Читать книгу Mia und der Erbe des Highlanders - Morag McAdams - Страница 10
Kapitel 6
ОглавлениеDer Sommer kam und mit ihm die Erntezeit. Für alle Hausangestellten gab es nun viel zu tun. Die Bauern brachten ihre Abgabe an Korn, Früchten und Gemüse zum Hof. Mr Stewart bestimmte, was damit gemacht wurde. Das Korn musste gemahlen werden, doch das Obst und Gemüse händigte er Helen aus, die tagelang damit beschäftigt war, es haltbar zu machen. Die Mädchen wechselten sich damit ab, ihr zur Hand zu gehen. Sie kochten Marmelade und Kompott, setzten Holunderschnaps und Liköre an, legten Gurken und Bohnen ein und zogen anderes Gemüse zum Trocknen auf lange Schnüre. Am Ende des Tages waren ihre Hände fleckig und wund vom Saft der Früchte.
Mia verrichtete die harte Arbeit gern. Es war eine Abwechslung in ihrem Alltag, der sonst auf Staubwedeln, Bohnern und Waschen beschränkt war. Aber sie bedauerte, dass sie in der Einmachzeit samstags die Bibliothek nicht wienern konnte. Der ruhige Ort war ihr eine Zuflucht geworden, wie ein guter Freund, den man regelmäßig besuchte. Ihre freien Tage verbrachte sie bei ihrer Mutter und ihrem Bruder, doch sie spürte die wachsende Ablehnung. Sie vermutete, dass sie nur noch geduldet wurde, weil sie am Monatsende Geld mitbrachte.
Mia hasste diese Tage. Mutter war stets betrunken und terrorisierte ihre Kinder. Es hagelte Vorwürfe und Schläge. Selbst Benny blieb nicht immer verschont, obwohl Mutters Zorn sich hauptsächlich auf ihre unverheiratete Tochter konzentrierte. Mia überlegte, ob sie Wohngeld entrichten sollte, damit sie auch dann am Hof bleiben konnte, wenn sie nicht arbeitete. Doch noch ging sie alle sechs Tage in ihr Elternhaus. Sie wollte die Bande nicht vollends zerstören, die ihr einen, wenn auch geringen, Halt boten. Außerdem fühlte sie sich für Benny verantwortlich. Ihren kleinen Bruder wollte sie nicht im Stich lassen.
Es vergingen einige Wochen, bis Mia bemerkte, dass sie nur noch einen kleinen Stich verspürte, wenn sie den Namen Frederick hörte. Der Schmerz hatte sich verändert, war zu einem dumpfen Pochen geworden, so stet und ruhig wie ihr Herzschlag. Und als der Sommer sich seinem Ende zuneigte und die Vorbereitungen für ein großes Fest getroffen wurden, ertappte sie sich dabei, wie sie leise sagte: »Das solltest du sehen, Fred. Es ist wunderschön hier.«
Der Geburtstag des Clanchiefs sollte mit einem Bankett begangen werden. Die Adligen, Reichen und Mächtigen der Stadt und der umliegenden Gebiete hatten sich angekündigt. Die Hausmädchen hatten alle Hände voll damit zu tun, Donnahew Castle auf Hochglanz zu bringen. Stellen, die sie sonst nur mit dem Staubwedel geputzt hatten, wurden gefegt, gebürstet und poliert. Der repräsentative Mitteltrakt des Schlosses, in dem sich die Säle und der Eingang zur Bibliothek befanden, wurde mit frischer gelber Farbe gestrichen. Mr Stewart hatte den Handwerkern unter Strafe verboten, mit ihren schmutzigen Stiefeln und farbbefleckten Hemden das Schloss zu betreten. Alle Kronleuchter waren mit neuen Kerzen bestückt und die Gaslaternen im Außenbereich ausgetauscht worden. Die Fenster wurden von den Hausmädchen geputzt und Charlie beschnitt die immergrünen Büsche im Garten des Schlosshofes, was dazu führte, dass weder er noch Mary ihre Arbeit besonders schnell erledigten. Es tat nicht mehr weh, wenn Mia die beiden sah. Sie freute sich für Mary und hoffte, dass Charlie tatsächlich bald um ihre Hand anhielt.
