Читать книгу TEE macht tot - Monika Clayton - Страница 6
Оглавление3. Kapitel
All seine Analysen, all seine Statistiken konnten ihm nicht weiterhelfen. Hilflos stand er dem Problem Alter gegenüber. Er wusste, er musste eine Entscheidung treffen, denn allein und ohne professionelle Hilfe käme er nicht weiter.
Im allwissenden Netz stieß er auf St. Benedikta. Nicht weit entfernt und rein äußerlich machte es einen idyllischen Eindruck.
Heimleiter Stulp, ein alter unsympathischer Mann, dem seine Betriebsblindheit förmlich aus dem Gesicht sprang, versicherte Balthasar Sebastian Rohrasch jedoch, eine gute Entscheidung getroffen zu haben. Seine Mutter sei bestens in St. Benedikta aufgehoben.
Mit einem mulmigen, dumpfen Gefühl der Hilflosigkeit verabschiedete er sich von seiner Mutter. Aber was blieb ihm anderes übrig, als den Worten des Stulp Glauben zu schenken?
Hätte er geahnt, dass seine Mutter in diesem Haus sich mehr oder weniger selbst überlassen blieb, und dass sie nicht mehr lange leben würde, hätte er sicherlich kehrt gemacht. Samt seiner Mutter.
Die erste Nacht wälzte sich Balthasar Sebastian Rohrasch unruhig im Bett. Gegen zwei Uhr morgens fuhr er beunruhigt hoch. Hatte er nicht gerade den Fußboden knarzen gehört? Kurzfristig geriet sein Herz außer Takt. Kam nun doch der Tod bei ihm vorbei? Oder war seine Mutter womöglich abgehauen und nach Hause zurückgekehrt?
Langsam drehte er den Kopf in Richtung Fenster. Schweißgebadet schreckte er hoch.
Schluckend saß er im Bett und schüttelte sich den Traum ab. Knurrig warf er die Decke zurück und ging in die Küche. Dort saß er mitten in der Nacht am Küchentisch und legte seinen Kopf auf die Tischplatte. So wie er es die ganzen letzten Monate getan hatte. Zehn Minuten blieb er reglos sitzen und starrte vor sich hin. Danach stand er auf und brühte sich einen Kaffee auf. Die Tasse in der Hand, tigerte er mit leerem Blick durch das Haus.
Die Stille war kaum zu ertragen. Er vermisste das Schleudern der Waschmaschine, sogar den Duft nach Gebratenem und die nächtlichen Putzanfälle seiner Mutter. Verdammt, er vermisste seine Mutter. Unschlüssig stand er vor ihrer ehemaligen Zimmertür, überlegte kurz, und dann legte er sich für den Rest der Nacht in ihr Bett.
Seine täglichen Besuche in St. Benedikta waren von Müdigkeit begleitet. Jetzt, wo er eigentlich die Nächte hätte schlafen können, saß er vor seinem Rechner und stellte Recherchen an. Über das Alter an sich, über Alterskrankheiten, alternative Betreuungsmöglichkeiten, Lebenserwartung im Altenheim. Gerade im Hinblick auf die Lebenserwartung waren die Aussichten nicht rosig.
Und dann gestand es Balthasar Sebastian Rohrasch sich ein. Mit St. Benedikta hatte er wohl nicht die beste Entscheidung seines Lebens getroffen. Und Entscheidungen hatte er schon wahrlich viele treffen müssen. Wie falsch sie aber wirklich war, musste Balthasar Sebastian Rohrasch feststellen, als bei einem seiner täglichen Besuche seine Mutter fixiert im Rollstuhl saß. Er wäre kein guter Sohn gewesen, wenn er nicht gefragt hätte, was das zu bedeuten hätte. Schrecklich war der Anblick, aber offensichtlich eine gängige Methode.
Sie sei eine sehr schlagkräftig alte Dame, erklärte Stulp ihm beruhigend, und die Entscheidung, gemeinsam mit dem Heimarzt, sei nur zu ihrem eigenen Schutz und dem der anderen.
Der Stulp war offensichtlich kein Mensch, der seine Entscheidungen ordentlich durchdachte. Denn warum sonst, kam man auf so eine Idee? Balthasar Sebastian Rohrasch sah es als seine Aufgabe an, Stulp seine Unterstützung anzubieten. Nach eingehender Recherche, unter analytischen Gesichtspunkten betrachtet, und unter Zuhilfenahme seiner Statistikkenntnisse, war die Lösung schnell gefunden: solche Patienten, wie seine Mutter, benötigten mehr Aufmerksamkeit und Betreuung. Mit einer bis zwei weiteren Fachkräften ließe sich das Problem sicherlich schnell lösen.
