Читать книгу TEE macht tot - Monika Clayton - Страница 11
Оглавление8. Kapitel
Mit der Loibl war nun auch die letzte Seniorin verstorben, die Balthasar Sebastian Rohrasch vom Stulp übernommen hatte. Nachdenklich legte er seinen Kopf auf seine Schreibtischplatte und starrte einfach vor sich hin. Es würde zwar keine Auswirkungen auf seine Todesstatistik haben, dennoch wurmte es ihn gewaltig, sie verloren zu haben. Mit dem Sterben hätte sie sich ruhig noch zwei Monate Zeit lassen können, dachte er verdrossen, dann hätte ihre Verweildauer mit zehn Jahren zu den längsten gezählt. Sie hatte doch außer ihrem vorzeigbarem Alter nichts, weswegen man sterben musste. Über ihr plötzliches Dahinscheiden war er also mehr als überrascht.
Ruckartig richtete er sich wieder auf. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn und ruckelte seine Brille wieder in Position. Angestrengtes Nachdenken brachte ihn immer zum Schwitzen. Grüblerisch starrte er auf seinen Bildschirm. Klickte hier und klickte da, doch der Algorithmus seines Computerprogramms lieferte ihm keinerlei Hinweise darauf, dass er mit so etwas hätte rechnen müssen. Aber irgendwo in seinem Programm musste ein Fehler liegen, da war er sich sicher.
Denk nach Rohrasch, denk nach!, ermunterte er sich selbst. Einige Mausklicks später hatte er auf dem Bildschirm, was er gesucht hatte. Die Gesundheitsberichte seiner Leutchen waren, bei einigen zumindest, doch sehr veraltet. Bei der Loibl war der werte Herr Doktor vor vier Wochen das letzte Mal gewesen. Sicher, Margot, die Stationsschwester hatte täglich Puls und Blutdruck gemessen, aber das war ganz offensichtlich nicht ausreichend genug gewesen.
Ein kurzes Gespräch mit dem Arzt, und schon war seine Idee beschlossene Sache: Balthasar Sebastian Rohrasch brauchte ganz dringend einen aktuellen Gesundheitsbericht; aller seiner Bewohner. Mal sehen, was sein Algorithmus über den einen oder anderen so ausspuckte!
Er ordnete also einen allgemeinen gesundheitlichen Vorsorgecheck an. Ab sofort sollten die Tage im Zeichen Konstitution im Alter stehen. Ungeachtet dass Wochenende war, bekam jeder der Senioren seinen Termin genannt.
Esthers Termin fiel auf den Montag, genau auf den Zeitpunkt, als das Frühstück anstand, was ungemein irritierend für sie war. Da sie nur ungern von ihrem geregelten Leben abwich, störte es sie natürlich, dass sie dadurch ihre zwei mit Aprikosenmarmelade bestrichenen Semmeln verspätet genießen musste. Jeden Morgen aß Esther Friedrichsen diese, immer um dieselbe Uhrzeit. Sie hatte noch nie ein Frühstück, den Mittagstisch oder das Abendessen versäumt. Und das hatte sie vor, auch weiterhin so beizubehalten.
Außerdem musste sie montags auch zu den Gräbern. Ihr ganzer Zeitplan würde durch Rohraschs Übereifer durcheinandergebracht werden. Um bis zum Mittagessen ihre Termine erledigt zu haben, müsste sie sich schon sehr sputen. Ob sie das schaffen würde?
Sie beschloss, das Büro vom Rohrasch aufzusuchen. Er musste einsehen, dass er nicht so einfach in ihren Tagesplan eingreifen konnte. Schließlich machte sie ihre Tagespläne, um sich auch daran zu halten. Ansonsten bräuchte sie doch keinen Plan. Dann könnte sie aufs Geratewohl in den Tag hineinleben, was ihr aber schon rein gedanklich missfiel.
