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Lisa musterte die Gesichter der anderen Kinder in der Hoffnung, jemanden aus ihrer Schule, ihrem Viertel, ihrer Synagoge wiederzuerkennen. Doch der Zug war voller Fremder. Manche weinten, andere saßen schweigend da. Jedes Kind hatte ein Köfferchen und einen Beutel mit Marschverpflegung. Um den Hals trug jedes eine Marke mit einer Nummer. Lisas Nummer war 158. Welch eine dumme, fantasielose Zahl, dachte sie. Wer sollte sich die merken … Wie hoch die Zahlen wohl gingen? Bis Tausend? Wohin fahren wir alle? Wohin komme ich? Lisa gegenüber saßen zwei fünfjährige Mädchen, die gemeinsam ein Stück Teekuchen aßen und einfältig kicherten. Sie benahmen sich, als führen sie in die Ferien. Neben Lisa saß ein elfjähriger sommersprossiger Junge mit runden Wangen. Er war unruhig und redselig.

»Ich bin Michael«, sagte er beiläufig. Er wühlte in seinem Paket und hielt einen nach Fisch riechenden Papierbeutel hoch.

»Möchtest du die Hälfte von meinem Sardinenbrot?«, fragte er höflich. »Kannst du gerne haben.«

»Nein, danke«, sagte sie kurz. Seine ungenierte, formlose Freundlichkeit stieß sie ab. Auf diesem engen Sitzplatz ist kein Raum für zwei, dachte sie, hatte aber Angst, es zu sagen. Wieso war er so aufgekratzt? Sie wollte nichts mit ihm zu tun haben – auch mit den anderen Kindern nicht, wenn sie sich’s recht überlegte. Sie wollte allein sein mit ihren Gedanken an ihre Familie, wollte jede Einzelheit des Lebens, das sie hinter sich ließ, ihrem Gedächtnis einprägen. Es durfte nicht sein, dass sie auch nur eine Kleinigkeit vergaß.

»Ich kann’s kaum erwarten, in London zu sein!«, platzte der Junge heraus. »Hab’ alles gelesen von Sherlock Holmes, und ich werde mir sein Haus in der Baker Street ansehen. Wenn ich groß bin, werde ich ein klasse Detektiv. Was willst du mal werden?«

Lisa seufzte ihr abweisendstes Seufzen.

»Weiß schon. Ich wette, du heiratest reich und kriegst jede Menge Kinder.«

»Ich bin Pianistin. Ich werde Musik machen«, sagte sie. Ihr hochnäsiges Gebaren ließ sich nicht durchhalten.

»Mannomann«, entgegnete er beeindruckt. »Was für Musik?«

»Die Musik, die meine Mutter mich gelehrt hat«, antwortete Lisa mit Grandezza, »die große Musik Wiens.«

Plötzlich konnte Lisa nur noch an ihre Mutter denken. Das furchtbare Klirren zerbrechenden Glases in der Kristallnacht hallte in ihr nach. Sie kniff die Augen zu, aber das Geräusch verstummte nicht. Wenn eine zweite Kristallnacht kam – würde ihre Familie sicher aufgehoben sein? Als sie die Lider hob, stand ihr wieder das alberne Grinsen des Jungen neben ihr vor Augen. Sie hasste ihn.

»London wird herrlich«, behauptete er.

»Du weißt doch überhaupt nichts von London!«, explodierte Lisa. »Du bist noch nie dagewesen. Du bist auch kein Detektiv aus den Büchern, du bist ein Flüchtling!«

Michael blickte sie an. Sein Gesicht verdunkelte sich. Lisa schloss die Augen und versank wieder in ihren Gedanken. Erneut sprach Michael sie an, in einem anderen Ton diesmal. Seine Augen schwammen in Tränen. »Mein Vater hat mir gesagt … ich soll nur an das denken, was ich am meisten liebe, und … es wird wahr werden, wenn ich nach England komme.« Seine Lippen zitterten. Lisa schlug die Augen auf und blickte ihn an. »Tut mir leid«, sagte sie. »Hab’s nicht so gemeint.«

Michaels Augen blieben nass.

