Читать книгу Hexenherz. Goldener Tod - Monika Loerchner - Страница 11
ОглавлениеKapitel 4
Als Désirée am nächsten Morgen kommt, um Kolja abzuholen, erwarte ich sie bereits vor unserem Zelt. Sie und Kolja hatten es sich zur Angewohnheit gemacht, ihr Frühstück morgens mitzunehmen und unterwegs zu verzehren. Himmelfraugöttin nochmal, wieso habe ich das nicht unterbunden?
»Weil du keine dieser unbedarften, hilflosen Mütter sein wolltest, die meint, alles kontrollieren zu müssen, nur weil sie keinen Mann hat, der sich um das Kind kümmert. Weil du locker sein wolltest« – so in etwa würde wohl die richtige Antwort lauten. Was im Endeffekt – und dafür brauche ich nun wirklich keine Seelenärztin zu befragen – einfach darauf hinausläuft, dass ich will, dass mein Sohn mich nicht nur liebt, sondern auch mag. Verdammt. Erziehungskompetenztechnisch der totale Reinfall also. Wenn ich allerdings jemals gedacht hätte, den Kleinen noch erziehen zu müssen, wäre ich wahrscheinlich schreiend weggerannt. Und wenn ich »erziehen« einfach durch »beschützen« ersetze? Dann klingt es tausendmal besser, bei den Sieben Finsterhexen, und nicht so verflucht nach Kerlekram. Gut, beschützen also. Und dazu gehört, dass ich jetzt erstmal dafür sorge, dass Kolja Ruhe bekommt.
»Guten Morgen!«, begrüßt mich Désirée gut gelaunt. »Ich wollte Kolja abholen.«
»Sorry, das wird heute nichts.« Noch bevor die Rebellin etwas einwenden kann, füge ich hinzu: »Und morgen auch nicht. Kolja ist krank.«
»Was?« Sofort nimmt das Gesicht der blonden Rebellin besorgte Züge an. Ich kann nur hoffen, dass ihre oberste Sorge meinem Sohn und nicht der Mission gilt. »Was hat er denn?«
»Das weiß ich noch nicht genau. Auf jeden Fall ist er total erschöpft und soll erstmal ausschlafen. Danach sehen wir weiter.«
»Hm.« Sie senkt den Blick, knabbert an ihrer Unterlippe.
Ich hake nach: »Ist dir in der letzten Zeit etwas an ihm aufgefallen?«
Sie lacht hart auf. »Er sah müde aus, das ja. Aber tun wir das nicht alle? Adrian treibt alle an, weil wir Geld brauchen, um die nötigen Dinge zu kaufen. Das Leben als Rebellin war immer schon hart, aber die letzten Wochen … Wer nichts Materielles beisteuern kann, wird auf Botinnengänge geschickt. Und alles hängt davon ab, dass wir vorwärtskommen.« Sie reibt sich das Gesicht, es wirkt eingefallen und grau. Ich bin wohl wirklich die Einzige hier, die vor lauter Nichtstun schon Fett angesetzt hat.
»Kolja und ich stehen unter enormem Druck.« Sie lässt die Schultern hängen. »Ich hätte besser auf ihn Acht geben sollen. Bei der Göttin, er ist erst 15!«
»Lass das.« Ich knurre es eher, als ich es sage. »Mir ist auch nichts aufgefallen, und ich bin seine verdammte Mutter!«
Einen Moment lang starren wir uns unglücklich an.
»Kann ich etwas tun?«
Ich zucke mit den Schultern. »Ich wüsste ehrlich gesagt nicht, was. Oder doch, vielleicht … Kennst du dich mit Kräutern und so Zeugs aus? Oder kennst du eine, die es tut?«
»Du meinst Heilkräuter?«
»Ja, etwas in der Art. Ach, keine Ahnung!« Wieso nur hat es Adrian in all den Jahren nicht gebacken gekriegt, eine Frau mit Heilmagie anzuwerben? »Irgendwas halt. Zur Stärkung, oder für die Atemwege, falls es eine Erkältung ist.«
»Hustet Kolja denn?«
»Nein.«
Göttin, ist das deprimierend. Kolja war nie groß krank gewesen und wenn er mal Bauchschmerzen hatte, hat ein ganz normaler, heißer Tee immer ausgereicht. Ich weiß, dass Baldrian beim Einschlafen hilft, Pfefferminze gegen Halsschmerzen und Kamille oder Fenchel gegen Übelkeit. Wie diese Pflanzen allerdings aussehen und welche Teile genau davon benötigt werden, ist mir ein Buch mit sieben Siegeln. Wenn Kire und Selym krank waren, hat sich immer mein Vater um sie gekümmert, oder eben die Ärztin aus dem Nachbarinnnenort. Jetzt wünschte ich, ich wüsste mehr über so etwas.