Mia war in die Bibliothek geschickt worden. Durch die vielen Arbeiten, die vor dem Bankett erledigt werden mussten, verrichteten die Mädchen den Großteil ihrer Arbeit allein, obwohl dies vom Berserker missbilligt wurde. Sie hatte bisher noch nicht herausfinden können, warum sich die Mädchen in den hauptsächlich von Männern genutzten Räumlichkeiten nur zu zweit aufhalten durften. Allerdings hatte sie den Verdacht, dass es im Laufe der Zeit nicht nur einen Mann wie Heath gegeben hatte. Alastair William McLaren sorgte gut für seine Angestellten. Nie jedoch hätte Mia gewagt, Anschuldigungen gegen ihren Peiniger vorzubringen. Sie hatte sich die Erniedrigung in dem Wissen, dass niemand etwas unternehmen würde, erspart. Schließlich sah es so aus, als sei alles in bester Ordnung. Doch sie achtete darauf, sich immer in Begleitung aufzuhalten, wenn sie Donnahew Castle verließ, und baute darauf, dass Heath sie nicht vor den Augen seines Brotgebers bedrängte. Ihre Besuche bei Sybilla waren selten geworden.
In der Bibliothek sah sie Frederick an seinem angestammten Platz sitzen. Unter den Bediensteten munkelte man, dass sein komplizierter Beinbruch ihn zum Krüppel gemacht habe, sodass ihm die Rückkehr auf die militärische Akademie verwehrt worden war.
Der Knicks fiel ihr mittlerweile leicht.
»Mylord.«
»Guten Tag, Mädchen.« Entgegen seiner Gewohnheit beließ es Frederick nicht bei einem freundlichen Nicken. »Bist du heute ohne Begleitung da?«
»Ja, Mylord. Alle sind mit den Vorbereitungen für das Fest beschäftigt.«
»Dann hast du sicher viel Arbeit.«
Mia wusste nicht, ob sie ihn ansehen durfte, wenn sie sprach, also blickte sie auf den Boden und hoffte, dass es ihr als Schüchternheit ausgelegt würde, wenn dieses Verhalten falsch war.
»Ja, Mylord. Ich muss die Bibliothek wienern.«
Weil Frederick ihr keine weiteren Fragen stellte, hielt sie das Gespräch für beendet. Sie packte den Eimer fester und ging in den ersten der mit Büchern angefüllten Räume. Sie genoss die Ruhe der Bibliothek und das Gefühl, von Wissen umgeben zu sein, doch sie hatte gelernt, sich nicht mehr nach den Büchern umzusehen, die nur für die Herrschaft bestimmt waren. Es konnten zwar einige der Mädchen lesen und schreiben, doch mit der Allgemeinbildung aus einem anderen Jahrhundert stach sie aus der Masse heraus und sie bemühte sich, das niemanden merken zu lassen. Die Rolle Emmas zu spielen bedeutete relative Sicherheit.
Als sie sich auf die Knie niedergelassen hatte und nach der Wienerbürste griff, sprach Frederick sie erneut an:
»Kannst du lesen, Mädchen?«
Mia sprang auf, denn ganz sicher durfte sie sich nicht die Freiheit nehmen, aus dem Nebenraum zu antworten.
»Ja, Mylord. Ich kann lesen und schreiben«, antwortete sie wahrheitsgemäß, obwohl sie seiner Reaktion bange entgegensah. »Mein Vater hat darauf bestanden, dass wir es lernen.«
Das Herz klopfte ihr bis zum Hals und sie wagte es, aufzublicken. Frederick sah ihr interessiert entgegen. Sein blondes Haar war zerzaust und er wirkte müde, doch er lächelte verhalten. Mia versuchte, die Hoffnung in die Schranken zu verweisen. Sie durfte nicht erwarten, dass er ihr noch einmal Zugang zu diesen Schätzen gab.
»Und wer ist dein Vater, Mädchen?«
»William McGregor, Mylord.«
Frederick sah sie nachdenklich an und Mia befürchtete, er hätte bereits von den aufrührerischen Gedanken erfahren, die ihr Vater in seinen Briefen äußerte. Außerdem wusste er mit Sicherheit von den seit Generationen fortlaufenden Querelen und Kämpfen mit den McGregors, die letztendlich in einer Enteignung des widerspenstigen Nachbarn der McLarens geendet hatte. Schließlich nickte er langsam.
