Читать книгу Mia und der Erbe des Highlanders - Morag McAdams - Страница 6
Kapitel 2
ОглавлениеMia schlug die Augen auf. Das Gewitter, das so plötzlich begonnen hatte, entlud seine Kraft in einem Wolkenbruch. Benommen rappelte sie sich auf. Sie schien ohnmächtig gewesen zu sein. Vielleicht hatte sie einen Sonnenstich bekommen, als sie mit Fred durch Cosgailkirk spaziert war. Nun prasselte der Regen auf sie herab und in einer nutzlosen Geste strich sie sich das nasse Haar aus dem Gesicht. Sie hatte Kopfschmerzen und richtete ihr Gesicht nach oben, weil ihr der kalte Regen und der frische Wind Linderung verschafften. Ihre Frisur war ruiniert und etwas neidisch dachte sie daran, dass Freds Hut ihn vor dem größten Regen schützte.
Wo war Fred?
Auf wackeligen Beinen trat sie aus dem steinernen Hufeisen und sah sich suchend um. Der Wolkenbruch hatte so plötzlich aufgehört wie er begonnen hatte und ringsumher stieg feiner Dampf aus den Wiesen auf, der verhinderte, dass Mia weit blicken konnte. Doch eines konnte sie mit Sicherheit sagen: Fred war nicht da.
Ihr wurde schwindelig und sie setzte sich auf die Mauer, weil ihre Beine nachzugeben drohten. Vorsichtig zog sie die Haarnadeln aus ihrem durchnässten Dutt und wartete. Fred war vermutlich gegangen, um Hilfe zu holen, als sie aus ihrer Ohnmacht nicht sofort wiedererwacht war. Sie konnte das breite Grinsen nicht unterdrücken, als sie an seinen Antrag dachte. Er wollte sie heiraten! Sie würde Freds Frau werden! Deshalb war er so unruhig gewesen und war auf der Händlerzeile verschwunden. Er musste den Ring gekauft haben, den sie nicht einmal wahrgenommen hatte. Doch dafür war noch genug Zeit, wenn Fred wiederkäme. Mit ihren nassen Haaren versuchte sie, ihre heißen Wangen zu kühlen. Die Zweifel vom Morgen waren verschwunden und sie fühlte, wie das Glück sich in jeder Zelle ihres Körpers ausbreitete. Sie lachte über ihre kitschigen Gedanken. Die Vögel sangen nicht lauter und die Sonne schien nicht heller, doch die Welt war schön.
Unter den Bäumen, die den Schlossteich säumten und unter denen sie vor einiger Zeit mit Fred spaziert war, konnte Mia mehrere Gestalten ausmachen. Eine von Reitern begleitete Kutsche bog auf den Weg ein, der zu ihr führte. Ihr Herz schlug schneller, als sie den Mann in dem offenen Gefährt sah, das schnell näherkam. Sie sprang auf.
»Fred!« Sie winkte aufgeregt. Kurz dachte sie daran, dass Winken und lautes Rufen vermutlich nicht zu ihrer Rolle als Emma passten, doch sie tat es trotzdem. Sollten die Männer doch denken, was sie wollten. Fred würde sie verstehen. Er verstand sie immer, und wenn er es nicht tat, fragte er so lange nach, bis er ihren Standpunkt nachvollziehen konnte. Nicht selten änderte sich ihre Sichtweise während eines solchen Gesprächs, weil seine gezielten Fragen ihr halfen, die Dinge von mehr als einer Seite zu betrachten.
»Fred!«
Die Kutsche wurde nicht langsamer und Mia starrte den Mann darin an. Sie erkannte den dunkelbraunen Kurzmantel ihres Freundes, doch das Gesicht unter dem hohen Zylinder war ihr fremd. Einer der Reiter hielt auf sie zu, sodass sie zurückweichen musste.
