Читать книгу TEE macht tot - Monika Clayton - Страница 4
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Schon früh hatte sein Vater ihn gelehrt, jede Entscheidung, die er für sein Leben treffen musste, genau abzuwägen und von verschiedenen Faktoren abhängig zu machen.
„Welche Faktoren sind das?“, wollte der 7-jährige Balthasar Sebastian Rohrasch wissen.
„Das ist abhängig von dem, was dein Ziel ist, mein Junge“, erklärte der Vater. „Nicht der Weg bestimmt dein Ziel, sondern das Ziel deinen Weg.“
„Das verstehe ich nicht, Vater.“
Vater Rohrasch nahm sich ein Blatt Papier setzte sich an den Küchentisch und holte sich seinen Sohn auf den Schoß. „Hast du ein Ziel“, erklärte der Vater, während er flink eine Tabelle auf das Papier kritzelte, „dann schreib dir alles auf, was dir dazu einfällt, um dahin zu kommen.“
„Meinst du meine Wünsche?“, erkundigte sich der kleine Balthasar Sebastian Rohrasch mit wissbegierigem Blick.
„Nein, mein Sohn, ein Wunsch ist einer der Schritte, um ein Ziel zu erreichen.“
„Aber ist das denn nicht dasselbe?“ Der kleine Junge verstand das nicht.
„Nein, ein Wunsch hat mit dem Ziel nichts zu tun. Wünsche kannst du Hunderte haben, alle gleichzeitig, aber durch hundert Ziellinien kannst du nicht gleichzeitig rennen. Pick dir aus deiner Wunschliste einen Wunsch heraus, mach ihn zu deinem Ziel, und dann fang an zu laufen!“ Der Vater rutschte seinen Sohn wieder ordentlich auf seinen Schoß und erläuterte ihm alles noch einmal. „Hör zu, Junge! Angenommen, du willst ein Auto, diese neue Erfindung, den Computer, ein Haus und ein Pferd haben!“
„Einen Computer hätte ich sehr gerne, aber was soll ich mit einem Pferd?“, warf der Junge fragend ein.
„Es ist nur ein Beispiel, und jetzt hör zu! Angenommen, du willst das alles haben, wo würdest du anfangen?“
„Ich weiß es nicht“, seufzte der kleine Balthasar und schaute angestrengt nach oben, um darüber nachzudenken.
„Siehst du!“, munterte der Vater ihn auf, „ich würde das auch nicht wissen. Alle vier Dinge zu bekommen, würde nämlich bedeuteten, dass ich mir ein weiteres übergeordnetes Ziel stecken muss. In diesem Fall das Geld. Ich muss also so viel verdienen, damit ich mir alle vier Dinge gleichzeitig leisten kann. Der Weg, den ich einschlagen müsste, wäre entbehrungsreich und lang. An allen vier Wünschen müsste ich erst einmal vorbeilaufen, um dann später zurückzugehen, um sie mir zu erfüllen. Aber es gibt auch einen anderen Weg. Mach dir für den Anfang nur einen deiner Wünsche zum Ziel! Der Weg dorthin ist realisierbar. Wenn du dieses Ziel erreicht hast, kannst du zum nächsten Ziel laufen. Ein Sieg, mein Junge, wird in kleinen Etappen gewonnen, immer nur in kleinen Etappen!“
Langsam verstand der kleine Balthasar, was sein Vater ihm sagen wollte. „Hast du dich deswegen für den Beruf des Totengräbers entschieden, Vater? War das dein Ziel?“
„M-hm …, fast“, nickte sein Vater. Das sei der Beruf, der ihn seinem Ziel näherbringen sollte; sein Wunsch sei es gewesen, eine Arbeit zu bekommen, die unabhängig von Rezession sei und gut bezahlt wurde, erklärte der Vater. In der Nachkriegszeit sei es schwierig gewesen, eine Arbeit zu finden. Verdammt schwierig! Deshalb habe er sich drei Berufe notiert, die gute Chancen hatten, ihn seinem Ziel näher zu bringen: Bäcker, Metzger und Totengräber. Diese habe er einander gegenübergestellt, und nachdem er das zu erwartende Einkommen, die künftigen wirtschaftlichen Entwicklungen und sein persönliches Interesse ermittelt hätte, sei der Beruf des Bäckers durch das Raster gefallen. Die frühen Arbeitszeiten hätten so ganz und gar nicht zu seinen persönlichen Vorlieben gepasst; auch die Einkünfte seien nicht sehr berauschend, da helfe es auch nichts, dass Brot immer ein Lebensmittel sein würde, welches Menschen benötigen würden. Der Vater räusperte sich: „Blieben also nur noch der Beruf des Metzgers und der des Totengräbers.“
Beide Berufe konnten durchaus mit einer gewissen Kontinuität aufwarten, denn auch in Zukunft würde der Mensch ein Fleischfresser bleiben, und somit wäre dieser Beruf auch weiterhin gefragt. Allerdings würde auch weiterhin gestorben werden, weshalb der Punkt 'wirtschaftliche Entwicklungen' nicht aussagekräftig genug war. In diesem Fall halfen Vater Rohrasch jedoch die persönlichen Vorlieben weiter.