»Na ja«, Désirée seufzt, »weißt du was? Dann mache ich eben mal frei. Wenn man das bei all dem Chaos hier so nennen kann. Ich hole mir Frühstück – soll ich dir etwas mitbringen?«
»Nein, danke!« Obwohl … »Ja, bitte! Rieche ich da Speck?« Das wäre ja mal was! »Falls ja, bitte eine doppelte Portion, bevor wieder alles weg ist!«
Ein Rascheln lässt mich herumfahren: Kolja ist aufgewacht.
Ich krieche in das Zelt. Mein Sohn hat sich ein Stück weit aufgerichtet und blinzelt verschlafen umher.
»Guten Morgen, Mama«, sagt er heiser und räuspert sich dann. »Wie spät ist es?«
»Egal«, bescheide ich und würde am liebsten losheulen, weil er so verdammt normal klingt. »Du hast heute frei und die nächsten Tage auch. Keine Widerrede, ich habe Désirée schon Bescheid gegeben. Sie ist übrigens ganz auf meiner Seite. Sie kann eine Pause auch gut gebrauchen, also keine Sorge.«
Seufzend lässt er sich wieder auf das Fell sinken, das ihm als Matratze dient.
»Willst du noch liegen bleiben?«
»Geht das denn?«
»Alles, was du willst!«
»Ach nein«, er rappelt sich wieder auf. »Wir müssen doch sicher weiter.«
»Das hat Adrian nicht allein zu bestimmen. Alle sind müde und erschöpft.« Außer mir, versteht sich. »Ich werde ihn fragen und wenn er was dagegen hat, dann kann er mich mal im Ar–«
»Mama!«
»Na ist doch wahr!«
Ich krieche rückwärts aus dem Zelt. Da Désirée noch nicht wieder da ist, scheint das mit dem Speck noch etwas zu dauern. Also kläre ich die Sache mit Adrian am besten gleich. So wie ich ihn kenne, ist er vermutlich sogar froh darüber, einen Grund zu haben, seinen Leuten eine Pause zu verschaffen. In seiner Brust schlagen zwei Herzen: Eigentlich will er nur in Ruhe gelassen werden und mit Gleichgesinntinnen ein Leben führen, wie sie alle es für richtig halten, fern der Goldenen Gesetze. Andererseits ist er aber intelligent genug um zu wissen, dass die Goldene Frau dies nie zulassen wird. Und dass er seine Leute daher auf den Ernstfall vorbereiten muss.
»Ein Leben auf der Flucht ist nur dann etwas wert, wenn du es auch Leben nennen kannst«, hatte er mir einmal anvertraut und so auf die Diskrepanz hingewiesen, die ihm jeden Tag zu schaffen macht. Nie hat er eine daran gehindert, wieder in die Gesellschaft zurückzukehren, wenn sie es wollte, und immer haben diejenige Adrians beste Wünsche begleitet.
Ich gehe Richtung Marzenas und Adrians Zelt. Noch bevor ich es erreiche, ruft der Anführer meinen Namen.
»Helena!«
Keuchend kommt er von hinten auf mich zu gerannt. Hinter ihm Marzena, Franko und Julian, einer von Martinas Leuten.
Adrian packt mich am Arm. »Wir müssen weg hier, Helena! Die Südgarde! Stufe 5! Treffpunkt Sumpfeiche!«
Mehr sagt er nicht, sondern rennt weiter und gibt dabei hektisch Kommandos. Stufe 5, da muss die Garde verdammt nah an uns dran sein.
Kolja!
Ich renne zurück zu unserem Zelt. Göttin sei Dank, dass es nichts Ernstes ist und mein Sohn anscheinend wirklich nur etwas Schlaf gebraucht hat!
Obwohl ich nicht gerade leise bin, rührt sich nichts, als ich ins Zelt krabbele.
»Mojserce? Steh auf, wir müssen weg hier. Stufe 5, Treffpunkt Sumpfeiche!«
Zu wissen, wo wir alle wieder zusammenkommen würden, ist fast so wichtig, wie die Flucht an sich.