»Für dich heißt es ‚Mylord‘!«, donnerte er. »Was willst du?«
Mia hob abwehrend die Hände. »Ich dachte, in der Kutsche sitzt mein Verlobter.«
Der Reiter lachte höhnisch. Es erinnerte sie an das Lachen ihres Vorgesetzten, wenn er eine Kollegin als schlechtes Beispiel vorführte.
»Das, Mädchen«, die Bezeichnung kam einem Schimpfwort gleich, »ist Frederick Ainsley William McLaren, den du erkennen solltest, wenn du weiterhin im Dienst des Hofs stehen willst!« Er preschte der Kutsche hinterher und ritt dabei so eng an Mia vorbei, dass sein Fuß sie traf und sie taumelte. Als sie das Gleichgewicht wiedergefunden hatte, erstarrte sie. Auf der gegenüberliegenden Seite des Weges war wie aus dem Nichts eine Frau aufgetaucht.
Was war hier los?
Das konnte doch nur ein Scherz sein, den man mit ihr trieb. Mia erinnerte sich an Freds Gesichtsausdruck, als sich ihre Anspannung nach seinem Antrag in hysterischem Lachen entladen hatte. Steckte er dahinter? Eigentlich traute sie ihm solche Spielchen nicht zu, doch vielleicht hatte ihn ihre Reaktion verletzt. Er wusste ja nicht, was in ihr vorgegangen war. Bestimmt hatte er einige seiner Bekannten überzeugt, dieses Schauspiel aufzuführen, um ihr ein wenig Angst einzujagen. Jeden Moment wäre er wieder hier und sie könnte ihm endlich ihr Ja sagen.
Die alte Frau stand noch an derselben Stelle, als Mia sich einen Ruck gab und zu ihr ging.
»Wo ist Fred?«, fragte sie, doch die Alte schüttelte den Kopf.
»Alles zu seiner Zeit.«
Sie sollte wohl noch etwas im Ungewissen gelassen werden.
»Können wir wenigstens irgendwo hingehen, wo meine Kleider trocknen können?«
Statt einer Antwort stapfte die Frau los. Mia beschloss, ihr zu folgen, denn sie war seit ihrer Ohnmacht die erste freundliche Person, die sie traf. Ihr Rock klebte unangenehm an ihren Beinen und sie stolperte immer wieder auf dem Pfad. Der kleine Weg war durch Wurzeln und Pfützen schwer passierbar, doch sie konnte mit den kurzen Schritten der Frau mithalten, die schweigend vorweg ging. Obwohl sie in ein Gewand gekleidet war, stimmte etwas in Mias Augen nicht. Statt eines weitausladenden Kleides trug die Frau einen schlichten braunen Rock mit einer ebenso schmucklosen Bluse. Die Haare, die einst braun gewesen sein mochten, trug sie in einem unordentlichen Knoten.
Niemand aus der Gruppe, mit der sie auf das Festival gekommen war, hatte solch ärmliche Kleidung getragen.
»Was ist hier eigentlich los? Wo ist Fred? Das ist alles ein Missverständnis!« Sie erkannte, dass ihre Stimme viel zu hoch klang. Ihre Hände zitterten und sie ballte sie zu Fäusten, um es zu verbergen. Die Alte schritt zügig über den unebenen Pfad, während Mias Füße zu schmerzen begannen. Sie schwitzte trotz ihres regennassen Kleides. Endlich drehte sich ihre Begleiterin zu ihr um.
»Ich hatte nicht erwartet, dich hier zu sehen, Emma. Aber ich bin froh, dass du es bist.«
»Was?« Mia blieb stehen. Das ergab doch alles keinen Sinn!
Ihr blieb jedoch nichts anderes übrig, als der alten Frau in das kleine Haus zu folgen, das von einigen Büschen verborgen am Waldrand stand.