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Energisch klopfte es an Rohraschs Tür, was er allerdings nur im Hintergrund seiner Konzentration auf seinen Bildschirm mitbekam. Gedankenversunken rief er: „Herein!“, ohne sich jedoch der eintretenden Person zuzuwenden. Die ersten Arztberichte mussten schnellstmöglich in die Statistik eingepflegt werden.
Bei Frau Winter im ersten Stock ließ ihn ein kleines Blasenproblem die Stirn runzeln. Wenn hier nicht sorgfältig darauf geachtet wurde, dass sie nicht ohne Kissen auf der Bank im Garten saß, konnte sich daraus eine richtiggehende Entzündung entwickeln. Auf einen externen Zettel schrieb er die Anweisung, Frau Winter, wenn sie sich im Park aufhielt, nicht aus den Augen zu lassen.
Bei Herrn Karl war die Sache schon etwas problematischer. Trotz regelmäßiger Untersuchungen, hatte die nun unplanmäßige Untersuchung, einen Anstieg seiner Insulinwerte zu Tage gebracht, was nur bedeuten konnte, dass er sich nicht an seinen Ernährungsplan hielt. In der Anweisung für das Personal stand: Zimmerdurchsuchung. Besonderes Augenmerk auf ihn, während der Essenszeiten!
Ferner: Beobachtung während des Gemeinschaftstages. Außerdem: Bewegung, Bewegung, Bewegung!
„Mein Termin muss verschoben werden!“, hüstelte ihn eine alte Frau, um Aufmerksamkeit heischend, an.
Verwundert sah er kurz nach oben. „Wer sind Sie?“, fragte er knapp und hackte weiter schonungslos in seine Tastatur.
„Esther Friedrichsen aus dem dritten Stock.“
„Aha. Und um welchen Termin geht es?“
Esther Friedrichsen verdrehte die Augen. „Es geht um meinen Vorsorgetermin, der sehr ungelegen kommt, da gleich Frühstückszeit ist.“
„So, so.“ Balthasar Sebastian Rohrasch betrachtete die alte Dame mit einem weiteren Seitenblick. Zu korpulent, befand er, aber dem Anschein nach trotzdem gesund. „Und wann sagen Sie, ist Ihr Termin?“
„Jetzt! Aber jetzt ist auch gleich Frühstückszeit!“
Sie klang darüber fast schon besorgt, weshalb er ihr nun doch seine ganze Aufmerksamkeit schenkte. Besorgte alte Menschen konnten leicht die Fassung verlieren, wusste er. Das wiederum konnte zu unkontrollierbaren körperlichen Reaktionen führen. Das wusste er ebenfalls - dank seiner Recherchen. Vorsorglich öffnete er die Akte „Friedrichsen“ auf seinem Bildschirm: Arthrose und Übergewicht. Aha! Keine gute Kombination. Und da stand sie jetzt vor ihm und ereiferte sich darüber, dass sie zu spät zu ihrem Frühstück kommen würde. Seltsam, seltsam! Rohrasch zog die Augenbrauen zusammen, was seine Brille wieder etwas tiefer rutschen ließ.
„Ein alter Mensch wie ich ist an sein pünktliches Mahl gewöhnt“, versuchte Esther ihr Anliegen zu erklären. „Genauso wie an die Gesichter, mit denen ich am Tisch sitze. Das verstehen Sie doch, oder?“
Balthasar Sebastian Rohrasch blieb verdutzt die Sprache weg. Er sah das Mütterchen mit seinen riesigen Augen an. „Vielleicht nicht so ganz“, sagte er zaghaft. „Was meinen Sie, mit Gesichtern?“
„Ich will meine gewohnten Unterhaltungen, mit den gewohnten Menschen, zu gewohnter Uhrzeit führen!“ Beinahe hätte sie mit ihrem Fuß aufgestampft. Sie bemühte sich, sich zu beruhigen und setzte sich vor Rohrasch Schreibtisch auf einen Stuhl. „Sie meinen es sicherlich gut“, fuhr sie ruhiger fort, „aber etwas mehr Rücksicht auf die Gewohnheiten der Bewohner hätten Sie schon haben können.“
Balthasar Sebastian Rohrasch grübelte. War das der Grund, warum die Loibl gestorben war? Weil sie nicht mehr die gewohnten Unterhaltungen, mit den gewohnten Leuten, führen konnte?