Das sei undenkbar, wies der Stulp empört diese abstruse Idee zurück. Das Heim trage sich gerade mal so selbst, mit mehr Personal könne er es doch gleich an die Wand fahren.
Er sei Finanzanalyst, stellte der Rohrasch daraufhin klar, und er wisse sehr wohl, wie ein Unternehmen Gewinn abwerfe. Hier und da einige Veränderungen, dann ließe sich aus St. Benedikta ein finanziell gut gestelltes Heim machen, dem es auch nicht an Personal mangeln würde.
Gegen die Verbohrtheit, des alten unsympathischen Stulp kam Balthasar Sebastian Rohrasch jedoch nicht an.
„Abgelehnt!“, verwies der Heimleiter ihn des Büros.
Aber der Rohrasch wäre nicht der Rohrasch gewesen, wenn er bei einmal gewonnenen Erkenntnissen locker gelassen hätte. St. Benedikta war seinem Geschmack nach viel zu unorganisiert. Dieses ständige Kommen und Gehen, der unregelmäßige Tagesablauf, die nicht durchdachten Zimmerbelegungen, alles das ließ ihn schwindlig werden. Wie sollte ein alter Mensch wie seine Mutter hier nur Beständigkeit empfinden, fragte er sich.
Balthasar Sebastian Rohrasch beendete sein Studium der Zwischenmenschlichkeit, das er theoretisch ohnehin voll drauf hatte. Nun galt es, sich ein neues Wissensgebiet anzueignen. Das Studium über das Leben und die Sterbegewohnheiten der alten Leutchen wurde zur Mission.
Bald war Balthasar Sebastian Rohrasch der Meinung, dass eine bessere Grundversorgung die hohe Todesrate dieses Heims sicherlich senken würde. Effizientere Zimmerbelegungen würden Probleme der Alterseinsamkeit lösen. Ähnliche Interessen sollten in einem Stockwerk zusammengelegt werden. Der Stulp würde sehen, wie gut das den alten Menschen tun würde.
Und so mischte er sich bei jedem Besuch ungefragt in den Heimalltag ein. Immerzu sah sich Heimleiter Stulp mit neuen Erkenntnissen konfrontiert. Erkenntnisse, die dieser Rohrasch aus dem Internet zog. Statistisch gesehen wäre der Rentner besser doch mit Diesem und Jenem versorgt.
Heimleiter Stulp raufte sich die Haare, noch bevor Balthasar Sebastian Rohrasch überhaupt die Schwelle von St. Benedikt übertreten hatte. Doch im Zuge dieser Kopfmassagen hatte der Leiter von St. Benedikta eine geniale Idee. Warum, die Einrichtung nicht einfach abstoßen?
Das Heim war unwirtschaftlich, er fühlte sich zu alt, zu überfordert, und außerdem nervte ihn der besserwisserische Rohrasch. Wenn der Rohrasch doch alles besser wusste, warum nicht ihn fragen? Der könnte die Betreuung seiner Mutter wieder selbst übernehmen, von der er sich einst so überfordert gefühlt hatte.
„Was halten Sie von einer Übernahme?“, fragte Stulp, als Balthasar Sebastian Rohrasch wieder eine seiner neu gewonnenen Erkenntnisse preisgab.
„Von einer Übernahme?“, fragte Rohrasch überrumpelt.
„Von einer Übernahme!“, antwortete Stulp.
„Und wie darf ich das bitte verstehen?“
„Sie übernehmen St. Benedikta. Ich gehe in den Ruhestand, und wer weiß, wenn meine Zeit gekommen ist, komme ich vielleicht als einer ihrer Bewohner zurück. Aber erst genieße ich mein Leben.“
„Sie würden sich also selbst in Ihr Heim begeben?“
„Nicht unbedingt, aber wer weiß schon, was später einmal ist. Vielleicht haben Sie es ja tatsächlich drauf?“
So führten sie das Frage-Antwort-Spiel eine Zeit lang im Büro fort, bis Stulp aufstand und zu seinem Fenster marschierte. Er winkte den Rohrasch um seinen Schreibtisch herum und wies mit dem Finger die Auffahrt hinauf zur Straße. „Sehen Sie den Friedhof?“
Rohrasch nickte, ohne wirklich hinzusehen. Schließlich fuhr er täglich daran vorbei. Viel interessanter war da schon der Blick auf Stulps Monitor. Kein Wunder, dass es hier so chaotisch zuging. Selbst der Desktop war ein einziges Durcheinander. In Rohrasch Fingern kribbelte es. Am liebsten hätte er sich hingesetzt und Ordnung geschaffen.