»Was ist hier los?«, verlangte sie zu wissen, als sie im Inneren stand. Auf dem altertümlichen holzbefeuerten Herd stand ein Kessel. Von den Dachbalken baumelten Büschel einiger Kräuter und zu Strängen gewundene Zwiebeln, und unter einem Fenster war eine weitere Feuerstelle im Boden errichtet, von der dünne Rauchfäden aufstiegen. Die Alte rührte in dem Kessel herum, dann drückte sie Mia eine dampfende Tasse in die Hand und schob sie auf eine Bank, die an der Wand stand. Perplex ließ sich Mia darauf nieder. Sie wusste nicht, warum sie sich diese Behandlung gefallen ließ. Es wäre klüger gewesen, im Freien zu warten, bis Fred wiederkäme. Langsam kam ihr der Gedanke, dass hier etwas ganz und gar nicht stimmen konnte.
»Wer sind Sie? Was passiert hier? Wo ist mein Freund?« Sie konnte die Panik nicht aus ihrer Stimme halten. Ihr Hals war wie zugeschnürt und in ihrem Bauch hatte sich die Angst zu einem festen Ball zusammengerollt. Ihr war übel.
»Eins nach dem anderen.« Die Alte hatte ihr Schultertuch abgelegt und hockte sich an die gegenüberliegende Wand. Furcht und Erleichterung stritten um die Vorherrschaft, als Mia sie ansah. Das Gesicht der Alten war von Narben gezeichnet, doch sie schien freundlich zu sein. Andererseits hatten schon viele Frauen ihre Peiniger als freundliche Menschen erlebt, bevor sie ihr wahres Ich zeigten.
»Wer bist du?«, wiederholte Mia gepresst. Die Frau schien endlich gewillt, ihr Antworten zu geben.
»Das ist eine einfache Frage. Ich bin Sybilla.«
»Woher weißt du, wer ich bin?«
»Auch das ist leicht. Du bist Emma, die Tochter von Martha. Ich habe dich auf die Welt geholt.« Sybilla hob die Hand, als Mia protestieren wollte. Sie war nicht die Tochter einer Martha. Das würde zwar die Gefühlskälte ihrer Mutter erklären, doch sie sahen sich zu ähnlich, um Zweifel aufkommen zu lassen. Es gab keinen Grund, das, was die Alte sagte, als Wahrheit in Betracht zu ziehen.
»Es ist die Wahrheit.« Mia erstarrte.
»Kannst du Gedanken lesen?« Sie umklammerte den Becher aus braunem Porzellan. Der Inhalt war nicht zu identifizieren, und obwohl er aromatisch roch, wollte sie nichts davon trinken.
»Sei nicht albern, Emma. Niemand kann das. Aber du bist nicht die Erste, die ich am steinernen Tor abgeholt habe. Ich weiß, was in dir vorgeht.«
»Dann lass mich doch gehen!«, wollte Mia rufen, doch sie blieb stumm. Es dämmerte ihr, dass sie in einen Schlamassel geraten war, dem sie ohne Hilfe nicht entfliehen können würde. Also würde sie warten und nicht den Tee trinken. Das war zu viel verlangt. Aber sie würde die alte Frau nicht anschreien. Die Hoffnung, alles sei nur ein Traum, keimte auf.
»Ich sage dir die Wahrheit und es ist kein Traum, Emma«, sagte Sybilla nüchtern. Mia wusste nicht, warum sie ihr glaubte. Doch die Alte strahlte eine Autorität aus, der sie sich beugte und die Scherben ihrer Hoffnung auflas.
»Wo ist Fred?«, flüsterte sie und griff nach dem letzten Strohhalm.
»Ich weiß es nicht, aber wenn du mit ihm spazieren warst, ist er wohl in Cosgailkirk.«
»Und wo bin ich?«
»In Cosgailkirk.«
Mia lachte erleichtert auf. Es war doch nur ein Scherz gewesen, den man mit ihr getrieben hatte. Sie war zu glücklich, um sich darüber zu ärgern. Schwungvoll stand sie auf und hätte beinahe den Inhalt der Tasse verschüttet.