Das Schweigen des Heimleiters ließ Esther ebenfalls verstummen. Worüber er nachdachte, wusste sie nicht, doch sie hoffte darauf, dass er bereit wäre, ihren Termin zu verschieben. Optimistisch schaute sie ihm dabei zu, wie er die Termine seiner Schützlinge durchging. Immer wieder klopfte er auf seine Tastatur ein, hielt inne, um dann weiter zu klopfen.
Danach wandte er sich Esther wieder zu. Ernst war sein Gesicht. Er faltete die Hände über seinem Schreibtisch und schüttelte den Kopf. Die Prüfung hatte ergeben, dass er keinen anderen Termin zur Verfügung hatte. Bereitwillig erklärte er auch den Grund dafür. „Sehen Sie Frau Friedrichsen, die Terminvergabe wurde der berechneten Dauer einer Untersuchung angepasst. Ebenso an den Schweregrad mancher Vorerkrankungen. Würde ich Ihren Termin verschieben, wären alle Folgenden ebenso verschoben. So ein Wirrwarr kann ich nicht riskieren. Nein! Beim besten Willen nicht.“
Esther verzog das Gesicht und guckte auf die Uhr. Jetzt begann das Frühstück.
„Ihre Untersuchung dauert doch nicht lange“, versuchte er, Esther Enttäuschung zu besänftigen.
„Ob es nun fünf Minuten sind oder eine halbe Stunde, zu spät ist zu spät!“ Mit der Entscheidung ganz und gar unzufrieden, erhob sich Esther. „Was sind Sie nur für ein verbohrter Mensch“, brummelte sie, während sie in Richtung Tür schlurfte. „Wie kann man nur so auf die planmäßige Einhaltung der Termine bestehen? Ich gehe jetzt frühstücken!“
Balthasar Sebastian Rohrasch stützte seinen Kopf in die Hand und blickte ihr nach. „Ich mache Ihnen einen Vorschlag Frau Friedrichsen“, sagte er flehentlich, als sie schon fast die Bürotür erreicht hatte. „Wenn Sie sich nur heute netterweise an Ihren Termin halten, verspreche ich, werde ich künftige Termine Ihrem Tagesplan anpassen.“
Esther blieb stehen und ließ sich seine Worte durch den Kopf gehen. Endlich nickte sie. Der Rohrasch gab sich doch wirklich alle Mühe, seine Senioren glücklich zu machen, da durfte sie jetzt nicht so stur sein, entschied sie − wenn auch widerwillig. Sie machte sich auf den Weg zu der kleinen Praxis, die sich ebenfalls im Erdgeschoss neben Rohraschs Büro befand.
Währenddessen warf der gutmütige Dr. Ralf Liebherr einen Blick in die Krankenakten seiner Patienten. Bisher waren sich die Bewohner ausnahmslos alle einig gewesen, dass die Untersuchung, die der Rohrasch angeordnet hatte, zum einen unnötig sei und zum anderen ungelegen kam. Und er war derjenige, der den Unmut zu spüren bekam.
Entschlossen klopfte es an seiner Tür.
Dr. Liebherr war sich sofort darüber im Klaren, dass dies auch bei seiner nächsten Patientin der Fall sein würde. Langsam wurde die Klinke heruntergedrückt, und herein schlurfte Esther Friedrichsen.
„Hallo Frau Friedrichsen“, begrüßte er Esther und trat ihr entgegen. „Wie geht es uns denn so?“
„Nicht so schlecht, als dass ich deswegen auf mein Frühstück verzichten müsste“, entgegnete Esther spitz und ließ sich auf den Stuhl vor dem Arztpult nieder. Sie hatte sich zwar bereit erklärt, den Termin einzuhalten, aber gerne tat sie es nicht. Aber das hatte der Rohrasch auch nicht verlangt.
