Читать книгу Wer zählt die Völker, nennt die Namen - Moritz Liebtreu - Страница 5

Ich drehe nur eine Runde

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Die Dämmerung ist bereits angebrochen, sein üblicher alltäglicher Trott ins Wanken geraten. Eine Lücke im Verkehr abwartend, steht er in dem Getümmel der heimwärts strebenden Schulbesucher und ist endlich an der Stelle angekommen, wo er ungefähr sein Gefährt vermutet. Hat er jemanden angerempelt?, sieht sich um, da steht ihm plötzlich eine etwa gleichaltrige Frau, Anfang bis Mitte vierzig, wie er nur vermuten kann, gegenüber, die er schon seit vielen Jahren flüchtig kennt, für die er sich schon lange interessiert, die er aber nur aus der Entfernung bewundert, sich ihr lediglich in der Phantasie, im Tagträumen nähert.

Er hat zeitweise mehrere solcher Phantasiegestalten, die mit der realen Person aber nur wenig gemeinsam haben müssen, und seit er verheiratet ist, hat er keinen wirklichen Versuch unternommen, so jemanden kennen zu lernen, seine Eindrücke zu überprüfen oder sich überhaupt darüber zu äußern. Dennoch hat ihn schon öfter die Frage beschäftigt, ob das Interesse gegenseitig sei. Vom Namen her kannte man sich und hatte bei gemeinsamen Freunden ein paar Worte miteinander gewechselt und bei anderen Begegnungen flüchtige Blicke ausgetauscht.

Stimmte es, dass man dabei einmal den Blickkontakt ungewöhnlich lange festhielt, ein auffällig freundliches Lächeln austauschte? Das musste nichts heißen, er konnte sich täuschen.

Dann hatte er das Gefühl gehabt, dass sie wegschaute, als sie in einem Laden direkt nebeneinander standen, wo er allerdings zu befangen war, sie anzusprechen, nicht mal etwas Belangloses sagte. Hinterher dachte er, gut, dass er es nicht getan hatte und legte sich für solche Ereignisse den Spruch zu Recht, die verpassten Chancen seien vielleicht doch die Besseren. Fehlte ihm da eine Leichtigkeit, war er zu schüchtern, ärgerte er sich dann doch öfter. Zu leicht befürchtete er, aufdringlich zu sein, war vielleicht gerade diesen Personen gegenüber besonders zurückhaltend, wollte sich nicht verraten und wozu sollte eine Annäherung führen?

Sie lebte allein mit ihrem Kind, und er hatte sie in den ganzen Jahren seltsamer Weise nie mit einem anderen Mann zusammen gesehen oder ignorierte er das geschickt, wusste außerdem,- dass sie aus einem sehr wohlhabenden Elternhaus stammte, was sie eher noch interessanter erscheinen ließ, ihn gleichzeitig verunsicherte und befangen machte, aber in keinem Fall den starken Anreiz auslöste, den er bei jeder Begegnung verspürte. In dieser Situation musste man schon irgendetwas sagen, so dicht standen sie beieinander und schauten sich an.

"Verzeihung", sagte er und hatte schon vor, es bei diesem einen Wort zu belassen und sich wieder abzuwenden, als sie ihn ansprach: "Waren sie auch in diesem fürchterlichen Vortrag?"

Pu meinte, ihr schlecht von dem Gaststättenbesuch erzählen zu können und flüchtete in ein kaum vernehmbares, näh, gewissermaßen", ganz falsch war das ja nicht.

Sie war von seiner Unsicherheit kaum beeindruckt und gab, mit ihrer, ihm schon bei früheren Begegnungen aufgefallenen klaren festen Stimme, einige Eindrücke zu dem vermeintlich gemeinsam erlebten Bildungsereignis wieder. Es war der Situation nicht unangemessen, für ihn aber völlig überraschend, als sie dann den Vorschlag machte, noch kurz einen Kaffee miteinander zu trinken, da man sich so kaum unterhalten könne.