Und so schied auch der Metzger aus, da dieser Beruf doch eine sehr blutige Angelegenheit sei. Mit Blut habe er so seine Probleme, ließ er seinen Jungen wissen. Wenn es aber seinem Ziel, nie arbeitslos zu werden, dienlich gewesen wäre, hätte er sich zwar überwunden, aber da noch eine Alternative vorhanden war, habe er sich eben für den Beruf des Totengräbers entschieden.
Dass er seinen Beruf nach diesem Prinzip ausgewählt und es tatsächlich geschafft habe, in seinem ganzen Leben nicht einmal beschäftigungslos zu sein, sei ein Beweis dafür, dass er richtig entschieden hatte.
An seinem elften Geburtstag schenkte Vater Rohrasch seinem Sohn den ersten Rechner. Es war ein Commodore C64. Ob er einer der Ersten war oder einer von vielen, der in das Computerzeitalter einstieg, wusste Balthasar Sebastian Rohrasch nicht. Ob er wegen dieses Geschenks seine Leidenschaft für Statistiken und Zergliederungen entwickelte? Vermutlich. Aber auch sein Vater hatte wohl seinen Teil dazu beigetragen.
Natürlich war der kleine Rohrasch zu Beginn, wie jeder Junge, mehr an den Spielen interessiert, doch im Laufe der Jahre entwickelte er eine Leidenschaft, wie sie nur ein Nerd verstehen würde. Er programmierte, entwarf und perfektionierte seinen Umgang mit dem Computer wie eine Köchin ihre Rezepte. Sein beruflicher Werdegang war ihm somit vorgezeichnet: Balthasar Sebastian Rohrasch wurde Finanzstratege. Bis ins Detail zergliederte er Finanzmarktinformationen und zog daraus Rückschlüsse, ob und inwieweit sich ein Unternehmen entwickeln würde.
Mitte der 90er-Jahre, da war er bereits 26 Jahre alt, kam ihm das Internet zu Hilfe. Die Datenbeschaffung war kein mühseliges Unterfangen mehr. Jeder stellte alles ins Netz, es musste nur noch analysiert werden. Die Informationsflut war nicht mehr aufzuhalten. Sehr zu Balthasar Sebastian Rohraschs Freude. Tagein tagaus hockte er vor seinem Bildschirm und übte sich im Umgang mit dieser für ihn faszinierenden Welt. Und das nicht nur beruflich.
Tief arbeitete er sich ins Netz. Er ergründete Dinge, die er, wenn er danach gefragt wurde, nur als dieses und jenes benannte. Angesprochen wurde er jedoch selten und schon gar nicht von Mädchen. Seine großporige Haut mit Narben, die von einer starken Akne herrührten, schreckte Mädchen ab. In seine Augen, die durch seine starke Brille auf unnatürliche Art groß erschienen, sahen sie nur ungern. Frauen fühlten sich in seiner Nähe ungefähr so wohl, wie ein mariniertes Steak auf Erdbeersorbet. Da half es auch nichts, dass er den analytischen Verstand seines Vaters besaß.