„Gut, versuchen wir, die Untersuchung schnell über die Bühne zu bringen!“ Freundlich wies er Esther Friedrichsen an, sich abhören zu lassen, prüfte Blutdruck, Augenreaktion, Ohren, Rachen und Reflexe. Der Routine wegen stellte er noch eine Unmenge gesundheitlicher Fragen, die sie knappgehalten mit „ja“, „nein“, „nein“, „ja“, „geht so“ beantwortete. Sorgfältig schrieb er sich danach ihr Gewicht auf und äußerte augenzwinkernd, dass etwas abzunehmen und weniger fettreiche Kost ihren Gelenken ganz gut täte, was wiederum ihrem mittlerweile belastetem Herzen etwas Erleichterung schenken würde.
Überlegend stierte Esther ihn an, kam dann aber zu dem Entschluss, dass sie mit ihren 83 Jahren wirklich keine Diät mehr beginnen sollte. „Nein!“, schüttelte sie den Kopf. Ihr Lebtag habe sie noch keine Diät gemacht und werde sicherlich nicht jetzt noch damit anfangen. Außerdem sei sie viel zu sehr an ihre regelmäßigen Mahlzeiten gewöhnt, als dass sie sich noch umstellen wollte. „Wenn es Zeit zum Gehen ist, hilft ohnehin keine Diät. Halten Sie mich einfach in dem Zustand, in dem ich mich befinde!“, erteilte sie dem Arzt Anweisung, „und ich tue das Meinige mit Kräutertees. Und so Gott will und nichts dazwischen kommt, lassen sich damit sicherlich noch fünf Jahre herausschlagen, vielleicht auch mehr. Das wird sich zeigen.“ Abrupt stand sie auf und richtete ihre Kleidung.
Verwundert versprach der Arzt, während er sie zur Tür geleitete, zu tun, was ihm möglich sei. Dass man sich mit Senioren auf keine Diskussionen einlassen sollte, hatte er, seitdem er hier auf St. Benedikta Dienst tat, sehr schnell gelernt. Und so entließ er Esther Friedrichsen aus der hauseigenen Praxis.
Diese machte sich auch gleich auf den Weg, um nun endlich zum Frühstückstisch zu eilen.
Hektisch und ungeordnet ging es im Speiseraum zu, was Esther Friedrichsen ganz und gar nicht gefiel. Ständig hörte man einen Stuhl über den Boden schleifen, sich jemanden verabschieden oder sich begrüßen. Die Plätze des Ehepaares Teifler waren leer, als sie den Speisesaal mit einer halbstündigen Verspätung endlich betrat. Frau Teifler hatte, soweit Esther wusste, gerade jetzt ihren Termin. Lisa Müller steckte sich noch hastig die letzten Bissen in den Mund. Ihr außerplanmäßiger Vorsorgetermin war in 20 Minuten. Also nach Frau Teifler, aber vor Herrn Teifler.
Konzentriert wendete Esther sich ihrem Brotkörbchen zu. Schnitt, wie sie es immer tat, erst beide Semmeln auf, bestrich alle vier Hälften gleichmäßig extra dick mit Butter und häufte dann, ebenfalls gleichmäßig, Aprikosenmarmelade darauf. Ausgehungert schlang sie ihr Frühstück in sich hinein; mit dem letzten Bissen stellte sie jedoch fest, dass der nicht wie immer war. Abwartend blieb sie am Tisch sitzen. Vielleicht stellte sich das Sättigungsgefühl ja doch noch ein. Zehn Minuten wartete sie und lauschte den Gesprächen, die sie heute jedoch kaum fesselten. Sie gönnte sich einen Schluck Orangensaft, dann noch einen, aber der Hunger verging einfach nicht.
Das mag wohl auch der Grund gewesen sein, warum sie das tat, was sie tat, denn eigentlich machte sie nie etwas Unrechtmäßiges.