»Nicht weinen«, bat sie. »Denk nicht mehr an meine Worte. Erzähl mir, was du sonst noch von London weißt.«

»London ist ’ne unglaublich tolle Stadt! Immer dichter Nebel, dicke Luft, und böse Spione lauern an jeder Ecke, und Meisterverbrecher pirschen durch die U-Bahn-Stationen.«

»Ach! Wirklich?« Lisa blickte ihn kokett an.

Mehrere der kleineren Kinder aus ihrem Abteil standen auf und scharten sich um Michael. Großspurig erzählte er von Jack the Ripper und von haarsträubenden Abenteuern. Lisa fühlte ihre Lider schwer werden, und bald wiegte sie das monotone Rattern in den Schlaf.

Sie erwachte von einem Rascheln. Neben ihr durchwühlte Michael hektisch seinen kleinen Koffer. Die Abteillichter waren abgedunkelt, und fast alle außer den beiden schliefen.

»Was machst du da?«, flüsterte sie.

»Der Zug hält«, sagte Michael. »Draußen vor dem Fenster habe ich SS-Leute gesehen.«

»Und?«, fragte sie noch schlaftrunken.

Er antwortete nicht. Er hatte gefunden, was er suchte. Aus dem Koffer fischte er einen kleinen Lederbeutel mit einem Zugband und öffnete ihn auf seinem Schoß. Zum Vorschein kamen eine Perlenkette, ein silberner Armreif und eine Taschenuhr an einer rötlichen Goldkette.

»Das hat meinen Eltern gehört«, sagte er nervös. Seine Stimme bebte. »Wenn die Soldaten das finden, nehmen sie es mir weg und schicken mich zurück.«

»Glaubst du, sie würden dich wirklich zurückschicken?«

Michael schwieg. Er stopfte den Schmuck in das Säckchen zurück und kletterte zuerst auf den Sitz und dann auf die Armlehne. Er riss das schwere Abteilfenster herunter und schleuderte den Inhalt des Beutels in die Nacht hinaus. Erschrocken japste Lisa und griff nach ihm, um ihn daran zu hindern, hielt dann aber inne. Vielleicht war ja richtig, was er tat. Was richtig war, das wusste sie selbst nicht mehr so genau. Aufblitzend verschwanden das Gold und das Silber vor Lisas Augen in der Nacht. Die Bremsen quietschten. Michael sank in seinen Sitz zurück, gelähmt von der Tragweite dessen, was er getan hatte. Ein Dampfzischen von der Lokomotive, ein Ruck, und der Zug stand. Um Lisa und Michael herum erwachten die Kinder. Jedes, auch das Kleinste, saß gespenstisch still und beobachtete die Soldaten in ihren langen Mänteln, die nun durch den Waggon patrouillierten. Lisa betrachtete ihre Uniformen und ihr Auftreten. Sie glichen aufs Haar den Soldaten, die durch ihre Straße marschiert waren. Tieftraurig wurde sie sich bewusst, dass diese Männer nun überall waren, nicht nur in Wien. Sie kamen den Gang herauf, stießen, spähten, grabschten in Gepäckstücke. Sie schüttelten Spielzeuge aus und wühlten in Butterbrotpaketen. Ein kleines Kind begann zu weinen. Jemand legte ihm die Hand auf den Mund. Michael, Schweiß auf der Stirn, beugte sich zu Lisa hinüber. Panik erstickte seine Stimme. »Vielleicht haben sie mich gesehen!«

Lisa legte den Finger auf die Lippen und zischte: »Psssst!«

Ein Wachmann näherte sich und musterte Michael. Die Knie des Jungen bebten hilflos. »Name!«, bellte der Wachmann.