Er kämpfte gegen den Gedanken an, dass möglicherweise die Phantasie mit ihm durchgegangen sei, aber er fühlte sich wie- der völlig nüchtern - an diesem Tag lief eben alles anders. Wegen des Vortrags machte er sich keine Sorgen, inzwischen konnte er sich in etwa vorstellen, worum es gegangen war. In der Zeitung musste er eine Notiz darüber gelesen haben und irgendwie hatte er die Ahnung, dass es nicht unbedingt darum ging. Ohne länger zu zögern willigte er ein, kam damit das zweite Mal heute von seinem gewohnten Weg ab und sie schlenderten, die Fahrräder schiebend, um die nächste Ecke in das Stadt Café. Es fiel ihnen leicht, sich dabei zu unterhalten, sogar schweigend fühlten sie sich miteinander wohl, tauschten dabei immer wieder sympathisch prüfende Blicke aus.

"Besuchen sie öfter diese Vorträge?"

"Eigentlich nicht, aber wo soll man als Frau alleine hingehen?" "Meinen Sie, dass Männer es da leichter hätten? Na ja, vielleicht in die Kneipe gehen. Nach fast zwanzig Jahren war ich mal wieder in meiner Jugendkneipe, wissen sie, da in der Hohenzollern Straße - habe sie da früher nie gesehen."

"Wäre ich ihnen denn aufgefallen?", beide lächeln, aber so leicht kann man ihn nicht überlisten. "War früher noch eine Mädchenschule, da, hätten uns nicht reingetraut, in diese Kneipe, muss einiges los gewesen sein - wilde Gerüchte kursierten und sie - waren da mittendrin? Ich kann mich noch erinnern, das sich im strömenden Regen mal dort vorbeikam, überlegte ob ich es nicht riskieren sollte, reinzugehen und sah einen jungen Mann davor stehen, pitschnass, völlig aufgeweicht, nicht mal ein Regencape oder so etwas, hat mir richtig leidgetan, aber er war total unbekümmert, als sei nichts, das waren sie."

"Hm, schade dass sie nicht reingegangen sind, aber es ist nicht ihr Ernst, dass ich das gewesen sein soll.

„Hatten sie mal einen, hm, hellbeigen oder so ähnlich farbenen

BMW?"

"Das kann nicht sein, woher wissen sie das, hellrot war er, mein erstes Auto, gehörte allerdings meiner Schwester und mir gemeinsam, lange, lange ist das her, unmöglich, dass sie sich daran erinnern wollen, bestimmt eine Verwechslung, ein Zufall- kann ich mir nicht vorstellen. Bin ganz sicher, dass sie der im Regen waren, aber nicht allein standen sie da. Habe sie selten …" - verschluckt den Rest

„Fanden sie es wirklich schade?“

"Das hört sich fast so an als ob wir uns beide nie ganz aus dem Auge verloren hätten, eigenartig."

"Ja, merkwürdig", sagt sie, sieht ihn sehr zugewandt und gleichzeitig fragend an.

"Allzu oft sind wir uns nicht begegnet, nicht allein, so wie jetzt. Sie müssen, Entschuldigung, ein, zwei Jahrgänge über mir sein?"

"Wegen so was müssen sie sich nicht entschuldigen. Das kann schon stimmen mit den zwei, drei Jahren. Macht ja nichts, dass ich etwas älter bin? Wo haben sie mich denn gesehen mit dem Auto, aber wie konnten sie sich das bloß merken mit dem Wagen, hätte selbst Mühe gehabt mich daran zu erinnern."

"Habe eher Schwierigkeiten mit Frauen, die jünger sind, weiß nicht woran das liegt. War an diesem Firmengebäude in der Nähe des Güterbahnhofs, könnte ihnen noch die Stelle zeigen, rechts vom Eingang."

Da habe ich öfter gestanden, meine Schwester aber ebenfalls und jede Menge andere Leute. "Na gut", sagt er spöttisch, dann war es vielleicht die Schwester, äh, sieht die auch so gut aus?"

Ist sie etwa leicht rot geworden, beide lächeln, als hätten sie jetzt ein Geheimnis miteinander. "Und der junge Mann, wie können sie da so sicher sein?"

"Wer beantwortet uns bloß all diese Fragen - mal sehen, beim Kaffee - finden wir eine Antwort."

Wer zählt die Völker, nennt die Namen

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