Heimleiter Stulp zog Balthasar Sebastian Rohrasch vom Schreibtisch weg ans Fenster. Auf der anderen Seite sah man die Grabsteine des gegenüberliegenden Friedhofes über die hüfthohe Friedhofsmauer ragen. Etwas weiter hinten war eine Kapelle mit einem kleinen Anbau auszumachen. Ehemals seien der Friedhof und St. Benedikta ein großes Gelände gewesen und das Altenheim eine ehemalige Klosterschwesternunterkunft, erzählte Stulp die Geschichte des Heimes. Irgendwann, das sei aber sicherlich schon an die 50 Jahre her, habe die Kirche eine neue Schwesternunterkunft errichtet. Größer und besser. Nachdem die Geistlichkeit samt Schwesternschaft ausgeflogen war, habe der Kirchenrat den Pfarrer Johann in die kleine Pfarrwohnung, die hinter der Kapelle stand, gesetzt.
Das Gelände sei geteilt worden, was dem Straßenbauamt nicht ungelegen gekommen war, denn ruckzuck wurde eine Verbindungsstraße Richtung Starnberg Stadt gebaut. Das alte Schwesternhaus wurde einer reichen alten Frau verkauft, mit der Auflage, dass der Name immer bestehen bleiben müsse.
Die alte Frau habe das Haus nach ihrem Tod an eine gemeinnützige Stiftung vererbt, die jedoch mehr an Barem als an Immobilien interessiert gewesen sei. Das Haus sei in den letzten 30 Jahren wohl so an die acht Mal verkauft worden, bis es dann irgendwann in seine Hände gelangte. Heute würden der Friedhof und das Altenheim nur noch den Namen gemeinsam tragen, erklärte der Heimleiter. Und außerdem meinte Stulp weiter, erspare der Friedhof in der direkten Nachbarschaft lange Transportwege. „Also? Übernehmen Sie?“, kam Stulp urplötzlich wieder auf seine eigentliche Frage zurück.
Balthasar Sebastian Rohrasch, der keine Entscheidung aus dem Bauch heraus treffen wollte, bat um etwas Bedenkzeit und stellte einige Überlegungen an, die jedoch durch den Tod seiner Mutter unterbrochen wurden.
Mag es vielleicht äußerlich nicht den Anschein erweckt haben, dass er im zwischenmenschlichen Bereich Gefühle zeigen konnte, dennoch saß seine Trauer tief. Für die nächsten Wochen stellte er seine Entscheidung deshalb zurück.
Lange dachte er über das nach, was kurz vor ihrem Tode, geschehen war. An ihrem Todestag, von dem er nicht wusste, dass es ihr Todestag sein würde, wurde sie noch einmal sehr klar. Balthasar Sebastian Rohrasch hatte an ihrem Bett gesessen und ihre Hand gehalten.
Liebevoll tätschelte sie sein Gesicht und bedankte sich bei ihm für seine täglichen Besuche, die der einzige Lichtblick in ihrem sonst so trostlosen Dasein in diesem Heim gewesen seien.
Erschüttert und überrascht war Balthasar Sebastian Rohrasch darüber. Überrascht deswegen, weil er nicht gedacht hätte, dass seine Mutter überhaupt noch etwas mitbekam, erschüttert deswegen, weil sie es mitbekam, aber es nicht mehr ausdrücken konnte. Am meisten schmerzte es ihn jedoch, dass sie ihre letzten Momente als trostlos beschrieb.
Dieser traurige Umstand war das letzte Puzzlestückchen, das ihm zu seiner Entscheidung noch gefehlt hatte.
Balthasar Sebastian Rohrasch unterschrieb die Übernahmepapiere und trat als neuer Heimleiter in ein fast morbides Unternehmen ein, dessen Bestand ebenfalls recht angeschlagen war. Unsicher war er, wie lange er diese Leutchen bei sich halten konnte.
Voller Tatendrang bugsierte er seinen Rechner in sein neues Büro und machte sich daran, sein selbst gestecktes Ziel zu erreichen. Er stellte einen neuen Arzt ein, neue Schwestern, die jedoch alle zuerst seinem Für und Wider standhalten mussten. Anschließend plante Balthasar Sebastian Rohrasch das Leben seiner Senioren, wie er es für seine Mutter getan hatte. Er schrieb ein Programm, mit dessen Hilfe St. Benedikta ein freudvolles Haus mit langer Verweildauer werden sollte.
Mit 50 Jahren wähnte er sich am Ziel.