»Ähmmm, Michael Liebel.« Er fingerte an seiner Marke und hielt sie dem Wachmann hin. Nummer 38. Der Mann ging weiter und warf keinen Blick auf den Koffer im Schoß des Jungen. Nach einiger Zeit klappten die Waggontüren zu: Die SS hatte den Zug verlassen. Fauchend zog die Lokomotive wieder an. Michael begann zu schluchzen: »Umsonst! Ich habe alles ganz umsonst weggeworfen! Ich bin so dumm!«

Behutsam legte Lisa ihm den Arm um die Schultern. »Was du getan hast, war sehr tapfer.«

»Nein! Es war blöd! Das war die Uhr meines Vaters, die er von Großvater geerbt hat!«

»Hör auf zu weinen. Du wirst ein berühmter Detektiv, dann kannst du ihm eine neue Uhr kaufen, siehst du. Machen wir doch mal, was meine Mutter mir beigebracht hat. Immer, wenn ich ein neues Klavierstück beginne, sagt sie, ich soll die Augen schließen und mir einen wunderschönen Ort vorstellen. Das ist ganz wichtig. Kneifen wir mal fest die Augen zu und denken an die neuen Orte, die wir sehen werden, ja? Fertig?«

Michael gewann die Fassung wieder. Gemeinsam machten sie die Augen zu.

»Los!«

Lange saßen die beiden Kinder mit geschlossenen Augen. Lisa schlug ihre zuerst wieder auf. »So, jetzt kannst du wieder aufmachen. Was hast du gesehen?«

»Nichts«, sagte er. »Gar nichts habe ich gesehen.«

»Ich auch nicht«, gestand sie leise. »Ach du liebe Güte, wohin es uns wohl verschlagen wird.«

Michael lächelte sie an, und sie legte den Kopf auf seine Schulter. Dann versuchten sie zu schlafen.

Mehrmals hielt der Zug in der Nacht, und immer mehr Kinder stiegen zu. Die Neuen mussten sich im Gang niederlassen und saßen auf ihren Koffern. Allein in meinem Wagen müssen mehr als fünfzig sein, dachte Lisa. Michael bot seinen Sitz einem hübschen deutschen Mädchen an, das so alt wie Lisa sein mochte, und drückte sich in den Seitengang. Lisa sah ihn aus dem Fenster starren, in den Händen den leeren Schmuckbeutel.

»Siehst du den Hübschen da drüben?«, fragte die Neue. »Seit wir eingestiegen sind, beäugt er mich.«

»Das glaubst du aber nur, Mela!«, ereiferte sich ihre Freundin.

Die beiden Mädchen waren lebhaft und attraktiv. Sie trugen modische dunkle Röcke und frisch gebügelte weiße Blusen. Sie wandten sich an Lisa. »Sag mal, der im Gang da, wen von uns beiden hat er angeguckt?«

Der Gedanke, mit Jungs zu kokettieren, schien Lisa unter den Umständen lachhaft. Flatterhafte Gänse, dachte sie, streckte aber bald schon den Hals und blickte in den Gang. »Welchen meint ihr?«

»Na den da, Dummchen! Beeil dich, sonst merkt er, dass wir gucken!«

Der hübsche Junge sah auf, lächelte und zwinkerte seinen Verehrerinnen zu. Die beiden Neuen kicherten heftig. Lisa konnte sich nicht zurückhalten. Sie lachte mit. Warum nicht, schalt in ihr eine Stimme, warum nicht ein bisschen Spaß? Wäre Rosie da, wäre sie als Erste dabei. Und wäre Sonia da … Sonia. Warum hatte sie nicht mit gedurft?, fragte sie sich. Warum habe ich das neue Leben bekommen und sie nicht? Oh Sonia, du fehlst mir.

Die neuen Mädchen erprobten ihr Englisch. »Shall I fetch you tea?«, fragte Helen.

