Читать книгу Urvertrauen und Bindungsfähigkeit - Monika Arnold - Страница 6
ОглавлениеVorwort
Die Idee, meine Erfahrungen und die damit verbundenen Erkenntnisse in einem Buch zusammenzufassen, begleitet mich schon lange.
23 Jahre haben mein damaliger Mann und ich unser Leben mit Kindern und Jugendlichen geteilt, als sogenannte Sozialpädagogische Pflegefamilie (in Folge SPP genannt). Für die Bewilligung musste mindestens ein Elternteil eine sozialpädagogische Ausbildung haben. Kinder, die nicht mehr bei ihren Eltern wohnen konnten, nahmen wir auf und betreuten sie bei uns in der Familie. Sie hatten in der Regel eine Vorgeschichte mit traumatischen Erlebnissen. Kinder, die Gewalt und Verwahrlosung in jeglicher Form erlebt hatten.
Fremdplatzierungen finden dann statt, wenn das leibliche und seelische Wohl der Kinder gefährdet und eine gesunde Entwicklung nicht mehr gewährleistet ist.
Wir bekamen 1990 die Anerkennung zur Führung eines Kinder- und Jugendheimes mit sechs Plätzen. Das hieß auch, im familiären Rahmen die Auflagen zur Führung eines Kinder- und Jugendheimes zu erfüllen Am Anfang waren wir noch Pioniere in der Heimszene, es gab noch wenig Strukturen für diese Form der Fremdplatzierung (1). Im Laufe der Zeit haben sich Strukturen entwickelt und die Anforderungen, auch von außen, stiegen stetig an. So mussten wir im administrativen Teil die gleichen Bedingungen erfüllen wie ein Kleinheim und waren der kantonalen Aufsicht unterstellt.
Infrastruktur, Personalschlüssel, Budgeterstellung, doppelte Buchhaltung, Leitbild und Konzept, genügend Platz im Haus, eine geeignete Einrichtung zur Verfügung stellen, für die Einhaltung der Brandschutzmaßnahmen sorgen und vieles mehr.
Üblich für Fremdplatzierungen waren Heime mit wechselnden Bezugspersonen und Strukturen, Kinder wurden nach Altersgruppen oder Indikationen eingeteilt und betreut. So kam es oft vor, dass Kinder während ihres Heimaufenthaltes mehr als zehn verschiedene Bezugspersonen hatten, oder es zu mehreren Umplatzierungen in andere Institutionen kam.
Mit der Zeit wurden diese Heimstrukturen auch für die SPPs entwickelt und die Anforderungen von außen stiegen ständig. So mussten wir, wie schon erwähnt, im administrativen und organisatorischen Teil die gleichen Bedingungen erfüllen wie ein Kleinheim. Regelmäßige Meldungen an die Aufsichtsstelle bzw. das Amt für Soziales mussten gewährleistet sein. Ebenso wie den Aufbau einer Trägerschaft und der internen Aufsicht anzugehen und umzusetzen. Dazu gehörte auch das Erstellen eines Leitbildes und Konzeptes zur Führung einer kantonal anerkannten Kleininstitution.
Ausgangslage:
Wir bewirtschafteten damals einen kleinen Bergbauernbetrieb und wurden angefragt, ob wir Ferienkinder betreuen könnten. Diese Kinder fühlten sich rasch wohl bei uns und erholten sich schnell und lebten auf. Erstaunlich, da wir sie einfach an unserem Alltag teilnehmen ließen. Sie waren mit uns draußen auf der Wiese und im Stall und sie schienen das zu genießen. Eine interessante Erfahrung, was Strukturen und Regelmäßigkeit im Alltag für ein Kind ausmachen.
Wir erfuhren 1987, dass wir nie eigene Kinder haben werden, ohne Kinder zu leben war für uns unvorstellbar. Uns dem medizinischen Stress aussetzen und auf anderem Wege Kinder bekommen, wollten wir nicht. Wir nahmen dies als Herausforderung an und beschlossen Kindern, die nicht bei ihren leiblichen Eltern leben können, ein Zuhause zu geben. Den Ausschlag dazu gab das Erlebnis mit den Ferienkindern und die Anfrage einer Beiständin, ob wir uns vorstellen können, ein Pflegekind zu betreuen. Da ich ausgebildete Sozialpädagogin war, mein Mann Landwirt und später noch die Ausbildung zum Arbeitsagogen absolvierte, erfüllten wir die wichtigste Grundlage zur Fremdbetreuung. Somit begann die Arbeit mit den Pflegkindern in einem familiären Rahmen.
