Читать книгу Die Pianistin von Wien - Mona Golabek - Страница 8

2

Оглавление

Lisa!«, rief Malka aus der Küche. »Geh zum Fenster, schau nach Vater.«

Zögernd stand Lisa vom Klavierhocker auf, ging ans Fenster und blickte aus dem ersten Stock auf den kopfsteingepflasterten Hof hinab.

»Siehst du ihn?«

»Nein, Mama, noch nicht.« Der Novemberwind blies kalt. Die Straßenlaternen rasselten. Der Winter kam. Chanukka stand vor der Tür, das Lichterfest, Lisas Favorit unter den Jahresfesten.

»Ist er noch nicht da?«

»Nein, nichts zu sehen!«

»Wo bleibt er denn?« Malka begann in der Küche lautstark mit den Pfannen zu scheppern. Das war ihre Art, Dampf abzulassen.

»Schlag nichts kaputt, Mutter«, lachte Lisa.

Ein weiteres Scheppern antwortete. »Also gut, hole deine Schwestern. Dann fangen wir ohne ihn an.«

Lisa wusste, weshalb ihr Vater oft so spät kam. Die »Zockerei« war es, die Mutter so in Zorn versetzte. Im Lagerraum der Fleischerei von Herrn Rothbard pflegte Vater sich mit Männern aus der Nachbarschaft zum Kartenspielen zu treffen. Lisa hatte keinen Schimmer vom Kartenspielen, wusste aber, es musste etwas Schlimmes sein, weil es Mutter so in Wut versetzte.

Abraham Jura hatte sich immer als den besten Schneider von Wien bezeichnet. Lisas Vater war ein stolzer, eleganter Mann, der gestärkte weiße Hemden mit hohem Kragen trug. Seine Kundschaft setzte sich aus Juden und Nichtjuden gleichermaßen zusammen. Aus der ganzen Stadt kamen sie und ließen Maßanzüge bei ihm schneidern. Jetzt aber gab es kaum noch etwas zu tun. Nur noch selten ließen sich seine Stammkunden bei ihm blicken. Nichtjuden durften bei Juden nicht mehr kaufen. An seinem Laden hing nun ein Schild: Jüdisches Geschäft.

Nachts hörte man manchmal erregte Stimmen aus dem Schlafzimmer der Eltern. Es ging um die Finanzen, so viel verstand Lisa, und ihr Vater schien in diesen Tagen auf fast alle Menschen zornig zu sein. Das traute familiäre Abendessen, die Umarmungen, wenn Vater von der Arbeit heimkam: Das alles gab es nicht mehr. Bedrückt musterte Lisa die knitterigen Anzüge und die ausgefransten Manschetten ihres Vaters. An seinen Knöpfen herumnestelnd, runzelte sie die Stirn. »Papa, ich nähe dir die Knöpfe wieder fest. Offenbar hast du vergessen, wie man das macht«, scherzte sie. »Wer geht noch zu einem Schneider, dem die Knöpfe locker sitzen?« Traurig blickte der Vater sie dann an und schwieg. An solchen Tagen, wenn sie begriff, wie sich ihr Vater vor ihren Augen veränderte, flüchtete sie ans Klavier und in ihre Fantasien.

Mit oder ohne Abraham, Malka zündete die Sabbatkerzen an. Es war Freitagabend, Sonnenuntergang, Beginn des Sabbats. In den silbernen Kerzenständern, die sie ihrerseits von ihrer Mutter geerbt hatte, entzündete sie zwei schlanke Wachskerzen und wandte sich ihrer jüngsten Tochter zu: »Sonia, warum sagst du uns nicht, was sie bedeuten.«

»Die eine Kerze ist für den Herrn, der Himmel und Erde geschaffen hat und am siebenten Tag ruhte«, antwortete Sonia stolz.

