Читать книгу Mia und der Erbe des Highlanders - Morag McAdams - Страница 9
Kapitel 5
ОглавлениеDer Funken war erloschen und Mia hatte lange wachgelegen. Sie hatte an die Zukunft gedacht, die sie mit Fred hätte haben können, und daran, was ihr in dieser fremden Zeit bevorstand. Wie würde ihr Leben aussehen? Würde sie so enden wie Frances, alt und verbraucht? Würde sie einsam und traurig sein wie Sybilla? Oder würde sie jemanden heiraten, vielleicht heiraten müssen? War sie nicht bereits zu alt, um für einen Mann in diesem Jahrhundert attraktiv zu sein? Und wie sollte sie jemanden, der nicht Fred war, lieben können? Sie hatte statt Antworten nur weitere Fragen gefunden und sich in den Schlaf geweint.
Als sie sich am Morgen frisch machte, griff sie, innerlich mit den Schultern zuckend, nach der Zahnbürste. Eigentlich konnte ihr alles egal sein. Sie sah keinen Grund, sich um irgendetwas zu kümmern. Am besten betäubte sie ihre Gefühle und begrub sie tief in sich. Hoffnung zu haben riss die Wunden immer wieder auf. Es war an der Zeit, sich damit abzufinden, dass ihr Leben nicht so verlief, wie sie es sich gewünscht hatte.
Sie ließ sich von Mary in das gelbe Kleid helfen, denn ihre Dienstkleidung sollte sie an ihren freien Tagen nicht tragen. Dunkel erinnerte sie sich an die Zeit, nachdem ihr Vater die Diagnose Morbus Alzheimer bekommen hatte. Damals hatte sie Ähnliches gefühlt, doch jetzt war es schlimmer. Ihre Welt war auf jede erdenkliche Weise zusammengebrochen. Hoffentlich kümmerte Fred sich um ihren Vater, für den es keinen Unterschied machte, wer ihn besuchen kam. Die Hauptsache war, dass sich jemand Zeit für ihn nahm.
Die Verabschiedung von ihrer Freundin war kurz, weil für Mary der Arbeitstag begann. Zögernd trat Mia durch das Tor, das den Hof vom Rest der Stadt trennte. Das Schloss lag im Sonnenschein, seine Wände strahlten in hellem Gelb und vor dem Eingang wehte die Fahne im leichten Wind. Der Ziergarten im Schlosshof, der sich wie ein Band um einen Brunnen wand, leuchtete nach dem Regen in Grün, Rot, Gelb und Weiß, und eine Welle des Glücks schwappte über Mia. Die Schönheit des Anblicks war Balsam für ihre Seele und sie atmete tief durch. Beschwingt drehte sie sich um. Der weite Rock ihres Kleides wippte im Takt ihrer Schritte, die sie an der Kirche vorbei und über den Marktplatz führten. Die Bauern und Kaufleute boten wie jeden Samstag ihre Waren an. Mia konnte die vielen verschiedenen Gerüche noch unterscheiden, als sie bereits zwei Straßenzüge weiter in den schmalen Weg einbog, der zu Emmas Elternhaus führte.
Ein wenig befangen wurde sie langsamer. Sie wusste nicht, was sie erwartete. Emmas Mutter würde vielleicht etwas sehen, das sie von ihrer Tochter unterschied, und könnte sie verstoßen. Dabei brauchte sie gerade jetzt den Rückhalt einer Familie. Seit frühester Jugend war sie durch die Trennung ihrer Eltern und die sich einschleichende Krankheit ihres Vaters auf sich allein gestellt gewesen, bis sie in Fred Halt gefunden hatte. Nun war ihr auch das genommen worden.
Emma hatte ihr keine Erinnerungen an ihr Heim hinterlassen, und so hoffte Mia auf das Beste, als sie sacht an die Tür klopfte und eintrat. Zwei Augenpaare starrten sie an.
»Hallo Mutter«, grüßte sie steif die Frau, die am Tisch saß. Mia war durch die Eingangstür direkt in die Küche getreten. Einen Hausflur gab es nicht. Von der Frau mit den strähnigen grauen Haaren erhielt sie nur ein Nicken und Mia fühlte sich unbehaglich. Dann fiel ihr Blick auf ihren Bruder, dessen blaue Augen vor Freude strahlten. Mia lächelte.