»Dann, Mädchen, solltest du dich beeilen, damit du nach der Arbeit noch Zeit hast, dich hinzusetzen und eines der Bücher zu lesen.«
»Vielen Dank, Mylord.« Sie knickste noch einmal und rannte geradezu an die Arbeit. Noch nie hatte sie den polierten Holzboden mit so viel Elan auf Hochglanz gebracht. Sie strahlte über das ganze Gesicht und zum ersten Mal in der fremden Zeit summte sie ein Lied. Sie durfte lesen! Sie durfte tatsächlich ein Buch aus den Regalen nehmen und es lesen, ohne dass sie dafür gerügt wurde! In den schrecklichen Monaten vor der Trennung ihrer Eltern und noch lange danach waren Bücher ihre besten Freunde gewesen. Mia hatte jeden Lesestoff verschlungen, von Sachbüchern über Kinderliteratur bis hin zur Mythologie. Sie hatte Zugang zu einer Welt bekommen, in der Eltern sich nicht stritten und vor deren Hintergrund ihre eigenen Probleme klein erschienen waren.
Sie sah nicht von ihrer Arbeit auf, um nicht in Versuchung zu geraten, bereits jetzt nach einem geeigneten Buch Ausschau zu halten. Mia arbeitete schneller als an anderen Tagen und hoffte darauf, dass Frederick keinen Mangel entdeckte und ihr das gewährte Privileg wieder entzog. Nachdem sie den dritten Bibliotheksraum geputzt hatte, musste sie das Wasser in ihrem Eimer wechseln. Sie wunderte sich nicht mehr, dass in einem kaum genutzten Raum so viel Schmutz zu beseitigen war. Frances hatte sie ausgelacht, als sie fragte, ob sie das Holz wegschrubbten.
Sie erkannte den Geruch, bevor sie die Stimme hörte. Der Mief dieses einen Menschen war ihr zuwider. Sie würde ihn immer erkennen und ihr würde immer der Atem stocken, so wie er es jetzt tat. Im nächsten Augenblick öffnete sich die Tür zur Bibliothek und sie sah sich mit ihrem Alptraum konfrontiert.
»Heath«, entfuhr es ihr und sie erstarrte, als sein Raubtierlächeln auf sie fiel.
»Emma.« Er säuselte höhnisch ihren Namen. Mia wurde übel vor Angst, als er sie fest um die Taille packte. Er war viel größer als sie und ihr an körperlicher Kraft weit überlegen. Sein Geruch, den sie mit dem Atem der Pest in Verbindung brachte, hüllte sie ein und lähmte ihre Gedanken.
»Lass mich los!«, rief sie schließlich und versuchte, ihn wegzuschieben. »Lass mich gehen!«
Trotz der vielen Menschen, die sich im Schloss aufhielten, hatte der Wächter keine Skrupel, sie noch näher an sich zu ziehen. Er hatte durch Zufall den einen Moment gefunden, in dem niemand eine Tätigkeit in der Nähe verrichtete.
Mia fühlte, wie sehr er seine Macht genoss. Angst durchdrang sie, ihr Atem wurde flach und hektisch, doch sie gab nicht nach.
»Lass mich los!« Das Wasser schwappte aus dem Eimer, als sie sich heftiger gegen seinen Griff wehrte. Sie musste sich befreien!
»Hast wohl doch noch nicht genug, Hure! Ich hatte gedacht, ich hätte dich letztes Mal totgeschlagen. Stell dir vor, wie überrascht ich war, dass du nur Stunden später wieder vor mir standest – etwas zerzaust zwar, aber doch bereit für mich! Glaub mir, ein zweites Mal lasse ich mich nicht von dir zum Narren halten!«
Mia kämpfte. Sie musste ihn abschütteln, sie musste entkommen!
Endlich waren Schritte zu hören, die sie auf Hilfe hoffen ließen. Heath schien das nicht zu stören, er grabschte weiterhin nach ihrer Schulter, ihrer Brust, ihren Haaren, während er sich an ihr rieb.
»Nein!«
Dann wurde die Tür aufgerissen.
»Mylord«, flüsterte Mia beschämt. Sie war hin- und hergerissen zwischen Angst und Erleichterung.
Trotz des Stocks, auf den er sich stützte, war Frederick eine furchteinflößende Erscheinung. Mia hatte ihn bisher nur ruhig in seinem Sessel sitzend erlebt. Selbst in ihrer Angst bewunderte sie die Stärke, die er plötzlich ausstrahlte. Die Aura der Macht, die ihn umgab, und der harte Ausdruck in seinen Augen ließen Heath einen unwillkürlichen Schritt nach hinten machen und sie mit sich ziehen.
