Читать книгу Die Pianistin von Wien - Mona Golabek - Страница 11
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ОглавлениеDurch die südenglische Landschaft rumpelte der Zug, vorbei an Kühen und Heuwiesen, Hecken und Landstraßen. Die müden Kinder lehnten sich aneinander, die Köpfe auf den Schultern des Nachbarn, die Beinchen baumelnd, schwankend im Takt des Zuges. Allmählich gingen die Winterweiden in Vororte über, die Vororte in innenstädtische Bebauung, und dann waren sie am Ziel – Liverpool Street Station, London. Auf Lisa und ihre zweihundert erschöpften Reisegefährten wartete ein kleines Bataillon von Helfern und Betreuern: Nonnen, Rabbis, Quäker, Geistliche aller Konfessionen und Rotkreuzmitarbeiter mit Namenslisten. Mit diesen von der Jewish Refugee Agency in Bloomsbury House sorgfältig zusammengestellten Listen wurden nun die Namen der Neuankömmlinge verglichen, die in der Eingangshalle angetreten waren. Mit einem »Willkommen in England, Kinder, wir freuen uns, dass ihr da seid« schritten die Leute vom Roten Kreuz die Reihen ab. Angstvoll wartete Lisa und ließ die Augen über die riesigen Fenster des Großbahnhofs schweifen, die bis zur Decke reichten, wo durch eine Glaskuppel das helle Morgenlicht auf die Wartenden herabschien. Endlich zeigte Lisa ihre Papiere und ihre Nummer vor und war erleichtert, ihren Namen auf der Liste zu finden. Ein kleines Mädchen, das wohl etwa fünf Jahre alt war und tränennasse Augen hatte, klammerte sich an Lisas Rock. »Ist Mammi da? Ich will zu meiner Mammi!« Das Mädchen begann untröstlich zu weinen. Eine ehrenamtliche Mitarbeiterin kam herüber, kniete sich hin und hielt ihre Hand, während sie wartete.
Als die Listen abgearbeitet und alle Kinder erfasst waren, rückte man Absperrungen beiseite, und ein Strom aufgeregter Menschen mit Fotos in der Hand ergoss sich auf den Bahnsteig. Manche hielten Schilder hoch – KAPLAN, SAMUEL, FRIEDLER. Sie liefen auf die wartenden Kindergesichter zu. Laut riefen sie Namen. »Ruthie Goldstein!«, »Martin Müller!« Lisa erblickte Michael vorne in der Schlange und winkte. Er winkte zurück, dann beobachtete sie, wie ein Mann und eine Frau in bodenlangen Pelzmänteln zu ihm eilten und ihn umarmten, ihn geradezu verschlangen.
Endlos dehnte sich die Wartezeit. Lisa hielt den Griff ihres Koffers fest und schaute geduldig zu, wie die Hälfte der Kinder in einem Gewirbel aus Händeschütteln und Küssen den Bahnhof verließ. Irgendwann – nach Stunden, wie ihr schien – brach sie aus der Reihe aus und eilte zu einer Rotkreuzfrau, die Plätzchen verteilte. »Jura. Lisa Jura«, begann sie, dann versagte ihr die Sprache. »My cousins are coming to see me«, wollte sie sagen, doch die sorgfältig auswendig gelernten englischen Wörter fielen ihr nicht ein.
»Geduld, meine Kleine, das dauert alles seine Zeit. Reih dich lieber wieder ein, damit sie dich finden.«
»Muss ich zurück?«, fragte Lisa auf Deutsch. Sie fürchtete, in den Zug und wieder zurück zu müssen, wenn niemand sie abholte.
Die Rotkreuzfrau betrachtete ihre angstvolle Miene. »Natürlich nicht! Du musst nicht zurück«, sagte sie auf Deutsch mit starkem englischen Akzent. »Auch wenn dich keiner abholt, werden wir dich an einen sehr netten Ort bringen. Nun reih dich wieder ein … sei ein gutes Mädchen.« Sie führte Lisa gerade in die Reihe zurück, da trat ein kleiner Mann in einem abgewetzten braunen Überzieher mit einem Foto auf sie zu und sprach sie auf Jiddisch an.