»Benny.«
Ihr Vater hatte sein jüngstes Kind, den langersehnten Stammhalter, nach dem Sohn der McLarens benannt: Kendrick Beneficiary. »Wenn etwas schiefgeht«, hatte er seinen Töchtern damals erklärt, »haben wir immer noch einen Erben.« Emma hatte damals nicht verstanden, was ihr Vater gemeint hatte, doch sie und Jane hatten ihren Bruder nie anders als bei seinem Spitznamen gerufen, der aus seinem Beinamen entstanden war.
Benny streckte ihr die Zunge heraus, was ihm einen Schlag auf den Hinterkopf von seiner Mutter einbrachte. Dann stemmte sich Martha am Tisch hoch. Mit unverhohlenem Zorn baute sie sich vor Mia auf. Ihre Schürze war fleckig und zerrissen, und auch das Kleid war beinahe ein Lumpen.
»Du bist spät.«
»Entschuldige, Mutter.« Sie wagte nicht, eine Ausrede vorzubringen. So hatte sie sich ihre Familie nicht vorgestellt. Emmas Mutter sah aus, als hätte ihr das Leben einmal zu oft auf die Füße getreten, und alles, was sie noch spüren könnte, war Wut.
»Wie siehste überhaupt aus? Was haste da an?« Martha wurde nicht laut, doch ihre Stimme klang kalt und unbarmherzig.
»Von wem haste dieses Kleid?« Die Ohrfeige traf Mia unvorbereitet. Sie wich zurück.
»Du solls’ nich’ stehlen! Du wirs’ dieses Kleid zurückgeben, sonst zerr’ ich dich eigenhändig zum Gendarmen! Wie kannste es wagen, etwas zu nehmen, was dir nich’ zusteht?!« Der zweite Hieb war ebenso schmerzhaft, und unterhalb ihres Auges fühlte Mia eine Schwellung entstehen, als die zornige Frau noch einmal zuschlug.
»Geh mir aus’n Augen. Zieh dir etwas Anständiges an.«
Mit schlafwandlerischer Sicherheit fand Mia den Raum, den sich Emma bis vor einigen Monaten mit ihrer kleinen Schwester geteilt hatte. Sie ließ sich auf dem Bett nieder und versuchte zu begreifen, was gerade geschehen war. Emmas – ihre – Mutter hatte sie geschlagen und kleingemacht, ohne ihr eine Chance zu geben, sich zu rechtfertigen. Vorsichtig betastete Mia die Schwellung auf ihrer Wange. Sie hätte ohnehin nichts zu ihrer Verteidigung sagen können. »Mutter, ich bin nicht die Emma, die du kennst. Ich bin durch die Zeit gereist.« hätte ihr sicherlich noch mehr Prügel eingebracht. Martha entsprach ganz und gar nicht ihrer Vorstellung von einem fürsorglichen Elternteil. Da wäre ihr die eigene Mutter, die sie ihre Kränkung, weil sich Mia für ihren Vater als Hauptsorgeberechtigten entschieden hatte, noch immer spüren ließ, lieber. Doch man hatte ihr keine Wahl gelassen. Müde erhob sie sich und fragte sich, wie sie die Knöpfe des verflixten Kleides öffnen sollte, als es an der Tür klopfte und Benny leise eintrat.
»Ich helfe dir.« Vor Erleichterung, wenigstens einen freundlichen Menschen in diesem Haus getroffen zu haben, traten ihr die Tränen in die Augen. Schnell drehte sie sich um, damit er es nicht bemerkte.
»Mach dir nichts daraus, Emma.« Seine Finger waren rau und voller Schwielen, nicht kühl und geschickt wie Marys, und ganz anders als Freds zärtliche Hände. Mia schluckte die Tränen herunter.
»Vater hat Geld geschickt, und als ich mein Lehrgeld davon genommen hatte, war noch genug übrig, um eine Flasche Rum zu kaufen.« Unbeholfen streichelte er ihre Schulter und Mia empfand Mitleid mit ihm. Ein Fünfzehnjähriger sollte nicht so nüchtern über seine alkoholkranke Mutter reden können.