»Two lumps« – zwei Stück Zucker, erwiderte die andere, mit einer Aussprache, für die Lisa gestorben wäre. Sie hatte versucht, sich mit einem Englisch-Leitfaden für Anfänger, den sie auf dem Tempelbasar gekauft hatte, zu präparieren, aber zwei Wochen hatten nicht gereicht. Sie hasste den Gedanken, nach der Ankunft in England wie ein Flüchtling zu klingen, wenn sie den Mund aufmachte.

»Would you like some tea?«, intonierte Lisa im Stillen immer wieder, die fließende Aussprache der anderen Mädchen nachahmend. Gerade fuhr der Zug wieder an. Die Posten hatten die Türen zugeschlagen. Da hämmerte jemand laut an ein Fenster. Ein älterer Junge stand auf und ließ die Scheibe herab, um zu sehen, was da los war. In den langsam anfahrenden Zug wurde ein Weidenkorb hineingereicht und dem Jungen in die Arme gedrückt.

»Jemand hat uns frische Brötchen besorgt!«

»Vielleicht ist’s Schokolade!«

»Ich wette, ’s ist Käse.«

»Und wenn’s ’ne Bombe ist?«, piepste ein Mädchen.

Alle erstarrten. Der Junge stellte den Korb im Gang ab und wich zurück.

»Mach auf, wenn du dich traust«, forderte ein Bub seinen Sitznachbarn auf.

»Warum ich? Mach du doch auf, Dummerjan!«

»Vielleicht sollten wir ihn wieder zurückwerfen.«

Lisa beschlich ein merkwürdiges Gefühl, das sie nicht erklären konnte. Sie trat auf den Gang hinaus, ging zu dem Korb und dachte: Wenn ich jetzt Angst habe, werde ich vor allem Neuen Angst haben. Also verbiete ich mir die Angst. Ich verbiete sie mir. Sie klappte den Deckel auf. Vor ihr lag ein wunderhübsches Baby, das in eine saubere Decke gehüllt war. Es schlief fest. Ein kleiner Engel. Sie hob es vorsichtig heraus und nahm es in den Arm. Die älteren Mädchen eilten an Lisas Seite, die Jungen hielten sich zurück. Erregtes Stimmengewirr erfüllte den Wagen.

»Was machen wir mit dem Kind?«

»Hat es eine Marke?«

»Glaubt ihr, dass es Hunger hat?«

Das Kleine begann zu weinen, und jemand bekam einen Angstanfall. »Wenn sie das hören, werden wir alle aus dem Zug geworfen.« Lisa fing an, ein Wiegenlied von Brahms zu summen – die erste Melodie, die ihr eingefallen war. Aber das Kind weinte weiter. Sein Geschrei wurde lauter, was die Kinder immer stärker bestürzte. Verzweifelt sang Lisa, konnte das Kleine jedoch nicht beruhigen. Den Gang entlang kam eine Sechzehnjährige und streckte die Arme aus. »Ich habe zu Hause einen kleinen Bruder. Gib mal her.«

Sie nahm das Kind mit geübtem Griff und drückte ihre Nase in sein Gesicht. Einen Augenblick lächelte es. Erleichtertes Aufatmen im ganzen Waggon. Als das Weinen versiegte, legte sie es behutsam in den Korb und ging dann mit Lisa im Wagen auf die Suche nach Saft, Milch und Decken. Abwechselnd schaukelten und fütterten sie das Kleine. Die Reisegesellschaft hatte nun plötzlich eine Aufgabe. Wachsende Entschlossenheit stieg in Lisa auf. Wenn ich stark bleiben kann, sagte sie sich, dann schaffe ich es. Ich schaffe es für Mama, ich schaffe es für Papa. Und bald sind wir alle wieder beisammen.

Ein langer Pfeifton, und wieder hielt der Zug. Die Kinder versteckten das Saftfläschchen und die Decken und schoben den Korb unter Lisas Sitz. Draußen auf dem Bahnsteig sah jemand ein Ortsschild.