Das hieß, diese Kinder, denen wir einen familiären Rahmen bieten wollten, hatten eine Vorgeschichte. Einfach so, ohne Vorgeschichte, wird kein Kind aus seiner Ursprungsfamilie herausgenommen und fremdplatziert. Zu dieser Zeit wussten wir noch nicht, dass wir noch zwei eigene Kinder bekommen werden und die Ärzte sich geirrt hatten. So wurden wir auch seitens einer Therapeutin auf die Möglichkeit zur Führung einer SPP aufmerksam gemacht.
Wir stellten 1989 ein Gesuch an das Amt für Soziales in unserem Kanton und beantragten die Bewilligung zur Führung einer Kleininstitution.
So schlossen wir uns einem Fachverband von mehreren sozialpädagogischen Pflegefamilien an, gründeten einen Trägerverein und erfüllten die an uns gestellten Auflagen. Kurze Zeit später im Januar 1990 erhielten wir die Betriebsbewilligung zur Führung einer „heilpädagogischen Pflegefamilie“. So wurde diese Institution damals anfänglich genannt.
Der kleine Bergbauernbetrieb war aus unserer Sicht eine gute Basis für die Betreuung von Kindern. Mein Mann und ich waren beide zu Hause, er ging seiner Arbeit nach als Landwirt. Somit erlebten die Kinder, dass nicht beide Elternteile/Pflegeeltern zu Hause sind, sondern gearbeitet werden muss, um sich seinen Lebensunterhalt zu verdienen. So, wie es auch bei anderen Familien der Fall war, Normalitätsprinzip (2). Auf den Betrieb konnten wir zusammen mit den Kindern den Alltag gestalten. Sie halfen uns bei der Tierpflege und erlebten hautnah, was es heißt, verbindlich zu sein. Das schienen sie selbst kaum erlebt zu haben, und so fiel es ihnen auch schwer, sich verbindlich zu zeigen.
Im Mai 1993 zogen wir mitsamt unserem kleinen Bauernbetrieb um. Wir konnten ein großes Haus mit dreihundert Quadratmetern Wohnfläche kaufen, mit 2,5 Hektar Land dazu. So konnten wir den Kindern den Platz bieten, den sie benötigten, und uns auf die Betreuung der Kinder konzentrieren.
Dazu kam, dass es auch Auflagen gab vom Amt für Soziales, wie viel Platz wir zur Führung der Kleininstitution bieten mussten.
Die Landwirtschaft diente hauptsächlich dazu, mit den Kindern uns selbst zu versorgen und Tiere zu halten. Im April 1994 kam das vierte Pflegekind dazu und kurze Zeit später waren alle sechs bewilligten Plätze besetzt.
Mit der Zeit merkten wir, wie schwierig es war, sein Leben mit Kindern und Jugendlichen zu teilen, die schlechte Voraussetzungen bei ihrem Lebensstart hatten. Sie hatten so viele Ressourcen und Fähigkeiten und konnten diese kaum nutzen „Ihre Lebenseinstellung …?“. Tja das ist schwer zu beschreiben, von außen nicht sichtbar, für Außenstehende nicht spürbar. Diese Kinder schienen eine negative Lebenseinstellung zu haben und sich oft auch ungeliebt, unerwünscht zu fühlen.
Wie konnte das sein? Woher kam dieses Gefühl, nicht geliebt zu sein, nichts zu können, nichts wert zu sein. Von dieser Lebenseinstellung waren sie kaum wegzubringen und es war im Alltag stets spürbar.
Wie? Durch eine niedrige Frustrationstoleranz (3), inneren Rückzug, sich nichts zuzutrauen, gar nicht erst versuchen, etwas anzugehen, Angst, zu kurz zu kommen, durch Schreien, durch Toben, durch Aggressionen und vieles mehr …
Aus diesem Grunde haben wir uns ganz fest mit dem Thema Bindungsfähigkeit und Urvertrauen auseinandergesetzt, und was das für das Leben und die Entwicklung eines Kindes bedeutet.
Auch denke ich, dass es ganz wichtig ist für Familien, die Kinder aufnehmen, oder Personen, die Kinder betreuen zu wissen, was es heißt, wenn kein Urvertrauen entstanden ist.
Mit dem Wissen fällt es leichter zu verstehen, warum gewisse Dinge nicht machbar sind. Das Selbstvertrauen niedrig und wenig Verbindlichkeit vonseiten der Kinder vorhanden ist. Die Angst vor Verletzungen bei den Kindern ist oft so hoch, dass sie sich und wichtige Menschen in ihrem Leben verletzen.