»Morgen ist sie wieder die Alte, Emma. Ganz bestimmt.«
»Danke«, flüsterte sie, als er das Zimmer verlassen hatte. Sie legte das zerknitterte Gewand auf das Bett und holte ein schlichtes braunes Kleid aus dem Schrank. Der Stoff war steif und kratzte etwas, und sie konnte keinen Unterrock finden, wie sie ihn bei der Arbeit trug. Mit Hilfe eines schmucklosen Schultertuchs band sie ein Bündel aus dem gelben Kleid. Sie musste es mitnehmen, wenn sie ins Schloss zurückkehrte.
Den Tag über ging Mia auf Zehenspitzen durch das Haus. Am späten Vormittag griff sie nach der Einkaufsliste, die Martha diktiert haben musste, als sie noch nüchtern war. Sie nahm etwas Geld und ging auf den Markt. Kurz vor Ende der Marktzeit war das Gemüse billiger, weil es oft braune Stellen oder andere kleine Makel hatte. Die Münzen fühlten sich vertraut in ihrer Hand an. Mia war erleichtert. Es hätte seltsam ausgesehen, wenn sie mühsam nach dem passenden Geldstück kramen müssen hätte.
Auf dem Markt ließ sie sich Zeit, obwohl sie ein schlechtes Gewissen hatte, Benny so lange mit der betrunkenen Mutter allein zu lassen.
Allerdings hatte der Junge wesentlich mehr Erfahrung, mit ihr umzugehen, als Mia. Er erlebte sie schließlich wesentlich häufiger als Emma, die nur an ihren freien Tagen nach Hause kam.
Sie genoss es, sich mit der Menge treiben zu lassen. Sie konnte vorgeben, dazu zu gehören und nicht mehr Sorgen zu haben als die Menschen um sie herum. Doch irgendwann ließ sich die Rückkehr in Emmas Elternhaus nicht mehr hinauszögern und die Trostlosigkeit legte sich über sie wie ein schwerer schwarzer Schleier.
Sie kehrte in das Fachwerkhaus zurück und begann, Brote für Benny und sich selbst zu richten. Sie erinnerte sich an die letzte Mahlzeit, die sie für sich und Fred gerichtet hatte. Sie sollte ihn vergessen, denn das war es, was Sybilla von ihr erwartete. Sie sah aus wie Emma, also sollte sie Emma sein. Das Brot war altbacken und schmeckte fad, und nach einigen Bissen schob Mia den Teller weg. Es wäre besser, wenn sie vollkommen in ihr neues Leben eintauchte. Es gehörte nicht länger der verschwundenen Emma. Es war ihr Bruder, der mit ihr am Tisch saß, und ihre Mutter, die den Rausch ausschlief. Emma hatte ihr dieses Leben überlassen, und vielleicht hatte Mia irgendwann die Kraft, das Beste daraus zu machen. Müde rieb sie sich über das Gesicht, bevor sie aufstand und den Kessel aufsetzte, um Tee zu kochen. Ihre Mutter bewegte sich unruhig im Schlaf.
»Wo ist der Tee hin, Benny?« Auch nach längerem Suchen hatte Mia in keiner der Büchsen Teeblätter oder Kräuter gefunden.«
»Leer, denke ich.« Auch ihr Bruder sah müde aus.
»Dann geh schnell hinters Haus und hole mir Brennnesseln«, bat sie. Es war Emmas Wissen, auf das sie zurückgriff, denn sie selbst hatte keine Ahnung, woher der Gedanke kam und wie sie aus der stechenden Pflanze Tee zubereiten konnte. »Das kannst du doch, oder?«
Benny sah sie genervt an, bevor er sich auf den Weg machte, das Gewünschte zu bringen.
»Du musst mich das nicht jedes Mal fragen«, maulte er bei seiner Rückkehr. »Ich bin kein kleines Kind mehr.«
»Tut mir leid.«
Mia versuchte, nicht darüber nachzudenken, was sie tat. Sie überbrühte die Blätter kurz mit heißem Wasser, bevor sie den ersten Sud ausgoss, Wasser nachfüllte und den Tee ziehen ließ.