»Ich habe nichts getan, Mylord«, beeilte sie sich zu sagen. Es war die Wahrheit, doch sie traute es Heath zu, dass er eine Lüge nennen würde, um ihr zu schaden. Endlich lockerte ihr Peiniger seinen Griff und sie trat von ihm weg. Sie unterdrückte den Impuls, loszurennen und ein sicheres Versteck zu suchen, und so stand sie, nachdem Frederick sie mit einem Nicken abgefertigt hatte, verloren neben den beiden Männern. Die harten Worte, die über Heath herabgingen, rauschten selbst in ihren Ohren. Als er ging, warf er ihr einen hasserfüllten Blick zu, und Mia wusste, dass er Rache schwören würde. Doch sie war noch zu verstört, um darüber nachzudenken.
Mit zitternden Händen griff sie nach einem Lumpen und wischte das verschüttete Wasser vom Boden auf, dann folgte sie dem humpelnden Mann in die Bibliothek. Der Zwischenfall hatte nicht viel Zeit gekostet, vielleicht konnte sie ihre Arbeit noch rechtzeitig abschließen. Frederick saß bereits in einem der Sessel im Leseraum. Sein Bein hatte er wieder weich auf einem Schemel gelagert. Er schien Schmerzen zu haben, doch von seinem Zorn war nichts mehr zu sehen.
»Vielen Dank, Mylord.« Mia war unsicher, ob sie direkt weiterarbeiten sollte oder ob er eine Erklärung von ihr erwartete. Zögernd trat sie weiter in den Raum. Das Adrenalin, das ihr bis zu diesem Augenblick Kraft verliehen hatte, flaute ab. Sie fühlte sich müde und ausgebrannt und am Rande ihres Sichtfeldes tanzten Sterne. Frederick fixierte sie mit einem nüchternen Gesichtsausdruck.
»Wie ist dein Name, Mädchen?«
»Mi-« Beinahe hätte sie sich versprochen. »Emma, Mylord.«
»Emma.« Er nickte, dann verkrampfte sich seine Hand im Stoff seines Hosenbeins, als wolle er sich davon abhalten, die schmerzende Stelle zu massieren. Mia blieb still, denn es stand ihr nicht zu, sich nach dem Gesundheitszustand der Herrschaft zu erkundigen.
»Ich kann nicht verhindern, dass er sich dir unangemessen nähert, Mädchen. Aber wenn er es tut, wäre es besser, wenn du dich dabei in der Öffentlichkeit aufhältst, damit er bestraft werden kann. Solches Verhalten dulde ich nicht!« Frederick hatte sich während seiner kurzen Rede wieder aufgeregt und Mia sah die Wut durchscheinen, die sonst tief in seiner Persönlichkeit schlummerte. Aus dem schmalen Mann mit dem jungenhaften Gesicht wurde ein selbstbewusster Sohn des Clans, der seine Macht zu nutzen wusste. Sie hoffte, dass sich sein Ärger nie gegen sie richtete, doch gleichzeitig war sie fasziniert, wie schnell er sich den Gegebenheiten anpasste. Sein gerechter Zorn veränderte ihn vollkommen.
»Ja, Mylord.«
»Nun, Emma, ich hatte dir versprochen, dass du ein Buch lesen darfst, also solltest du jetzt wieder an deine Arbeit gehen.«
Es herrschte Aufregung im Schlafsaal. Die Mädchen unterhielten sich über das bevorstehende Fest und ihre Aufgaben dabei. Nicht alle waren gut darauf vorbereitet, am nächsten Abend die hohen Gäste zu bewirten. Sie waren unsicher und nervös und wisperten noch lange, nachdem das Licht gelöscht worden war, miteinander.
Mia dagegen ließ den Tag Revue passieren. Nach dem schrecklichen Zusammenstoß mit Heath hatten sich ihre Gedanken nur darum gedreht, wie sie ihm künftig aus dem Weg gehen sollte. Sie wollte es nicht darauf ankommen lassen, dass er sie vor Zeugen belästigte, nur damit Frederick Handhabe gegen ihn hatte. Doch dann war sie ruhiger geworden und hatte sich dem Flair der Bibliothek überlassen. Beinahe hatte sie den Eindruck erhalten, dass Frederick sie bewachte, denn er hatte ihr immer wieder prüfende Blicke zugeworfen, wenn sie sich in seinem Sichtfeld aufgehalten hatte. Und schließlich hatte er sein Versprechen eingehalten.