»Lisa Jura? Ich bin deines Vaters Cousin, Sid Danziger.«
Lisa erwartete, dass er sie umarmen würde, aber er zögerte, neigte leicht den Kopf und reichte ihr ein paar englische Süßigkeiten. Er fragte sie nach ihrer Familie und tröstete sie, als sie überstürzt von den schrecklichen Verhältnissen in Wien sprach. Dann räusperte er sich und fuhr fort: »Ich fürchte, ich muss dir etwas Unangenehmes sagen.« Er sprach so leise, dass sie ihn im Bahnhofslärm kaum verstand. »Wir müssen nämlich hinaus aufs Land ziehen. Meine Frau hat gerade ein Kind bekommen, deshalb müssen wir aus London weg, und, na ja, wir ziehen in eine Einraumwohnung, siehst du. Da gibt’s einfach keinen Platz. Wir können dich nicht aufnehmen. Es tut uns so leid.« Das Gesicht des Mannes lief schamrot an. Lisa verschlug es die Sprache. Das also waren ihre Verwandten, ihre Vettern, die einzigen Menschenseelen in ganz England, die sie kannten. Als Sid den panischen Schrecken auf ihrem Gesicht sah, stotterte er: »Bitte – hab keine Angst. Ich habe persönlich mit den Leuten in Bloomsbury House gesprochen und dafür gesorgt, dass du gut unterkommen wirst … Hauptsache, du bist hier in England.«
Nur halb begriff Lisa, was er sagte. Wieder packte sie die Angst. »Und Sonia, was wird mit ihr?« Lisas Stimme brach fast. Sie hatte sich eingeredet, sie könnte die Danzigers dazu bewegen, auch ihre kleine Schwester aufzunehmen.
»Wir werden unsere Freunde fragen und unser Bestes tun. Wir sind keine reichen Leute. Tut mir leid.«
Lisa stählte sich gegen die Enttäuschung. Mama hätte gewollt, dass sie die Höflichkeitsformen wahrte. »Danke, dass Sie gekommen sind, um für mich zu unterschreiben«, sagte sie.
»Das ist das Mindeste, was ich tun konnte«, erwiderte Sid traurig und ging fort.
Auf der Fahrt vom Bahnhof zum Bloomsbury House schwieg Lisa. Eingeklemmt saß sie im Bus zwischen Dutzenden von anderen Kindern, die niemand abgeholt hatte. Aus dem Fenster starrte sie ins Londoner Straßengewühl, ein Stadttrubel, wie sie ihn nicht kannte. Hupen tönten. Schwarze Taxis drängten sich zwischen Doppeldeckerbusse. Welch ein Gegensatz zu dem gemächlichen Lebenstempo in Wien.
Bloomsbury House, von dem ihr Vater so viel gesprochen hatte, war ein massiver Steinbau im West End. Beim Aussteigen aus dem Bus sah Lisa Engländer in Nadelstreifanzügen und Bowlerhüten, ganz wie auf den Bildern in ihrem Schulbuch. Sie stieg die imponierende Eingangstreppe hinauf und setzte sich mit den anderen auf Bänke im Korridor. Überall waren Kinder. Telefone schrillten, und Menschen redeten in Sprachen durcheinander, die sie nicht verstand. Gelegentlich rief jemand etwas auf Jiddisch oder Deutsch, dann lächelte sie. Meist aber schwirrten nur fremde Laute durcheinander. Es erinnerte sie an den Turmbau zu Babel, von dem der alte Geschichtenerzähler, der sie immer am Sabbat besucht hatte, gesprochen hatte – vom Hochmut der Menschen, die einen Turm bauen wollten, der bis an den Himmel reichte, und von der Strafe, die Gott geschickt hatte: der großen Sprachverwirrung unter den Menschen. Ja, jemand bestraft uns, dachte Lisa. Sie wünschte nur, sie könnte verstehen, warum.