»Hat Vater auch geschrieben?«
Benny nickte und zog ein zusammengefaltetes Blatt Papier aus seiner Hosentasche.
»An meine Familie. Ich verweile noch immer untätig in der Stadt Liverpool. Wir warten auf eine Lieferung für den Bau der Gleise. Ich bleibe nicht müßig. Die Bürger sind aufgeschlossen. Es kommen immer mehr Iren, die viele Ideen haben, die auch mich beschäftigen. W. McGregor.« Ihr Bruder ließ den Brief sinken. Er hatte die unpersönlichen Zeilen stockend und mit vielen Fehlern vorgelesen. Mia starrte ihn an. Neue Ideen zu haben bedeutete in dieser Zeit, dass es zu Aufständen kam. Sie war froh, dass der Vater weit weg von Donnahew Castle in Liverpool war. Ihr Bruder schien ihre Sorge nicht zu teilen. Er ging zum Holzofen und goss eine Tasse Tee ein. Mutter war aufgewacht und blickte mit fiebrigen Augen umher.
»Was machst du eigentlich hier?«, herrschte sie ihren Sohn an, der ihr das Getränk reichte.
»Der Meister ist krank und hat mir freigegeben.« Er sagte das nicht zum ersten Mal an diesem Tag.
»Wird Zeit, dass der Gauner den Löffel abgibt«, brummte Mutter. »Dann kannst du die Schusterei übernehmen.«
Benny sagte nichts. Mia wusste, dass er noch nicht ausgelernt hatte. Er brauchte seinen Meister noch. Ihre Mutter sah das vermutlich auch ein, wenn sie einen klaren Kopf hatte.
Das Muhen der Kühe, die gemolken werden wollten, wurde vom Wind herangetragen. Gelangweilt und unsicher sah Mia aus dem kleinen Fenster, bis Benny sie heranwinkte und ihr ein Buch reichte. Die Mutter schimpfte leise vor sich hin.
»Lies etwas vor, Emma«, bat er. »Du liest so schön. Es wird sie beruhigen.«
Widerstrebend ließ Mia sich auf dem Sessel neben ihrer Mutter nieder. Der Stoffbezug war abgewetzt und speckig und das Polster durchgesessen. Das Buch wog schwer in ihrer Hand und sie blätterte darin, bis sie an einer Stelle stoppte und zu lesen begann:
»Es war einmal vor gar nicht allzu langer Zeit ein König. Er hatte nur einen einzigen Sohn, den er liebte und hütete wie einen Schatz. Denn einst hatte eine böse Hexe Rache geschworen …«
Benny hatte sich hinter seine Mutter gestellt und lauschte beinahe andächtig. Er sah aus wie der kleine Junge, der er gewesen war, als Mia und Jane sich an Stelle von Martha um ihn kümmern mussten. Mia schluckte und wandte sich wieder dem Buch zu.
»… und der Prinz entkam der bösen Hexe mit viel Geschick. Er ritt hinaus zur Mühle, hob das schöne Mädchen auf sein Pferd und kehrte mit ihr ins Schloss zurück. Die schreckliche Alte aber, die dem Jüngling hatte schaden wollen, wurde ergriffen und in den höchsten Turm gesperrt. Bald darauf wurde Hochzeit gefeiert. Es gab ein Fest im ganzen Land mit Jubel und Musik und einem großen Mahl für alle. Und wenn sie nicht gestorben sind, so leben der Prinz und seine schöne Müllerstochter noch heute.«
Mutter schnaubte verächtlich. »Als ob so etwas je passieren würd’. Schlag dir die Träume aus dem Kopf, Mädchen, solange du jung bis’!«
»Natürlich, Mutter.« Die betrunkene Frau konnte zwischen Märchen und Wirklichkeit nicht unterscheiden. Mia träumte nicht von einem Prinzen. Ihren Traumprinzen hatte sie verloren.
»Der Heath, der würd’ dich nehmen.« Mutter lächelte und sah beinahe freundlich aus. »Dem macht es nix aus, dass du schon so alt bis’. Ist’n guter Junge, Brown’s Heath.«
Eine Erinnerung durchzuckte sie wie ein Blitz.