Von der Fülle der Bücher plötzlich eingeschüchtert, hatte Mia nach dem ersten Buch in einer der Regalreihen gegriffen. Etwas unsicher hatte sie Frederick ihre Wahl gezeigt und er hatte darauf bestanden, dass sie sich zu ihm setzte. Steif hatte sie auf der vorderen Kante eines der Sessel Platz genommen, und so hatten sie gemeinsam dort gesessen und gelesen, als wäre nichts ungewöhnlich daran. Mia hatte in einer Reiseerzählung über die neue Welt geschmökert, während Frederick mehrere Stellen in seinem Wälzer mit Papierstreifen markiert hatte. Ein schneller Blick auf den Ledereinband hatte sie darüber informiert, dass es sich um Literatur zur Heeresführung handelte. Mehrmals hatte sie geglaubt, dass er das Wort an sie richten wollte, doch immer hatte er den Kopf wieder gesenkt.
»Du würdest dich gut mit ihm verstehen, Fred«, überlegte Emma flüsternd unter ihrer Bettdecke. Sie war froh, dass sie in dem Jahrhundert, in dem sie sich nun befand, den Namen ihres Verlobten nicht zu oft hören musste. Zwar hatte der Chief seinem Sohn diesen Namen gegeben, doch sie gebrauchte selbstverständlich eine standesgemäße Anrede.
»Fred«, flüsterte sie erstickt und hoffte umsonst, dass sie zu ihm zurückkehren könnte, wenn sie es nur genug wünschte.
Frederick war freundlich zu ihr. Fast ein wenig zu freundlich, dachte sie, doch sie wollte daran glauben, dass er jeden der Bediensteten so behandelte, weil es in seiner Natur läge. Bestimmt fiel ihr sein Verhalten nur deshalb auf, weil sie es nicht gewohnt war, von den Männern in der immer noch fremden Zeit als eigenständiger Mensch wahrgenommen zu werden.
In der Nacht träumte Mia von den Buchstaben tausender Bücher, die sich wie ein wärmender Mantel um sie legten. In seinem Sessel saß Frederick und nickte wohlwollend.
Hatte die Gruppe der Hausmädchen am Vorabend noch einem Schwarm Bienen geähnelt, so glich sie jetzt einem kopflosen Huhn, das mit letzter Kraft von hier nach dort rannte. In weniger als einer Stunde sollten die Gäste eintreffen. Die Mädchen zerrten an den frisch gebügelten Kleidern, bis sie richtig saßen, und zupften sich gegenseitig die gelben Schürzen zurecht. Ihre Münder standen nicht still. Auf dem Gang vor der Küche übten sie ein letztes Mal, Teller aufzunehmen und wieder abzusetzen.
»Denkt daran«, rief Frances über das aufgeregte Geschnatter hinweg, und Mia sprach jedes Wort in Gedanken mit. »Tragt lieber nur zwei Teller, bevor es Scherben gibt!«
Noch einmal griff jede der acht Hausangestellten, die alle am Abend zur Arbeit verpflichtet worden waren, nach den Tellern, die vor ihnen standen. Die meisten trugen drei Teller, Mia nahm vier, so wie sie es gelernt hatte.
Mit der linken Hand hielt sie zwei, einen dritten Teller klemmte sie mit dem Handgelenk auf ihren Unterarm, und den letzten nahm sie in die rechte Hand. Zwei Gänge würden von den Mädchen serviert werden, beim Hauptgericht schöpften sich die Gäste selbst aus Schüsseln, die auf die Tafel gestellt werden sollten.
Mary klapperte laut mit den beiden Tellern, die sie trug, und ließ einen davon beinahe fallen.
»Mary!«, zischte Mia tadelnd. »Konzentriere dich. Was ist denn los?«
»Ich bin so aufgeregt!«, flüsterte sie.
»Wegen des Banketts? Das ist nicht so schlimm, das schaffen wir schon.« Mia stellte ihre Teller wieder ab und nahm Marys zitternde Hände, um sie zu beruhigen.