Namen wurden aufgerufen, und eines nach dem anderen gingen die Kinder in ein Büro zur Aufnahme. Frauen gingen umher mit Tabletts voller belegter Brote, die auf Englisch Sandwich hießen. Komisch, dachte Lisa, dass man ein Brot mit Gurken belegt und das Fleisch vergisst. Es schmeckte ihr aber gut.
»Jura. Lisa Jura«, rief endlich eine Stimme, und man winkte sie höflich in ein kleines Büro. Der große, halb kahlköpfige Mann hinter dem Schreibtisch blinzelte über seine Brille und bedeutete ihr, Platz zu nehmen. Hohe Papierstapel, augenscheinlich ungeordnet, bedeckten den Schreibtisch. Einige Blätter waren zu Boden gefallen.
»Ich bin Alfred Hardisty. Nett, dich kennenzulernen.«
Lisa lächelte höflich.
»Wie geht es dir?«
»Very well«, sagte sie in ihrer besten englischen Aussprache.
»Das freut mich. Hat man dich über Bloomsbury House informiert?« Als er sah, dass sie den Kopf schüttelte, fuhr er fort. »Wir sind eine Organisation, die sich um Kinder kümmert, denen wir in diesen schwierigen Zeiten die Einreise nach England ermöglicht haben, und wenn du dich einverstanden erklärst damit, ein bisschen zu arbeiten, kannst du neben Kost und Logis sogar auch noch Geld verdienen. Interessiert dich das?«
»Oh ja, ja.«
»Gut. Was kannst du denn so? Irgendwelche Spezialfähigkeiten?«
»Ich spiele Klavier«, sagte Lisa stolz.
»Na, das ist ja toll. Du spielst sicher ganz wunderbar, aber ich dachte eher an etwas Handfestes, Praktisches. Kannst du nähen?«
»Ja, ich nähe.«
»Gut.« Mr. Hardisty kreuzte in dem Formular, das vor ihm lag, ein Kästchen an. Ehe sie sich versah, wurde sie aus dem Büro geführt und das nächste Kind hereingebeten. Auf halbem Weg die Treppe hinunter fiel ihr ein, dass sie gar nicht nach Sonia gefragt hatte. Ohne anzuklopfen marschierte sie in das Büro zurück.
»Ich habe eine Schwester … in Wien.« Mr. Hardisty blickte hinaus auf die lange Schlange wartender Kinder, dann auf das Mädchen mit dem dunkelroten Haar, das vor ihm stand.
»Alles zu seiner Zeit, Miss Jura«, sagte er seufzend und kam quer durchs Zimmer, um die beharrliche Besucherin zur Tür zu geleiten.
Als Lisa im Durchgangslager Dovercourt in Essex eintraf, drei Stunden südlich von London, war sie todmüde und hatte geschwollene Füße. Ein Kinderferiencamp war in aller Hast zum Durchgangslager »dienstverpflichtet« worden für Hunderte junge Flüchtlinge, die noch keine bleibende Heimstatt hatten. Lisa blickte sich um und erkannte wieder kein vertrautes Gesicht. Mela und das andere Mädchen aus dem Zug waren sicher bei reichen Verwandten untergekommen und schliefen jetzt in weichen Betten. Und Michael pirschte wohl durch London auf den Spuren von Sherlock Holmes. Schweigend, abseits der anderen Kinder, setzte sich Lisa in dem großen kasernenähnlichen Speisesaal an einen Tisch. Zum Frühstück gab es Porridge, Eier, Toast und – sehr englisch – kippers (geräucherte, gesalzene Heringe). Warum sich die Mühe machen, sich mit jemandem anzufreunden, wo man sie doch sowieso bald alle auseinanderreißen würde?
Als die Nacht kam, schliefen die Kinder auf Feldbetten in zugigen Baracken. Lisa zog ihren Pullover und ihren Mantel an und kuschelte sich in der klammen Dezemberkälte unter der Wolldecke zusammen. Sie wollte weinen, schämte sich aber vor den anderen Mädchen. Alle schliefen. Sie zwang sich, an Chopins Prélude Nr. 4 zu denken, das Stück, das sie mit ihrer Mutter oft gespielt hatte, und bewegte die Finger lautlos über der Bettdecke. Ehe sie stumm den letzten Akkord anschlagen konnte, war sie eingeschlafen.