»Nein!«, rief sie und sprang auf. Das schwere Buch polterte zu Boden. Ihr wurde heiß und kalt.
»Entschuldigt mich«, stammelte sie und rannte in ihr Zimmer.
Er hatte versucht, sie zu vergewaltigen. Heath Brown war der unheimliche Reiter und er hatte versucht, Emma zu vergewaltigen.
Mia rollte sich zitternd auf der Strohmatratze zusammen, als sie die letzten Erinnerungen der anderen Frau durchlebte.
Emma hatte den Auftrag, zum Forsthaus zu laufen und die Bestellung für das Wild aufzugeben, gerne angenommen. Schon oft hatte sie diese Aufgabe übernommen. Forsch schritt sie am Schlossteich vorbei und lief über das Brachland, auf dem Schafe grasten, zum Wald. Im Sommer war es dort kühl und friedlich. Genüsslich sog sie die würzige Luft ein, als sie die ersten Bäume erreichte und in den Schatten trat. Sie genoss die Ruhe, die sie erfasste. Hier und dort raschelte ein Tier im Unterholz, die Vögel zwitscherten leise und ein Specht hämmerte die Rinde eines Baumes auf. Das Moos verschluckte das Geräusch der Schritte und Emma schrak zusammen, als Heath plötzlich neben ihr auftauchte.
»Hallo Emma.« Er legte forsch den Arm um ihre Taille. Sein Griff verhinderte, dass sie die unangenehme Nähe verließ. Er trug die blau-grüne Uniform der Reiter des Clans und roch stechend nach altem Schweiß.
»Lass mich los, Heath!«, protestierte sie und wand sich in seinem Arm. »Was willst du von mir?«
»Schön, dass du das fragst.« Seine Finger gruben sich in ihr Fleisch. »Ich will dich heiraten. Deine Mutter ist einverstanden.«
Emma blieb vor Schreck stehen, doch er schob sie weiter. Sie wollte ihn nicht heiraten, er war grob und grausam. Lieber würde sie allein bleiben! Sie geriet ins Straucheln.
Heath nutzte den Moment und stieß sie vollends zu Boden. Erschrocken starrte Emma zu ihm hoch und Angst erfasste sie. Ihr Herz schlug schneller, ihr Mund wurde trocken und sie begann zu zittern.
»Wenn du schon da liegst …«, grinste Heath.
Er erinnerte sie an einen Habicht, der sich auf seine Beute stürzte. Wie gelähmt sah sie zu, als er an den Knöpfen seiner Hose zerrte und sich entblößte. Endlich setzten ihre Reflexe ein. Sie kroch rückwärts und kam mühsam auf die Beine. Mit einem schnellen Satz war Heath bei ihr und riss sie am Arm zurück. Schmerz durchzuckte sie und sie konnte ihren Arm nicht mehr bewegen.
Panik schnürte ihr die Kehle zu. Schreien hatte ohnehin keinen Zweck. Der Mann war riesig und stark, sie hatte keine Chance. Aber sie biss die Zähne zusammen und schlug mit ihrer unverletzten Hand nach ihm. Sie kratze und trat ihn, doch sie kam nicht gegen ihn an. Er stand mit offenem Mund und ekelhafter Lust in den Augen da und hielt sie fest. Emma kämpfte. Adrenalin gab ihr Kraft. Sie schlug nach ihrem Peiniger und versuchte, sich aus seinem Griff zu befreien. Plötzlich traf sie seine Faust an der Schläfe. Ihr Kopf prallte zurück und sie fiel. Schmerz explodierte hinter ihren starren Augen. Ihr schlaffer Arm löste sich aus seinem Griff.
»Verdammt.« Sie hörte ihn fluchen, und dann war sie allein mit ihrer Qual. Es waren endlose Minuten, bis wohlige Wärme sie erfasste und sie erleichtert die Augen schloss.