»Und die zweite Kerze, Lisa?«

»Die zweite zünden wir an, weil wir den Sabbattag begehen und ihn heilighalten.«

Noch weitere vier Kerzen steckte Malka an, je eine für ihre drei Töchter und eine für ihre Mutter Briendla in Polen. Warmes Licht erfüllte den Raum. Im ganzen Stadtbezirk schimmerte ähnlicher Glanz in Wohn- und Esszimmern. Traditionell wurden am Sabbatabend Speisen an Bedürftige ausgeteilt: Eine Stunde vor Sonnenuntergang sammelten sich Menschen im Hausflur. Einige in abgerissener Kleidung und mit zerzaustem Haar, andere, die nur eine vorübergehende Notzeit durchmachten und sorgfältig geflickte Sachen trugen. Immer wieder andere Gesichter, bis auf eines – das eines alten Mannes mit struppig weißem Bart. Er war der Favorit der Mädchen, weil er ihnen jede Woche eine Geschichte erzählte. An diesem Abend kam Malka ohne das übliche Tablett mit koscheren heißen Speisen in den Flur. Traurig verkündete sie: »Ich fürchte, heute Abend haben wir leider nichts zu verteilen.«

Lisa stand wie vor den Kopf geschlagen. Sie sah die Hungrigen fortschlurfen und sah den Kummer in den Augen der Mutter. Nur der alte Geschichtenerzähler war zurückgeblieben und starrte auf die Mesusa, das Segenszeichen, das an der Tür hing. Nach einem langen, qualvollen Augenblick wandte er sich an Malka: »Gott wird Sie segnen für Ihre Großherzigkeit bisher.«

Die Mädchen gingen in die Wohnung zurück, setzten sich zur Mutter und begannen, ohne den Vater zu essen. Als sie fertig waren, räumten sie ab und sahen zu, wie sie den großen Mahagonischaukelstuhl zum Fenster rückte. Langsam schaukelte Malka vor und zurück, ihre Gebete murmelnd, die Augen auf die Straße gerichtet.

Lauter Lärm schreckte Lisa und Sonia aus dem Schlaf – nicht das übliche Stimmengewirr, das die späte Heimkunft des Vaters oft begleitete, sondern bedrohliches Gebrüll, das sich näherte. Bademäntel überwerfend, eilten sie ins Schlafzimmer der Eltern. Es war leer, deshalb stürzten sie zum Wohnzimmerfenster und sahen, dass brandrote Helle die Nacht erleuchtete. Johlende Stimmen, dazu das Klirren zersplitternden Glases, anschwellend in einem schrecklichen Crescendo. Braunhemden rannten die Straße hinunter wie eine Räuberbande, warfen Steine in Fenster, fuchtelten drohend mit Knüppeln. Lisa fragte sich, ob sie betrunken waren. Durften Soldaten denn trinken? Trotz der späten Stunde rannten Dutzende von Nachbarn auf die Straße. Lisa sah Herrn Mendelsohn, den Drogisten, aus seiner Tür stürzen und beobachtete fassungslos, wie zwei SA-Leute ihn hochhoben und in das Schaufenster seiner Apotheke warfen. Sie hörte seine Schmerzensschreie, riss Sonia vom Fenster zurück und zog sie in das Schlafzimmer, das sie teilten. »Rasch unters Bett und bleib da«, rief Lisa. Sonia blickte flehend auf. »Unter das Bett!«, befahl Lisa und rannte in den Flur, um ihre Mutter zu suchen.

»Lisa!« Ein Schrei ertönte von der Treppe. Sie eilte hinunter und fand ihre Mutter, den Kopf des Vaters im Schoß haltend. Sein Gesicht war blutüberströmt, seine Kleider zerrissen.

»Es ist nur eine kleine Platzwunde, Lisa, keine Angst«, sagte der Vater, als er Lisas entsetzten Gesichtsausdruck sah. »Bei dir alles in Ordnung? Wo sind Sonia und Rosie?«

»Sonia habe ich unters Bett gesteckt. Rosie hat doch gesagt, sie wollte weg zu Leo, weißt du noch? Lass mich dir helfen mit Papa.«

Sie nahm den einen Ellbogen, Mutter den anderen. Untergehakt führten sie Abraham langsam treppauf. Als sie noch einmal einen Blick durch die Haustür warf, sah Lisa, wie Dutzende von Menschen durch die Straße getrieben und geprügelt wurden.