»Doch nicht deshalb!«, protestierte Mary und drückte ihre Hände. »Sondern wegen Charlie! Er war bei meinen Eltern und er will mich heiraten! Kannst du dir das vorstellen, Emma? Er wird mich tatsächlich heiraten!«
Mia lächelte die junge Frau an, die vor Freude nicht stillstehen konnte.
»Wie schön, Mary!« Sie hoffte, dass ihre Worte aufrichtig klangen. Ihre Freundin merkte in ihrem Glück nicht, wie verhalten ihre Reaktion war.
»Nicht wahr? Wir müssen aber noch bis zum Sonntag vor Heiligabend warten, weil das die Tradition in Charlies Familie ist. Aber ich muss mich ja auch noch vorbereiten und auch etwas über Krankenpflege lernen, wenn ich seine alte Mutter versorgen will.«
Der Beginn des Festmahls enthob Mia einer Antwort und hielt sie ebenfalls davon ab, darüber nachzudenken, was aus ihr werden sollte, wenn ihre Freundin sich um ihre eine eigene Familie kümmerte.
Mia war in ihrem Element. Servieren, Speisen auftragen und abtragen, das hatte sie schon während ihrer Ausbildung gerne gemacht. Viel zu selten hatte sie an ihrer letzten Arbeitsstelle die Gelegenheit gehabt, den Gästen durch ihre Bedienung ein schönes Erlebnis zu ermöglichen, und jetzt genoss sie jeden Augenblick. Die Hauptverantwortung trug Frances, und während die Gäste das Geburtstagsfest des Clanoberhaupts begingen, standen die Mädchen bereit, um kleinere Aufträge zu erfüllen. Ein Gast wünschte einen Schemel für sein gichtgeplagtes Bein, ein anderer benötigte dieses oder jenes. Auch die Weinkaraffen mussten immer wieder durch volle ersetzt werden.
Verstohlen beobachtete Mia den Berserker und seine Söhne. Bisher hatte sie Kendrick nur selten zu Gesicht bekommen. Mit seiner ernsten Miene und dem zurückweichenden Haaransatz glich er seinem Vater, Alastair William McLaren. Obwohl das Fest zu seinen Ehren stattfand, wirkte der alte Herr fehl am Platz. Er saß zusammengesunken auf seinem Stuhl mit den gepolsterten Armlehnen. Immer wieder fielen ihm die Augen zu, er wirkte ausgezehrt und kraftlos. Außer seinem alten Diener, der hinter ihm stand und ihm immer wieder unauffällig half, schien sich kaum jemand um ihn zu kümmern. Kendrick dagegen stand im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit der Gäste. Mia erkannte außer einigen Größen aus der Stadt niemanden von denen, die um die Gunst des Clanerben buhlten. Dieses unhöfliche Verhalten irritierte sie, und Mia war froh über jede kleine Aufgabe, die ihr Ablenkung bot. Trotzdem kehrte ihre Aufmerksamkeit immer wieder zu der Gesellschaft, der die Geburtstagsfeier als Geschäftsessen diente, zurück. Während ihrer Beobachtungen kreuzte sich ihr Blick oft mit dem Fredericks, der sich als einziger tatsächlich zu amüsieren schien. Als er sie anlächelte, senkte sie den Blick. Sie wollte nicht neugierig erscheinen, doch die fremde Welt der Mächtigen auf dem Land des Clans und der angrenzenden Gebiete faszinierte sie.
Es war weit nach Mitternacht, als alle Gäste schließlich Donnahew Castle verlassen hatten und der Festsaal von den Angestellten aufgeräumt worden war. Müde sanken die Mädchen in ihre Betten. Mia summte noch leise die Melodie des letzten Liedes, das das kleine Streichorchester gespielt hatte, bis ihr die Augen zufielen.
Am nächsten Morgen fiel ihr das Aufstehen schwer. Ihr Rücken schmerzte von der ungewohnten Tätigkeit des Vorabends, und auch das Wetter bot keinen Anreiz, um aus dem Bett zu steigen. Es regnete in Strömen, was für einen Tag Ende September nicht ungewöhnlich war. Mia seufzte in dem Wissen, was schlammige Straßen für den Zustand der Böden und der damit verbundenen Arbeit bedeutete. Zwar gingen nicht viele Menschen auf Donnahew Castle ein und aus, doch es genügte, um den Schmutz im gesamten Gebäude zu verteilen.