Dies störte den noch jungen Balthasar Sebastian Rohrasch aber nicht. Theoretisch wusste er ohnehin alles über Frauen. Er wusste, wie ein Zungenkuss funktionierte und auf was man dabei achten musste. Er wusste, wie man um ein Date bat und dass Kondome nicht nur vor ungewollter Schwangerschaft schützten. Aber nur weil man alles weiß, musste man noch lange nicht alles ausprobieren.
Bei einem war sich Balthasar Sebastian Rohrasch in späteren Jahren jedoch sicher. Den Beruf des Totengräbers würde sein Vater heute nicht mehr wählen. Nein, ganz sicher nicht, denn zu seines Vaters Zeiten verstarb man noch, wenn es an der Zeit war. Heute konnte man bestenfalls noch darauf hoffen, dass einem ein Herzinfarkt schnell aus dem Leben riss. Andernfalls hatte man eine geraume Zeit vor sich, in der sich Ärzte mit Hilfe von Maschinen auf Teufel komm raus der Lebenserhaltung verschrieben. So leicht starb es sich heute einfach nicht mehr. Heute musste ein Totengräber sich nicht nur auf Erdarbeiten verstehen, sondern auch in Geduld üben.
Aber nicht nur sein Arbeitsfeld hatte Balthasars Vater nach strtegischen Gesichtspunkten geplant, auch die Auswahl seiner Frau wurde im Vorfeld genauestens durchkalkuliert.
Er studierte Erziehung, Angewohnheiten und die Erwartungen, die seine künftige Frau an ihn stellen würde, fügte noch die für eine Frau nicht ganz unwichtigen wirtschaftlichen Anliegen dazu und verband dies alles mit seinen eigenen Interessen sowie Vorlieben. So gelangte er zu dem Ergebnis, dass die Mutter seines Sohnes die bestmögliche Wahl war.
Dem konnte Balthasar Sebastian Rohrasch beipflichten: Seine Mutter war die beste Mutter, die man sich nur wünschen konnte.
Vielleicht konnte er dies nicht immer so zeigen, aber er liebte sie wirklich.
Mit 32 Jahren, er lebte noch immer bei seinen Eltern in einem kleinen Häuschen am Rande des Starnberger Sees, wünschte sich seine Mutter nichts mehr, als dass ihr Sohn nun endlich in die Puschen käme und sich eine Frau suchte.
Diesen Wunsch konnte Balthasar Sebastian Rohrasch ihr allerdings nicht erfüllen. Nein, Ambitionen in Bezug auf eine Frau hegte er nicht. Die würde ihn doch von jenem und welchem abhalten oder sich gar noch Kinder von ihm wünschen. Nein, auch seine Neigungen im Hinblick auf Kinder waren eher gering. Seine Art, Entscheidungen zu treffen, hatte ihn dazu angehalten, das Pro und Contra für eine Frau aufzulisten, und das Ergebnis hatte wesentlich mehr Contras geliefert.
Sein Vater hielt seine Argumentation für sehr schlüssig. Er fand sich damit ab, dass er sein Wissen nie einem Enkel würde weitergeben können.
Doch dann verstarb Vater Rohrasch sehr plötzlich und ohne viel Aufsehen.
Nun übernahm Balthasar Sebastian Rohrasch die statistische Lebensplanung für sich und seine Mutter.
Fragen zu klären, wie, ob es Fisch oder Fleisch geben sollte, oblagen nun ihm. Wäre Gymnastik oder leichter Ballsport für seine Mutter besser? Würde eine Renovierung der Fenster einen Mehrwert für das künftige finanzielle Wohlergehen der Familie schaffen? Sämtliche Pros und Contras gegenübergestellt, fand er zu jeder Zeit eine zufriedenstellende Lösung.
Das lief lange gut, denn Mutter Rohrasch war eine liebenswerte, fleißige Dame, die ihn stets bei seiner Entscheidungsfindung unterstützte.
Dass er aber mit 40 Jahren seinen Beruf als Finanzstratege an den Nagel hängen, in ein Altenheim übersiedeln und für plötzliche Tode nichts mehr übrig haben würde, hätte er sich in seinem wüstesten Tabellarium nicht ausrechnen können.