Am nächsten Tag besuchte sie den improvisierten Englischunterricht und sah durchs Fenster Fahrzeugkolonnen vor dem Hauptbau vorfahren. Männer und Frauen unterschiedlichster Aufmachung kamen und gingen, musterten Listen, studierten die Lebensgeschichten von Kindern. Hinten im Klassenzimmer tauchten wie Gespenster stumme Menschengruppen auf und deuteten auf einzelne Kinder, mit denen sie sprechen wollten. Lisa sorgte sich, dass ihre Nase nicht gerade genug, dass ihr Haar zu rot war. Jeden Eintretenden musterte sie – war das vielleicht jemand, der sie haben wollte?
Zuerst gingen die älteren Mädchen weg, da sie arbeiten und ihren Lebensunterhalt verdienen konnten. Kleine Kinder wanderten in die Obhut kinderloser Paare und kamen hinaus aufs Land. Die übrigen warteten darauf, in Kinder- und Waisenheime eingewiesen zu werden, die überall in England von Quäkern, jüdischen Gruppen, Kirchengemeinden und sonstigen freundlichen Seelen eingerichtet worden waren. Am dritten Tag im Durchgangslager, als Lisa an einer Gasmaskenübung teilnahm, legte sich eine Hand auf ihre Schulter, und sie wurde ins Büro gerufen.
»Miss Jura?«, begann eine stämmige Engländerin in sportlichen Schuhen. »Wir hören, dass Sie nähen können, was vorzüglich ist, aber wir möchten auch wissen, ob Sie mit – äh – kleineren Kindern zurechtkommen.«
»Ich habe eine jüngere Schwester. Ich suche jemanden, der mir hilft, sie aus Wien herauszubringen. Könnten Sie helfen? Kennen Sie vielleicht jemanden, der …«
»Eins nach dem anderen, meine Liebe. Zuerst wollen wir Sie mal unterbringen. Es gibt da einen hohen Militäroffizier, der sein Herrenhaus in eine Zentrale für den Zivilschutz umwandelt, da werden helfende Hände gebraucht. Die Dame des Hauses hat gerade ein Kind bekommen. Was halten Sie davon, Liebes?«
Der Gedanke, in einen wohlhabenden Haushalt zu kommen, entzückte Lisa. Sie würde die Herzen im Sturm nehmen, und dann würde man ihr helfen.
»Ich liebe Babys!«
»Dann ist das geklärt, junge Dame. Jemand wird Sie morgen am Bahnhof Brighton in Empfang nehmen.«
Zum ersten Mal seit ihrer Ankunft schöpfte Lisa Hoffnung. Federnden Schritts ging sie in ihre Baracke zurück. Sie setzte sich aufs Bett, zog das Foto ihrer Mutter hervor und legte es vor sich hin. Sie entfaltete ein Blatt Papier, das sie aus ihrer Englischfibel herausgerissen hatte, und begann zu schreiben: »Liebe Mama, lieber Papa …«
Sie füllte den Brief mit positiven Gedanken und englischen Wendungen, mit denen sie Eindruck machen wollte: »Ich bin entschlossen, hier nicht mehr als foreigner, als Ausländer, zu gelten. Solange ich hier bin, werde ich mein Bestes tun, um ein real English girl zu sein.« Und dann unterschrieb sie. An Briefmarken hatte die wohlmeinende, aber überarbeitete Lagerleitung nicht gedacht. Nach dem Mittagessen trat Lisa deshalb mit gewinnendem Lächeln an einen derb wirkenden Geschirrspüler heran. »Wenn ich Ihnen beim Abwasch helfe, kaufen Sie mir dann eine Briefmarke?«
»Aber klar, junge Lady. Unter der Spüle liegt ein Schwamm.«
Lisa packte einen Teller und begann ihn zu putzen.