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Gefährliche Unterforderung

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Am nächsten Morgen hat er wie fast jeden Tag Schwierigkeiten, aufzustehen. Der Gedanke an die Arbeit, das schmucklos kühle Büro, an die schlechte Atmosphäre im Betrieb, bedrückt ihn jeden Tag aufs Neue; warum kann er sich bloß nicht an diesen Alltag gewöhnen, geht es anderen auch so? Ein ständig wachsender Berg von Routinearbeit, diese Regelmäßigkeit, ist es das? Protokolle lesen, die gleichen Begriffe, Sachverhalte, diktieren, kontrollieren, abzeichnen.

Manchmal arbeitet er hektisch, nur weg damit, weg, obwohl ihn nichts treibt, - dann sitzt er stundenlang da, tut nichts, träumt vor sich hin, geht auf und ab, möchte einfach nach Hause, die Arbeit ist doch getan, mehr wollten sie heute nicht von ihm. Aber die Rituale sind wichtig, festgelegte Zeiten, Arbeit als Götze. Vorschriften ersetzen Sinn: Produzieren, wegwerfen, recyceln, produzieren. Viele ruinieren nach wie vor ihre Gesundheit, verschleißen sich, bauen auf Verschleiß, gehorchen der Mode und verbrauchen dabei wichtige unersetzbare Vorräte an Rohöl und anderen Stoffen auf der Welt, während ein großer Teil der Menschheit nicht mal das Nötigste hat. Working for Nonsens, hat jemand an die Fabrikmauer gepinselt. Der Götze Arbeit lässt nicht los, hört der Fortschritt da auf, wo der Mensch krank, die Umwelt zerstört wird, es nicht für alle reicht?

Ständiger Blick zur Uhr, noch ein paar Minuten sind drin, aufstehen erst sieben nach sechs, das ist seine magische Zahl. Ist die Erde eine Frucht, die irgendwann reif ist, zerplatzt, ihre Samen auf den Weltraum verteilt, um irgendwo anders eine ähnliche Entwicklung hervorzurufen? Aber noch ist es nicht so weit, sondern es ist gleich sieben nach sechs.

Etwas als sinnlos oder unnatürlich zu bezeichnen, ist viel- leicht nur ein Anhaltspunkt für mangelnde Erkenntnis? Überhaupt findet er es mehr als erstaunlich, dass die Menschen fast alles, was sie zusammenbrauen als unnatürlich empfinden, sich selbst außerhalb der Ordnung stellen. So als sei eine Frucht von Würmern befallen und die Würmer seien nicht Teil des Ganzen, hätten keinen Sinn, keinen Auftrag zu erfüllen.

Es hilft alles nichts, vor allem den Kindern kein schlechtes Vorbild sein, zusammenreißen, den Widerwillen bekämpfen. Morgens spricht er noch eine Art Gebet, in dem er um Schutz für die Kinder bittet, dass sie durch den mörderischen Straßenverkehr, den gnadenlosen Konkurrenzkampf in der Schule keinen Schaden nehmen und bei seiner teilweise sehr brisanten Arbeit keine gravierenden Fehler passieren, die andere gefährden könnten. Für sich selbst wünscht er sonst nichts, glaubt, dass solche Gebete keinen Sinn haben. Nachdem wieder Rassismus, Fremdenfeindlichkeit gegenüber anderen Menschen, Religionen, aufgeflammt sind, hat er sich entschlossen, seine kurze Andacht an alle guten Götter zu richten.

Die Gedanken an C lassen sich nicht länger zur Seite schieben und er versucht, seine Gefühle ihr gegenüber zu überprüfen.

Nein, die Nacht, die bei ihm oft eine starke innere Erneuerung bewirken kann, Entschlüsse revidiert oder ins Wanken bringt, hat seine Gefühle eher bestärkt. Er spürt noch die Faszination ihrer Nähe, und die Wünsche oder besser Träume, die vorher schon da waren, lassen sich jetzt verwirklichen?

Will er das und wie weit kann er gehen, tiefe Zweifel überkommen ihn. Den Kindern eine halbwegs normales Familienleben bieten, das ist ein ganz wichtiges Ziel und so viel verlangen die gar nicht, haben eine erstaunliche Toleranz, bevor sie etwas als bedrohlich oder unnormal wahrnehmen. Diese klischeehafte Partnerschafts- und Familienidyll, was einem überall vorgegaukelt wird, hat es doch nie gegeben.

In der letzten Zeit hat ihn öfter die Frage beschäftigt, wann das intensivere Gespräch, die Zärtlichkeit aus seiner Ehe verschwunden sind, ob es ein besonderes Ereignis dafür gab?

Nichts lässt sich genau festmachen, weder Zeitpunkt noch Beweggründe, wie ist das möglich? und nur schwer erinnert er sich an die Zeit, als es noch anders war, sogar Kosenamen existierten, kaum noch vorstellbar. War es manchmal alleine die Zeit, die verlorene Gefühle zurückbrachte, es Phasen der Annäherung und Distanz geben musste? aber allmählich fehlt ihm die Vorstellungskraft, da könnte sich noch etwas bewegen.