Malka und Abraham hatten ein wunderschönes Bett aus hochglanzpoliertem Kirschbaum. Das Bett betrachtete Malka als ihren kostbarsten Besitz. Nie durften sich die Kinder auf die glatten weißen Atlasdecken setzen, die Malkas Großmutter gehört hatten. Jetzt, da sie Abraham aufs Bett gehoben hatten, säuberte Malka seine Wunden mit einem warmen Tuch und achtete nicht auf die Blutflecken, die auf das Bettzeug fielen. Behutsam pflückte Lisa Glasscherben aus den Falten seiner Kleidung, während ihr Vater die Schema rezitierte, das alte Gebet des jüdischen Volkes: »Shema Yisrael, Adonai Eloheinu, Adonai Echad«, »Höre Israel! Der Herr, dein Gott, der Herr ist Einer!« Endlich beruhigte er sich und begann zu erzählen.

»Gerade war ich bei Rothbard aus der Tür, da sah ich sie. Ich wusste, etwas war im Busch. Sie marschierten nicht mehr. Sie waren ein Pöbelhaufen. Sie wechselten sich ab beim Fenstereinschlagen, zuerst die Schaufenster, als ob es ihnen Spaß machte – sie berauschten sich an dem Krach. Dann schrieben sie mit Farbe hässliche Wörter.«

»Was für Wörter, Papa?«

»Schhh«, sagte Malka, »das müssen wir nicht wissen.«

»Ihr werdet sie früh genug zu sehen kriegen: ›Juden‹, ›Judenschweine‹, ›Bringt die Juden um!‹ Einer hat eine Benzinflasche in ein Haus geworfen.« Lisa gefror das Blut bei den Worten ihres Vaters. Malka wischte die letzten Blutspuren von Abrahams Gesicht. »Psst, Schluss jetzt. Du musst jetzt etwas Suppe essen.« Aber Abraham berichtete weiter: »Ich habe gesehen, wie sie Leute aus den Häusern gezerrt haben. Sie haben ihre Habe genommen und verbrannt. Kinder, die auf die Straße gelaufen sind, haben sie einfach zu Boden geworfen. Gut, dass ihr in der Wohnung geblieben seid.«

»Erzähl uns nichts mehr, Papa.«

»Aber ihr müsst doch erfahren, was ich gesehen habe! Als ich an der Synagoge vorbeigelaufen bin, haben sie den Schrein auf die Straße gezerrt und die Thorarollen herausgerissen. Sie haben sie auf die Straße geworfen und angezündet. Die Thora! Auf der Straße! In Flammen!«

Er hielt inne und schöpfte Luft: »Und keine Feuerwehrsirenen. Sie wollten offenbar, dass alles verbrennt.«

»Ich mache das Radio an, Papa. Vielleicht gibt es Sondermeldungen.« Lisa rannte ins Wohnzimmer und drehte an dem großen Wählknopf des Rundfunkapparats. Ein Strom deutscher Marschmusik erklang. Abraham kam ins Zimmer, barfuß, vorsichtig, um nicht in Glasscherben zu treten, und stellte das Radio ab.

Neue Schreie ertönten vom Fenster. Sie rannten hin und sahen aus dem Eckhaus Flammen schlagen. Nachbarn bildeten schon eine Eimerkette. Männer mit Kübeln kamen die Straße heruntergerannt.

»Malka, ich brauche meine Schuhe!«

Schweigend ging Lisas Mutter ins Schlafzimmer und brachte ihrem Mann die schweren Straßenschuhe. Er schnürte sie in Sekunden und rannte die Treppe hinunter um zu helfen. Verängstigt starrte die Familie aus dem Fenster. Immer weitere Brandherde nährten den Feuerschein. Bücher und Hausrat wurden in die Glut geworfen. Plötzlich packten mehrere Braunhemden die Männer aus der Eimerkette und zerrten sie auf die Straße. Starr vor Grauen sah Lisa, wie ihr Vater gezwungen wurde, sich nackt auszuziehen, hinzuknien und das schmutzige Pflaster zu schrubben. »Schweine! Judenschweine!«, schrien die Soldaten der SA und versetzten ihnen Fußtritte, wenn sie sich nicht schnell genug bewegten. Malka konnte die Schande nicht mehr ertragen. Sie nahm ihre beiden Mädchen bei der Hand und führte sie ins Schlafzimmer. Schweigend warteten sie, bis diese schreckliche Nacht zu Ende ging.

Die Pianistin von Wien

Подняться наверх