lud Larry King am 24.2.2003 stattdessen Samantha Geimer in die Sendung ein, wo er sie unweigerlich fragte: »Waren Sie noch Jungfrau?«
Sie antwortete freundlich: »Ich habe gerade nachgerechnet. Nein.«
King war verblüfft: »Sie waren keine Jungfrau?«
»Nein, ich hatte ein paar Monate zuvor meinen ersten Freund kennengelernt.«
Aber noch immer war sich King nicht sicher: »Sie hatten also vorher schon Sex?«174
Offensichtlich beschäftigte ihn diese Frage so sehr, dass er sie, als sie am 7.10.2010 wieder in seine Sendung kam, noch einmal wiederholte: »Sie hatten vorher schon Sex?«
Wieder antwortete Geimer: »Ich hatte schon eine ganze Weile einen Beziehungspartner, und wir hatten bereits miteinander geschlafen, ja.«
»Mit 13 Jahren?«
»Nun, das war wenige Wochen vor meinem 14. Geburtstag, aber ja.«
King ritt nicht etwa auf diesem Punkt herum, weil er ihn verwerflich fand, sondern weil er schlicht nicht in sein Weltbild passte. Also versuchte er es mit einem Kompromiss: »Aber Sie hatten schreckliche Schmerzen, nicht wahr?«
Doch Geimer machte auch das zunichte: »Nein, nein, die ganze Situation war vollkommen anders.«175
Die Vorstellung, dass eine Vergewaltigung nur durch den Schmerz beim Durchdringen des Jungfernhäutchens unerträglich würde, war eine »modernisierte« Form der Idee, dass eine Frau vordringlich an dem Verlust ihrer Ehre = Jungfräulichkeit litt.
Das ist umso interessanter, als bisher niemand das vielbeschworene Jungfernhäutchen gesehen hat.176 Trotzdem hält sich die Überzeugung, dass vor dem ersten Geschlechtsverkehr in der Vaginalöffnung eine dünne Haut gespannt ist, vergleichbar mit der Frischhaltefolie, die die Waren im Supermarkt versiegelt, um anzuzeigen, dass sie unberührt (sic!) sind. Auch der vermeintlich wissenschaftlichere Begriff Hymen ist nur Griechisch für das gleiche Konzept. Hymen bedeutet Membran oder Haut. Tatsächlich handelt es sich bei besagtem Häutchen nicht um eine straffe Haut, sondern um eine Ansammlung von ringförmig angeordneten Schleimhautfalten, eine Korona – ebenfalls griechisch für Kranz oder Krone. »Sprache bestimmt, wie wir denken«, erkannte die Schwedische Vereinigung für aufgeklärte Sexualerziehung RFSU (Riksförbundet För Sexuell Upplysing) entsprechend und entschied, den ideologiebeladenen Begriff Jungfernhäutchen (Schwedisch mödomshinna) abzuschaffen und durch vaginale Korona zu ersetzen.177
Die Korona befindet sich ein bis zwei Zentimeter tief in der Vagina und verschließt diese keineswegs hermetisch. Sollte sie das in Ausnahmefällen doch tun, ist das ein ernst zu nehmendes Problem, das medizinisch behoben werden muss, weil Menstruationsblut und andere vaginale Flüssigkeiten dann nicht abfließen können. Weder wird die Korona von einem eindringenden Penis oder Finger beim »ersten Mal« durchstoßen, noch beim Sport oder anderen körperlichen Aktivitäten zerrissen. Ganz im Gegenteil sind die intimen Hautfalten ziemlich dehnbar. Sie verschwinden auch nicht nach dem ersten Geschlechtsverkehr auf geheimnisvolle Weise, und weniger als die Hälfte aller Frauen bluten. Die berühmten Blutstropfen auf dem Laken sind kein Beweis für die Jungfräulichkeit der Braut, sondern für eine Verletzung, also genau das, wofür Blut – mit Ausnahme von Menstruationsblut – ansonsten auch steht.