»Das ist holländisch! Das Schild ist auf Holländisch! Wir müssen an der Grenze sein!« Schweigen breitete sich im Wagen aus. Mit steinernem Gesicht patrouillierte ein SS-Offizier ein letztes Mal durch den Zug und stieß Koffer beiseite, die seinen glänzenden schwarzen Schaftstiefeln im Wege standen. Auf einer Liste hakte er Namen und Nummern ab. Als er vor Lisas Sitzreihe stehenblieb, stockte allen der Atem. Mehrere Kinder begannen nervös zu plappern, um die peinliche Stille zu durchbrechen. Der Offizier klappte den Korb auf und sah das schlafende Kind. Einen Augenblick, der ihnen wie eine Ewigkeit vorkam, starrte er es an und blickte dann auf seine Liste.

»Ist er nicht süß?«, fragte Lisa und setzte ihr hinreißendstes Lächeln auf, sie betete darum, es möge ihn ablenken. Allen Charme, den sie besaß, legte sie in dieses Lächeln. Der Offizier wandte sich um und schaute sie lange an. Dann, endlich, ging er weiter, ohne ein Wort zu sagen. Rasch schritt er den Gang hinunter, schob die Übergangstür zum nächsten Wagen auf und verschwand. Als der Kindertransport über die Grenze rollte, gingen im Wagen, von lauten Jubelschreien begleitet, erstmals die Lichter an. Lisa öffnete den Korb und schaute auf das schlafende Bündel. »Jetzt kann dir niemand mehr etwas tun«, flüsterte sie.

Helles Mondlicht erfüllte die Nacht. Durch das Fenster sah Lisa Windmühlen, die sich langsam drehten – wie in den Bilderbüchern, die Papa ihr gezeigt hatte. Chopins Nocturne in e-Moll, beruhigend und elegant, ging ihr durch den Sinn. Die Holzflügel der Mühlen drehten sich im Takt der Musik.

Hoek van Holland, Endstation. Ein aufgeregter Schwarm Holländerinnen enterte den Zug mit Körben voll von dicken Butterbroten und großen, saftigen Plätzchen. Eine balancierte ein großes Tablett mit dampfenden Kakaotassen. Die guten Sitten vergessend, drängten sich die Kinder, »Ich! Ich!« rufend, hungrig um die Leckereien. Die Frauen lächelten über die schokoladeverschmierten Gesichter.

Was tun mit dem Baby? Die Erwachsenen diskutierten. Ein ernst dreinschauender Mann mit roter Armbinde kam und stellte sich vor. Er war vom holländischen Roten Kreuz. Eine Gruppe Mädchen drängte sich um das Baby und schaute zu, wie der Mann eine Frau anwies, das Kind aus dem Korb zu nehmen. Sie drückte es liebevoll an die Brust.

»Wir suchen ihm hier ein gutes Zuhause«, sagte der Mann.

»Wie werden die Eltern ihn denn wiederfinden?«, fragte Lisa.

»Das weiß ich nicht.«

Lisa hob den Weidenkorb hoch und gab ihn dem Mann. »Bitte nehmen Sie den Korb mit«, bat sie. »Vielleicht wird ihn daran eines Tages jemand wiedererkennen. Bitte lassen Sie ihm den Korb.«

Der Mann lächelte traurig. »Ja, natürlich«, sagte er und nahm das Kind und den Korb mit.

Schüchtern stiegen die Kinder aus den Abteilen und wurden aus dem kleinen Bahnhof über eine stark befahrene Straße zum Fährhafen geführt. Als ihnen bewusst wurde, dass keine Naziposten mehr Wache hielten, begannen einige der Jungen herumzutollen und zu spielen und den jüngeren Kindern ein Bein zu stellen. Lisa ignorierte das Lärmen der Jungen und blickte einer krächzenden Möwe nach. Kühle, frische Meeresluft stieg ihr in die Nase und weckte ihre Lebensgeister. Michael kam von der Spitze der Marschkolonne zu ihr zurückgelaufen. »Ich habe das Schiff gesehen«, rief er. »Ein echter Corker! Ein Riesending!«

»Corker, was heißt das?«, fragte sie.