»Dann ist ja alles gut!«, rief sie. »Tolle Vorstellung, wirklich, ihr habt mir echt Angst eingejagt! Aber jetzt gehe ich zurück zu meinem Freund.«
»Setz dich.« Die Stimme der Alten war kalt. Langsam drehte Mia sich wieder zu ihr um. Sie saß noch immer mit dem Rücken an die Wand gelehnt und wirkte völlig entspannt, während gleichzeitig eine Macht von ihr ausging, die automatischen Gehorsam verlangte.
»Nein.« Die Angst war mit einem Schlag zurückgekehrt. Sie wollte sich nicht setzen, sie wollte zu Fred. Sie wollte nach Hause.
»Welcher Tag ist heute?«
»Der einundzwanzigste Juni.«
»Welches Jahr?« Die Alte ließ nicht nach.
Mia antwortete nur zögernd.
»Dann ist dein Mann im Jahr …« Sie stockte, als wäre Mias Angabe unfassbar. »Dann ist er in jenem Jahr in Cosgailkirk.«
Mia lachte. »Er ist doch noch gar nicht mein – Moment. Was?«
»Euch trennen mehr als… hundertundfünfzig Jahre.«
»Das ist ein Witz, oder?«
»Nein.«
Mia keuchte auf. Die Welt drehte sich plötzlich schneller um sie, als es erträglich war. Mit einer Geschwindigkeit, die sie ihr nicht zugetraut hätte, war Sybilla auf den Beinen und stützte sie, als ihre Knie nachgaben. Sie half ihr zurück auf das schmale gepolsterte Brett und nahm ihr den Becher aus der kraftlosen Hand. Sein Inhalt hatte sich auf dem Holzboden verteilt. Ungerührt trat sie durch die Pfütze und füllte den Becher am Kessel auf.
»Trink das. Es wird dir helfen.«
Wie ferngesteuert setzte Mia die Tasse an die Lippen. Das grobporige Porzellan war heiß gegen ihre kalten Finger. Sie schmeckte die Schärfe des Alkohols und nahm einen weiteren Schluck. Ihr Kopf wurde leicht und die Wärme kehrte in ihre kalten Glieder zurück.
»Welches Jahr haben wir?« Es war anstrengend, jede Information von der alten Frau erfragen zu müssen.
»1843.«
»Das ist ein Witz, ein Scherz, ein ganz übler Scherz!« Noch immer weigerte sie sich, Sybilla Glauben zu schenken. Sie war überzeugt, dass sie Fred wiederfinden würde, wenn sie nur lange genug suchte. Dann würde sie ein ernstes Wort mit ihm reden müssen. Missverständnis oder nicht, er konnte ihr doch nicht solche Angst einjagen!
»Jetzt hör auf, Emma. Reiß dich zusammen.« Es lag keine Ungeduld in Sybillas Worten, nur die unausgesprochene Botschaft, dass sie Kooperation erwartete. Mia schwieg.
»Ich weiß, dass du mir nicht glauben willst, aber du wirst bald feststellen, dass ich die Wahrheit sage. Hör mir jetzt gut zu, Emma.«
Mia nickte. Wenn nur die geringste Chance bestand, dass die Alte recht hatte und dass sie gerade weder ein sehr gutes Schauspiel noch einen Traum erlebte, dann brauchte sie Hilfe. Und Sybilla schien im Moment zumindest gewillt, ihr diese Hilfe zu geben.