Als das Zittern nachgelassen hatte, lag Mia regungslos auf dem Bett. Sie weinte nicht, sie hatte keine Tränen mehr. Sie war voller Mitleid für Emma und hatte Angst um sich selbst. Dieses Monster sollte sie heiraten, ihre eigene Mutter hatte ihr Einverständnis gegeben. Sie hoffte, dass sie eine eigene Entscheidung treffen durfte. Bevor sie einen Vergewaltiger heiratete, täte sie sich etwas an.
Schließlich stand sie auf. Sie fühlte sich taub und abgestumpft, doch ihr Entschluss hatte ihr ein wenig Kraft verliehen. Sie benötigte dringend ein Bad. Die Katzenwäsche in den letzten Tagen hatte ihr nicht die Sauberkeit gebracht, die sie gewohnt war. Sie kehrte in die Wohnküche zurück. Mutter schlief in einem der Sessel und ihr Bruder übte mit der Ahle an einem Stück Leder. Er ließ ihren Ausbruch unerwähnt, wofür sie dankbar war.
»Es ist Samstag«, sagte sie unsicher. Sie wusste nicht, wie und wo sie sich in dem Fachwerkhaus waschen konnte. Benny sprang auf.
»Ich helfe dir.« Vermutlich war er froh über etwas Normalität. »Setz dir Wasser auf, ich stelle die Wanne in das kleine Zimmer.«
Das kleine Zimmer war der Nebenraum, der zum Trocknen der Wäsche genutzt wurde, fiel Mia ein. Sie musste mehrmals kochendes Wasser nachfüllen, bis sie eine Temperatur erzielt hatte, die sie ihrem Körper zumuten konnte. Vorsichtig ließ sie sich in die Blechwanne sinken. Ihre Beine hingen über den Rand, trotzdem genoss Mia die Entspannung, die das warme Bad mit sich brachte. Wenn ihre Seele doch ebenso leicht zur Ruhe kommen könnte!
Sie entdeckte das Blut, als sie sich abtrocknete. Daran hatte sie noch gar nicht gedacht. Tampons waren noch nicht erfunden, dessen war sie sich sicher. Sie zog das grobe braune Kleid über und hoffte darauf, in ihrem Zimmer etwas zu finden, das ihr half. Sie konnte schlecht ihre Mutter fragen, was zu tun war. Zum einen war sie in ihrem Zustand ohnehin nicht ansprechbar, und zum anderen würde sie ihre erwachsene Tochter für verrückt erklären, wenn sie nach Dingen fragte, die sie längst wissen musste.
Hektisch durchsuchte sie ihren Schrank. Sie fand nur die weiten knielangen Hosen, die sie als Unterwäsche trug. Die anderen Hausmädchen verzichteten auch darauf und trugen nur ein langes Hemd unter der Kleidung. Dieses weiße Höschen war auf keinen Fall dafür gedacht, während der Periode getragen zu werden, denn es war im Schritt offen. Doch in der hintersten Ecke des Schrankes entdeckte Mia eine Unterhose aus dickem Stoff, die ihr geeignet erschien. Hoffentlich war sie für ihre Zwecke gemacht worden. Nicht zum ersten Mal wünschte sich Mia das Internet, um herauszufinden, wie sie sich verhalten sollte.
In der dunklen Unterhose entdeckte sie das McLaren-Wappen, das auch in ihre Arbeitskleidung gestickt war. Emma musste diese im Schritt gefütterte Hose vom Hof mitgebracht haben, um für Überraschungen gerüstet zu sein. Ihre eigene Garderobe war nicht damit ausgestattet. Mia schüttelte sich bei dem Gedanken, was andere Frauen während der Menstruation taten. Sie konnten das Blut doch nicht einfach laufen lassen. Andererseits wäre das in einer Zeit, in der selbst am Hof des Clanoberhaupts die Notdurft über einem tiefen Loch im Boden sitzend verrichtet wurde, nicht überraschend.
An diesem Abend ging sie nicht mehr in die Küche. Mutter nahm ihre Umgebung in den Nachwirkungen des Rausches nicht wahr, und ihr Bruder konnte an die Tür klopfen, wenn er sie brauchte. Stattdessen legte sie sich in das Bett, das sich Emma einst mit ihrer jüngeren Schwester Jane geteilt hatte, doch sie fand keinen Schlaf.