»Na, das hat Dr. Watson immer zu allem gesagt, ein Corker, ein Knüller. Wie das da!« Er deutete auf den gewaltigen schwarzen Frachter. »Wieso kann der schwimmen? Der ist doch aus schwerem Metall!«

Ein bärtiger alter Seemann in grüner Matrosenjacke grinste und winkte sie über den Kai zur Treppe. »Nu mal rauf in die gute Stube. Nächste Station ist England.« Singend intonierte er: »Heut’ geht es übers Meer, heut’ geht es übers Meer. Im Sternenschein, im Mondenschein, heut’ geht es übers Meer.«

Auf der Gangway drehte sich Lisa noch einmal um und blickte zurück auf die friedliche holländische Stadt mit ihren Klinkerhäusern und ziegelroten Dächern. Sie sah Wien so überhaupt nicht ähnlich. Wohin wird es uns verschlagen?, fragte sie sich. Wird es da auch eine Oper geben? Einen Turm wie den Steffl? Keine Zeit für solche Gedanken, mahnte sie sich und eilte an Bord. Sie bekam das obere Bett einer Zweierkoje über einer weinerlichen Fünfzehnjährigen aus Köln, die verkündete, sie sei seekrank, und es auch sofort bewies, indem sie sich auf ihr Kopfkissen erbrach.

Stunden schienen zu vergehen, während Lisa wach lag und durch das kleine Bullauge neben ihrer Koje blickte. Der Mond war verschwunden, man hätte nicht mehr zu sagen gewusst, wo das Wasser endete und der Himmel begann. Schließlich tat das stete Auf und Ab der See seine Wirkung, und Lisa sank in einen unruhigen Schlaf. Sie träumte von ihrem Zuhause in der Franzensbrückenstraße. Alles war noch genauso, wie sie es verlassen hatte: die Gemälde, die Spitzendecken, die Porzellanfiguren. Die Mutter hatte ihr Versprechen gehalten – nichts war verändert. Die Familie setzte sich gerade zu Tisch. Mama trug den Braten auf, Vater am Kopfende des Tisches griff zum Tranchiermesser. Sonia war da, unruhig und ungeduldig, und Rosie, imponierend und schön wie immer. Ein Stuhl war leer. »Wo bleibt Lisa?«, fragte Vater. Aus der Tiefe des Schlafs heraus versuchte Lisa zu antworten.

»Hier bin ich«, rief sie, aber niemand hörte sie. Wogen grünen Wassers ertränkten ihre Stimme.

Gegen Morgen erreichten sie die andere Seite des Englischen Kanals. Grau und wolkig war es, als die Kinder im Gänsemarsch die Gangway hinabtrotteten. Ihre kleinen Köfferchen umklammerten sie so krampfhaft, dass man denken konnte, sie trügen ihr Herz darin. Ein drahtiger Mann mit dunkelblauem Mantel und Schnauzbart trieb sie an. »Wir dürfen den Zug nicht verpassen. Hopp, hopp, ihr Kleinen. Nehmt die Beine in die Hand.«

In einer langen Schlange ging’s durch das Hafenstädtchen, im Bogen über den malerischen Marktplatz, dann in den Bahnhof hinein. Gerade erst graute der Morgen, und niemand außer dem Milchmann war noch auf den Beinen. Er starrte auf das geisterhafte Bild: mehr als zweihundert Kinder, schemenhafte Silhouetten, hintereinander durch die Stadt ziehend. Lisa dachte: Wir sehen aus wie ein Klassenausflug, der sich verlaufen hat. Noch einmal wandte sie sich um und warf einen Blick zurück auf die weite See, die sie von ihrer Familie und ihrer gesamten vertrauten Welt trennte.

Die Pianistin von Wien

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