»Ich werde dich gleich bis in die Stadt begleiten. Den Weg bis zum Hof wirst du allein finden, das Castle ist nicht zu übersehen. Du kannst an den Wachen vorbeigehen, denn du arbeitest am Hof. Die Dienstquartiere sind im linken Flügel. Wende dich an eines der Mädchen, wenn du nicht weiterweißt. Morgen Abend kommst du wieder zu mir.«
Mia blickte sich irritiert um, als sie sich der Stadt näherten. Das Cosgailkirk, das sie am Morgen zum ersten Mal gesehen hatte, war eine größere Kleinstadt gewesen, die um das Schloss herum gebaut worden war. Nun sah sie wesentlich weniger Gebäude und nicht ein einziges Hochhaus ragte in den Himmel. Das höchste Gebäude war die Kirche, an deren spitzen Turm Mia sich nicht mehr erinnern konnte. Die Abendsonne stand tief dahinter. Die grauen Mauern des Castles, die bereits von dem gelben Anbau überragt wurden, und die angrenzenden Grünanlagen befanden sich am Rand der Siedlung. Es war zweifelsohne derselbe Prachtbau, den sie vor wenigen Stunden bewundert hatte.
Unwillig wischte Mia die Tränen weg, die über ihre Wangen zu laufen drohten. Diese Blöße würde sie sich nicht geben. Der Tag war anstrengend gewesen und sie war erschöpft. Morgen würde sie einen Weg finden, zu Fred zurückzukehren. Sie schob alle Zweifel beiseite, die ihre Gedanken vergiften wollten. Es musste eine Möglichkeit geben, Mrs Fred Pyrmont zu werden. Sie runzelte die Stirn über diese Formulierung. Mrs Mia Pyrmont musste es natürlich heißen.
Kurz bevor sie die ersten Häuser erreichten, drehte Sybilla sich wortlos um und ging zurück. Mia erinnerte sich an die wenigen Anweisungen, die sie von ihr erhalten hatte, und hoffte, dass alles glatt liefe. Wie von selbst schlugen ihre Füße den Weg an Fachwerkhäusern vorbei ein. Geschickt umging sie Unebenheiten und die Hinterlassenschaften der Tiere. Sie lief, ohne darüber nachzudenken, bis hinter den gemauerten Häusern der Bessergestellten das Schloss auftauchte. Das eiserne Tor, das in die Mauern eingelassen war, die Mia niedriger in Erinnerung hatte, stand offen. Ein finster blickender Mann hielt davor Wache.
Abrupt blieb Mia stehen. Die Alte hatte ihr zwar versichert, dass die Wache sie passieren lassen würde, doch sie hatte nicht damit gerechnet, dass sie tatsächlich jemandem begegnen würde. Hektisch überlegte sie, wie sie sich als Angestellte des Schlosses ausweisen könnte. Dabei wusste sie selbst nicht einmal, was ihre Arbeit, geschweige denn wer ihr Arbeitgeber war. Vage erinnerte sie sich daran, was Mildred ihr über das Schloss erzählt hatte. Es schien in einem anderen Leben gewesen zu sein, dass sie gehört hatte, dass der Clanoberste hier Hof hielt. Nun hatte sie tatsächlich die Chance, das jahrhundertealte Gebäude in seiner Ursprungsform von innen zu sehen. Fred würde sie darum beneiden. Morgen fände sie einen Weg zurück und könnte ihm davon berichten, gleich nachdem sie seinen Antrag angenommen hätte.
Mia gab sich einen Ruck und trat auf die Wache am Tor zu. Der Kilt in dem blau-grünen Muster der McLarens, den der Mann trug, wies darauf hin, dass er dem niederen Adel angehörte, der zum Wachdienst verpflichtet worden war. Die traditionelle Kleidung mit den silbernen Knöpfen am Jackett und dem Dolch an der Wade sowie die blankpolierte Hellebarde, die der Mann in der Hand hielt, schüchterten sie ein, doch mutig trat sie auf die Brücke, nickte dem Wachhabenden zu und trat durch das Tor. Das Herz klopfte ihr bis zum Hals und sie blieb nicht stehen, bis sie das Gebäude erreicht hatte. Die Wache hatte sie lediglich mit einem prüfenden Blick bedacht, als sie vorbeigeschritten war. Es hatte also seine Richtigkeit, dass sie an den Hof gehörte. Oder der Mann war ein schlechter Wächter. Mia schmunzelte bei dem Gedanken. Sie schob die schwere Holztür auf, die in den linken Flügel des Schlosses führte. Tief atmete sie den vertrauten Geruch nach Bohnerwachs und Dämpfen aus der Küche ein, dann lenkte sie ihre Schritte den Gang entlang. An der dritten Tür hielt sie an, trat ohne zu klopfen ein und fragte sich dann erst, wie sie soweit gekommen war. Sie stand in einem Schlafraum mit acht Stockbetten.