Wo Körper keinen eindeutigen Beweis für die weibliche Ehre liefern konnten, obwohl dieser Versuch nichtsdestotrotz weiter unternommen wurde und wird, mussten sie ihn in anderer Weise erbringen. In welcher, wurde wieder an der Geschichte der Lucretia debattiert. Ursprünglich hatte Lucretias Freitod Klarheit geschaffen und nicht nur ihre Unschuld bewiesen, sondern auch ihre Ehre zurückgewonnen. Daraufhin führten ihr Vater und Ehemann die Leiche Lucretias den Römern vor. Und die Römer, die die Gründung ihrer Stadt mit der Massenvergewaltigung der Sabinerinnen begonnen hatten, waren so entsetzt von der Tat, dass sie Sextus Tarquinius umbrachten, seinen Onkel, den bösen König Tarquinius Superbus, aus der Stadt jagten und Rom zur Republik ausriefen.178 Oh ja, und den Raub der Sabinerinnen ebenso wie die Ächtung der Vergewaltigung der Lucretia zu Sinnbildern für die Ideale der römischen Gesellschaft machten.179
Mit dem beginnenden Christentum wurde das jedoch zu einem Problem. Zwar blieb das Konzept der weiblichen Geschlechtsehre konstant, doch galt Selbstmord nun als Sünde. Augustinus von Hippo deutete im 5. Jahrhundert folgenreich: »Entweder hat Lucretia, nachdem sie vergewaltigt wurde, mit dem eigenen Selbstmord eine Unschuldige ums Leben gebracht. Dann kann sie nicht als tugendhaft verehrt werden […] Lucretia hat vielleicht insgeheim dem Geschehen zugestimmt und Lust verspürt, damit aber ihre Keuschheit verloren. In diesem Fall [wäre] sie eine Ehebrecherin gewesen«180 und ebenfalls nicht tugendhaft.
Denn ein nicht-ehelicher Geschlechtsverkehr war eine Sünde, und da Vergewaltigung in der Ehe rechtlich nicht möglich war, war eine Vergewaltigung bereits per definitionem ein Ehebruch. Allerdings sündigte der Mann nur, falls bei der Frau der »Wunsch und Wille keusch zu bleiben keineswegs zur Zustimmung zur Übeltat sich gewandelt hat«181. Das war aufgrund der Sehnsucht des Weibes, überwältigt zu werden, jedoch fraglich. (Schließlich ging es hier nicht um die Handlungen der Frau, sondern um ihre Gesinnung – die an ihren Sinnen respektive ihrer Sinnlichkeit gemessen wurde.) Deshalb standen vergewaltigte Frauen, auch wenn sie sich mit aller Kraft gewehrt hatten, unter dem Generalverdacht, nachträglich unkeusch geworden zu sein und damit gesündigt zu haben.182 Doch sogar wenn sie »keusch« geblieben sein sollte, konnte die Vergewaltigung immer noch ein Hinweis auf eine moralische Schwäche der Frau sein.183 Augustinus »rechnete damit, dass die Vergewaltigung eine Möglichkeit zur Demütigung der Frau sein könne, möglicherweise als Folge ihrer selbstgefälligen Überhebung«, erklärt die Professorin für Text- und Editionstheorie Gesa Dane. »Selbst für den Fall, dass die Frau sich ›hinsichtlich ihrer Keuschheit der Selbstüberhebung‹ nicht schuldig gemacht habe, könne sie dennoch vergewaltigt worden sein, aus einem Grund, der ebenfalls in ihr gelegen sei: in einer geheimen Schwachheit‹ […], die einmal als eitler Stolz ans Tageslicht hätte durchbrechen können, […] wenn ihr die Demütigung erspart geblieben wäre.«184
Trotzdem hatte auch das Christentum natürlich seine Vergewaltigungsmärtyrerinnen, wie die heilige Agnes (geboren etwa 237, hingerichtet ca. 250 in Rom), die sich mit zahlreichen Wundern so erfolgreich gegen eine Vergewaltigung wehrte – wie mit dem Haarwunder, bei dem ihre Haare über ihren gesamten Körper wuchsen und ihn unberührbar machten –, dass sie am Ende als intakte Jungfrau enthauptet wurde.
Auch Maria Goretti (geboren 1890 in Corinaldo, ermordet 1902 in Nettuno) wurde heilig gesprochen, weil sie sich lieber umbringen ließ, als ihre Jungfräulichkeit zu verlieren. Der Täter, Alessandro Serenelli, sagte später vor Gericht (und vor der Vatikankommission) aus, dass er der 12-jährigen Maria jede Möglichkeit gegeben habe nachzugeben, und er hätte sie nicht getötet. Doch sie soll nur gesagt haben: »Das ist Sünde, Alessandro.«185
Dass sich eine Frau, die bei einer Vergewaltigung nicht umgebracht wurde, wünschte zu sterben, fand allerdings auch Augustinus angemessen. Tatsächlich ermaß sich an der Heftigkeit ihres Todeswunsches die Qualität der zerstörten Ehre: Je größer die Trauer, desto größer die (geraubte) Ehre. Sie durfte diesen Wunsch nur nicht mehr umsetzen. Im besten Fall siechte sie dahin und starb ohne eigenes Zutun. Wenn sie das nicht tat, musste sie mit ihrem gesamten weiteren Leben beweisen, dass sie nicht doch noch nachträglich unkeusch geworden war. Vorzugsweise, indem sie in ein Kloster ging. Denn es gab keine Rückkehr zum Status quo, ihr Lebensweg war unterbrochen, und zwar unwiederbringlich.186