Die Beziehungen, die sie haben, werden auf den Prüfstand gestellt, eigentlich um herauszufinden, ob die Beziehung hält, auch wenn sich die Kinder „unmöglich“ verhalten. Eine spezielle Art, dies zu zeigen. Vor allem, dies dann als Betreuungsperson nicht persönlich zu nehmen. Im Zusammenleben Tag und Nacht ist dies eine große Herausforderung. Die Kinder, welche verletzt worden sind, sprechen mit ihrem Verhalten eine ganz andere Sprache, die man verstehen muss, um dies im Alltag einzuordnen und auszuhalten.
Die ersten zwei Pflegekinder betreuten wir ab 1987, 1990 nahmen wir das dritte Pflegekind auf, ja, und dann gab es eine Pause bei den Aufnahmen. Dieses Kind forderte uns auf unglaubliche Art und Weise. So nahmen wir vorerst keine Kinder mehr auf. Wir mussten uns rund um die Uhr um das 18 Monate alte Kind kümmern. Es war verwahrlost, konnte nicht reden, reagierte nicht auf seinen Namen und schien in seiner eigenen Welt zu leben. Das Kind schlief 16 Stunden und in den acht Stunden, die es wach war, musste es 1:1 betreut werden. Es war nicht gewohnt, Kleider zu tragen, nicht gewohnt, am Tisch zu sitzen und zu essen, nicht gewohnt, gepflegt zu werden. Wir mussten uns langsam herantasten und herausfinden, wie wir eine Nähe aufbauen konnten. Da keine Sprache vorhanden war, dieses Kind in seiner Entwicklung retardiert war, waren wir gefordert in der Betreuung. Es wäre nicht möglich gewesen, noch mehr Kinder zu betreuen, da wir ja noch zwei Jugendliche zu betreuen hatten.
Wir waren völlig überrascht, als wir 1991 erfuhren, selbst Eltern zu werden. Nach einer OP war es eine positive Folge, dass ich unerwartet schwanger wurde, medizinisch kaum möglich.
Nun ja, wir bekamen 1992 unsere Tochter und 1993 unseren Sohn. Dies war für uns und die Pflegekinder eine große Umstellung, war doch die Ausgangslage eine ganz andere als geplant. Die Angst unerwünscht zu sein, sogar abgelehnt zu werden, wurde wieder stärker vonseiten der Kinder. Haben sie mich noch gern? Müssen wir jetzt gehen? Bevorzugen sie die eigenen Kinder? Was passiert nun mit mir? Haben sie uns weniger gern?
In diesen 23 Jahren haben wir viele Erfahrungen gesammelt, viele Höhen und Tiefen erlebt und immer wieder nach vorne geschaut. Darum möchte ich diese Erfahrungen und das Wissen gerne teilen.
Mit dem Ziel, Personen anzusprechen, welche mit diesem Thema konfrontiert werden, selbst betroffen sind, oder mit Betroffenen das Leben teilen. Was ist passiert auf der seelischen Ebene?
Die Menschen ohne Wenn und Aber so anzunehmen und sich selbst sein zu lassen. Entwicklung zu ermöglichen und nicht zu erwarten, dass dies dann auch angenommen wird, ist wirklich nicht einfach. Das ist mit vielen Hoch und Tiefs verbunden, um es dann im täglichen Zusammenleben aushalten zu können.
Wenn man versteht,
was in einer verletzten Seele passiert,
ist die Chance groß, dass es zu tollen
Begegnungen kommen kann.
Das Potenzial und die Möglichkeiten der Betreuten sind sichtbar und trotzdem können die Kinder/Jugendlichen keinen Zugang dazu finden.
Dazu gehört sicher auch zu spüren, wann es Zeit ist, loszulassen. Wir haben so einige Kinder betreut, diese meistens zwischen 6 und 14 Jahren begleitet.
Welche Rolle spielt die Bindungsfähigkeit
in diesem Zusammenhang?
In dieser Zeit haben wir sehr viel an uns gearbeitet, reflektiert und erlebt. Immer wieder gemerkt und gespürt, dass wir nur an unserer Haltung arbeiten und nicht die Menschen verändern können.
Von den Kindern zu erwarten, dass sie sich ändern, war nicht möglich. Die Herausforderung bestand darin, herauszufinden, was wir brauchen, um mit diesen Situationen umgehen zu können. Was ist tragbar, was nicht? Was für einen Rahmen können wir bieten? Wann müssen wir andere Lösungen suchen für die Kinder. Wo ist die Grenze?
Interessanterweise hat sich oft mit dem Perspektivenwechsel oder mit dem Blickwinkel von der Metaebene einiges gelöst und wir haben dann einen Umgang mit den speziellen Situationen gefunden.
So waren wir stets gefordert in unserer Rolle und als Individuum.