Beim Aufstehen, nun hat er doch die Zeit überschritten, mehr Zeit zum Nachdenken müsste man haben, kommen ihm seine Bewegungen noch fahriger, hektischer vor als sonst. Bloß jetzt keinen Fehler beim Rasieren machen, elektrisch reicht ihm nicht, zu schnell machen sich da einzelne Haare selbständig, sind dann vom Rasierer nicht mehr zu erfassen. Lieber kein neues Messer für die anschließende Nassrasur nehmen, zu leicht schneidet man sich damit, verliert dann kostbare Zeit. Dick trägt er den Rasierschaum auf, betrachtet sich kritisch im Spiegel, schabt vorsichtig alles wieder ab. Erleichterung beim Nachspülen mit kaltem Wasser, soll die Poren wieder schließen, erfrischt, noch so eine Fuhre, noch eine über das ganze Gesicht. Allmählich fühlt er sich frischer, abrubbeln mit dem Handtuch, Leben kommt in das Gesicht, in den Körper.

Ständig zerreißen ihm die Strümpfe, sind schon nach ein paar- Mal waschen hinten durch oder hat er zu wenig Geduld; diese Mordende sollte man abschaffen - sich abends alles zurecht legen? Nein, das Hemd passt nicht zur Hose oder doch dieses Hemd und eine andere Hose, es ist zum Verzweifeln. Manchmal geht eine bestimmte Farbe überhaupt nicht, zurzeit ist es blau, kommt sich völlig albern vor bei dieser Prozedur, nur gut, dass einen dabei keiner beobachtet.

Er nimmt sich immer wieder vor, langsamer, geduldiger zu wer- den, sich mehr Zeit zu nehmen. Lastet da morgens schon ein Druck auf ihm, den er nur schwer beschreiben kann? Aber beim Frühstück ist es nicht besser, flüchtige Blicke in die Zeitung, mit der anderen Hand irgendwie essen, große Politik, erste Seite des Lokalteils und die Entwicklung der Börsenkurse, lässt sich neuerdings schon an einer gut überschaubaren Kurve ablesen. Ist er inzwischen bei bestimmten Themen empfindlich geworden? Bei Brandanschlägen, Gewalt- und Tötungsdelikten an Ausländern standardmäßig der Satz, für rechtsradikale Absichten gäbe es bisher keine Hinweise, möglicherweise sei Rauschgift im Spiel oder Familienfehden, obwohl es dafür ebenfalls keinerlei Beweise gibt. Da wurde ein Türke mit einem Baseballschläger getötet und verbrannt; zufällig hörte man in der Nähe Lieder, "Türke verbrenne", und dann der übliche Standardkommentar. Eigenartige Zufälle gibt es schon in diesem Land und bei Beschwichtigungen machen viele mit, machen sich mitschuldig. Ein hoher Politiker hat eine geniale Lösung gefunden, unterscheidet die Ausländer in zwei Gruppen, die eine, die sich zur Einbürgerung und die andere, die sich gegen Deutschland entschieden hat. Nichts mehr dazwischen und die Kritik an diesen Äußerungen ist mager, man müsse das ja nicht mit der Polizei durchsetzen, alle sind schnell beruhigt. Abgrenzung statt Integration, Monokultur, statt Vielfalt, sind ihre Parolen. Pu fängt an, ohne besonderes System, solche Zeitungsausschnitte zu sammeln, und ein unglaubliches Szenario hat sich da zusammengefunden - aus den liberalsten Zeitungen aus- geschnitten. Keine Verbesserungen für die vielen jungen Leute in Sicht, die zwischen allen Stühlen sitzen, entweder oder, verlangt man ihnen ab, umsonst sind ihre alltäglichen Leiden, ihre Toten. Wie viele werden inzwischen mit dem Feuerlöscher in greifbarer Nähe schlafen, horchen nachts in den stillen Hausflur hinein, in dem sich ein Brand schnell ausbreiten, um sich greifen kann und jeden Fluchtweg verschließt. Hat es je eine größere Feigheit gegeben, gegen wehrlose schlafende Menschen, Frauen und Kinder zu marschieren. Wieviel fühlen sich wegen ihrer Herkunft, ihres Aussehens ständig bedroht, treten nur noch in größeren Gruppen auf, weil zu leicht festzustellen ist, wer dazu gehört und wer nicht. Das gesunkene Niveau an Menschlichkeit, die angestrebte kulturelle Verödung, wird vor keinem Bereich des gesellschaftlichen Lebens halt machen, sich auf alle geistigen und wirtschaftlichen Leistungen negativ auswirken. Einige gehen schon wieder, andere sind schon wieder zu spät gegangen. Müsste man vielleicht das Namensschild an der Tür ändern, der Postbote muss es jedenfalls noch identifizieren können oder wenigstens ein Stück unleserlich machen, aber in dieser Gegend?

Wer zählt die Völker, nennt die Namen

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