»Emma!«, rief ein Mädchen und sprang auf. »Wo bist du gewesen?«
Hilflos zuckte sie mit den Schultern. Sie konnte schlecht sagen, dass sie gar nicht diese Emma war. Alle im Raum, Sybilla und sogar die Wache schienen sie zu kennen. Und seltsamerweise kam ihr der verhasste Name ihrer Rolle auch nicht länger fremd vor.
»Ich weiß nicht«, murmelte sie. »Ich habe mir den Kopf gestoßen.«
»Ach, du Arme!« Das Mädchen fasste sie bei der Hand und zog sie sanft zu einem der Betten. »Leg dich hin. Du siehst ganz durcheinander aus. Vielleicht hast du eine Gehirnerschütterung!«
Dankbar setzte Mia sich auf die Bettkante. Das Mädchen ließ nicht zu, dass sie sich die Stiefel auszog, sondern kniete sich hin und schnürte sie selbst auf.
»Die sind ja ganz matschig. Warst du im Wald?«
»Ja. Ich glaube schon. Ich weiß es nicht mehr«, log Mia. Sie war sich sicher, dass niemand ihr glauben würde, wenn sie ihnen erzählte, dass sie aus der Zukunft kam. Sie konnte es ja selbst kaum glauben.
Die anderen Frauen hatten sich wieder ihren Tätigkeiten zugewandt.
Eine stopfte Socken, eine andere strickte, doch die meisten saßen auf ihren Betten und unterhielten sich leise. Die Matratze, auf der Mia lag, war hart und etwas unbequem, doch sie roch so vertraut wie ihr eigenes Bett. Sie stöhnte leise. Sofort beugte sich das Mädchen über sie.
»Geht es dir nicht gut? Kann ich dir irgendetwas bringen?« Ihre dunklen Augen blickten besorgt, wie die eines Kindes.
»Vielleicht ein Glas Wasser, äh, …?« Mia wusste, dass sie das Mädchen kannte, doch ihr wollte der Name nicht einfallen. Hoffentlich konnte sie es auf die angebliche Gehirnerschütterung schieben.
»Ich bin Mary, hast du das etwa vergessen?«
Beschämt legte sie die Hand über die Augen. Diese Situation wäre nicht mehr zu retten. Gleich würde Mary weitere Fragen stellen und Mia würde ihr die Wahrheit, die fantastischer als ein Märchen war, sagen müssen. Doch Mary deutete diese Geste falsch, und Mias Befürchtungen zerschlugen sich, als sie anfing zu sprechen.
»Du Arme!«, sagte sie sanft. »Du musst schreckliche Kopfschmerzen haben. Ich weiß noch, als ich einmal von der Kuh bei uns zu Hause getreten worden bin. Damals war mir ganz schrecklich übel und ich wusste nicht einmal mehr, welchen Tag wir hatten. Sogar der Arzt musste kommen! Danach musste ich doppelt so hart arbeiten, damit wir ihn bezahlen konnten, aber er hatte mir Medizin dagelassen, damit meine Kopfschmerzen besser werden konnten. Und am nächsten Tag konnte ich mich auch wieder an alles erinnern.«
»Mary«, stöhnte Mia. Das Mädchen plapperte zu viel.
»Ach ja.« Sie sprang wieder auf.
Mia hörte nicht mehr, dass sie zurückkam und ein Glas Wasser neben ihrem Kopf auf den Boden stellte. Sie war erschöpft eingeschlafen.