Sobald sie die Augen schloss, sah sie Heaths Raubtiergrinsen, roch seinen Schweiß, spürte, wie sie fiel. Erst in den frühen Morgenstunden fielen ihr vor Erschöpfung die Augen zu.
Der Kirchgang war ein Spießrutenlauf. Mutter war im Haus geblieben, weil sie nach dem Exzess des vorigen Tags noch nicht herzeigbar war. Unzählige wissende, mitleidige und tadelnde Blicke trafen Mia und Benny, und die Leute tuschelten hinter vorgehaltener Hand. Mia störte sich nicht daran. Es war nicht das erste Mal, dass sie so behandelt wurde. Außerdem war sie damit beschäftigt, sich auf die Liturgie des Gottesdienstes zu konzentrieren. Aufstehen, knien, »Herr, erbarme dich« – es war ihr fremd und so war sie froh, der dunklen Kirche bald wieder entkommen zu können. Gemeinsam mit ihrem Bruder eilte sie zurück.
Mia erkannte die Mutter fast nicht wieder. Sie hatte saubere Kleidung an, stand am Herd und summte ein Lied. Nie hätte sie geglaubt, dass dies die Frau war, die sie nur Stunden vorher ungepflegt und mürrisch verlassen hatte. Es roch überraschend lecker, als sie das Essen auf den Tisch stellte.
»Was bin ich froh, wenn du endlich aus dem Haus bist, Emma.« Mutter legte klappernd den Löffel auf dem leeren Teller ab. »Du hättest längst heiraten sollen, so wie Jane. Die hat es richtig gemacht.«
Bei Mia begannen alle Alarmglocken zu läuten und sie holte tief Luft, um zu protestieren, doch Martha ließ sie nicht zu Wort kommen.
»Du wirst es gut haben, Emma.« Mia war überrascht, so viel Zuneigung in der Stimme ihrer Mutter zu hören. Sie schluckte die zornige Erwiderung herunter. Stattdessen sagte sie so ruhig wie möglich: »Ich werde Heath nicht heiraten, Mutter.«
»Wieso denn nicht?« Martha war wirklich überrascht. »Er verdient gut, und er kann die Arbeit seines Vaters übernehmen, wenn er zu alt für die Wache geworden ist. Schmiede werden immer gebraucht. Er ist ein guter Junge, Heath Brown.«
»Er ist kein guter Junge. Er hat …« Sie suchte nach den richtigen Worten, während sie versuchte, ihre Wut zu zügeln. »Er hat sich mir genähert.« Sie dachte, ihre Mutter ginge nicht darauf ein, als sie aufstand und das Geschirr abtrug. Doch dann drehte sie sich wieder zu ihr um und sah sie mit festem Blick an.
»Und? Wenn ihr verheiratet seid, wird er das auch tun. Du bist doch nicht dumm, Emma. Du weißt doch, wie es geht. Sei froh, dass er dich in deinem Alter noch nimmt.«
»Er hat mich geschlagen!« Nun schrie sie doch. Ihr Bruder blickte unsicher zwischen ihnen hin und her.
»Männer tun das manchmal. Stell dich nicht so an.«
Mia stand auf. Sie musste das Haus verlassen, bevor sie vollends die Beherrschung verlor.
»Ich muss zurück ins Schloss«, sagte sie mit zusammengebissenen Zähnen. »Und ich werde ihn nicht heiraten.«
Mutter würdigte sie keines Blickes, als sie sich mit ihrem kleinen Bündel auf den Weg machte. Statt nach Donnahew Castle ging sie zunächst zu Sybilla, um sich mit ihr zu beraten. Denn die arme Emma durfte nicht länger schutzlos im Wald liegen. Die Alte versprach, sich darum zu kümmern. Doch auch sie war nicht so erschüttert über Heaths Vergehen, wie Mia erhofft hatte. Es war keine gute Zeit, um als Frau auf der Welt zu sein, überlegte sie, während sie langsam den Heimweg antrat. Sie kroch noch ein Stück tiefer in den Kokon, den sie für ihre Seele gebaut hatte, tiefer in die Erinnerung, tiefer in den Schmerz, der sie betäubte.