»Komm schon, Kolja, steh auf!«
Er rührt sich nicht. Neben ihm auf dem Boden liegt ein leerer Becher. Offenbar hat er sich mit Hilfe von Magie etwas Wasser hergeholt.
»Ach komm schon«, sage ich und beginne, meine nötigsten Sachen zusammen zu packen. Das ist schnell erledigt, denn bei Alarmstufe 5 darf jeder nur exakt drei Dinge mitnehmen. Die meisten hier haben auf die harte Tour gelernt, dass die meisten Gegenstände ersetzt werden können, Freiheit oder gar das eigenen Leben aber nicht. Nun ja, oder sie haben es eben nicht gelernt.
»Kolja!« Langsam werde ich wütend. »Ich find`s ja schön, dass es dir wieder gut genug geht, dass du mich hier veräppeln kannst. Aber ich mache keine Scherze, hörst du? Alarmstufe 5, es ist die Südgarde. Also beweg gefälligst deinen kleinen Hintern!«
Ich stupse ihn an. Nichts. Wahrscheinlich hat dieser Schlingel nur irgendwelchen Kram unter seine Decke gestopft und hat sich weggeschlichen, um mir den Frühstücksspeck wegzufressen. Na warte!
Mit einem Ruck ziehe ich die Decke weg. Mir stockt der Atem. Da liegt Kolja. Das Blut, das aus seinem Mund geflossen ist, gerinnt bereits. Seine Augen sind auf mich gerichtet, aber er sieht mich nicht.
»Kolja!«
»Kolja!«
Ich lasse mich auf die Knie fallen und rüttele an seiner Schulter. Nichts. Göttin, das darf nicht wahr sein!
»Adrian!«, schreie ich, »Hilfe!«
Wieder rüttele ich an Koljas Schultern, weiß nicht, ob ich zuerst nach seinem Herzschlag tasten oder seinem Atmen fühlen soll. Dann endlich, nach den längsten Sekunden meines Lebens, blinzelt er.
»Mojserce!«
»Mama?«
Er hustet und weiteres Blut quillt aus seinem Mund. Vor einer Sekunde war ich noch erleichtert, dass er nicht tot ist. Jetzt legt sich die Angst wieder wie eine Klammer um mein Herz, schnürt mir die Kehle zu. »Kolja, was ist denn mit dir?«
Er hustet weiter. Ich habe nichts hier, nichtmal ein verdammtes Glas Wasser, wenn ich doch nur Magie hätte …
»Komm, setz dich auf, dann bekommst du besser Luft!« Behutsam helfe ich ihm, seinen Oberkörper aufzurichten. Schwer lehnt sich Kolja an mich. Ich greife mir das nächstbeste Ding aus Stoff – ein Oberteil? – und tupfe ihm damit das Blut vom Kinn.
Kolja hustet weiter, doch zu meiner unendlichen Erleichterung erscheint kein neues Blut mehr.
Eine kommt ins Zelt, ich drehe mich kurz um. Adrian.
»Was ist los?«
»Wasser«, antworte ich knapp. Er gibt den Befehl nach hinten weiter.
»Irgendwas ist mit meinem Jungen!«
»Kolja?« Wie kann Adrian in dieser Situation so besonnen klingen? »Kolja, Junge, schau mich an!«
Der tut, wie ihm befohlen.
Adrian mustert ihn, registriert das Blut, das ich nicht ganz abbekommen habe.
»Bekommst du richtig Luft?«
Kolja nickt.
»Kannst du sprechen?«
»Etwas.« Es klingt wieder wie ein Krächzen.
»Tut dir etwas weh?« Mein Sohn schüttelt den Kopf und stöhnt. »Ich bin nur so … unfassbar … müde.«
Hätte ich mich nicht hinter ihn gehockt, er hätte sich wohl einfach zu Boden fallen lassen. Schwer drückt Koljas Gewicht gegen mich. Göttin hilf, was ist nur los mit meinem Kleinen? So etwas kommt doch nicht von heute auf morgen. Was hat mein Junge? Und was habe ich übersehen?
Es ging ihm gestern Abend schon nicht gut. Ich hätte mir Sorgen machen und die ganze Nacht über ihn wachen sollen! Stattdessen habe ich geschlafen wie ein Stein – und jetzt …
Ich kann nicht verhindern, dass mir Tränen über die Wangen laufen. Der Schmerz ist zu wild, meine Angst zu groß.