Читать книгу Wer zählt die Völker, nennt die Namen - Moritz Liebtreu - Страница 8
Bloß nichts Neues
ОглавлениеNur auf Schleichwegen kann er dem üblichen Verkehrsstau entgehen, da hat er sich früh genug etwas einfallen lassen - nicht zu schnell fahren, überall stehen jetzt diese Starenkästen, machen Porträts: Fahrer mit Auto, eine Ausrede ist nicht mehr möglich. Es gibt keine besonderen Geschwindigkeitsbegrenzungen auf Schulwegen. Ratlos stehen sie an Kreuzungen, rechts vor links, selbst Autofahrer haben Schwierigkeiten noch durchzusteigen, wenn von allen Seiten jemand kommt, nach links, nach rechts abbiegt. Einmal stoppt er vorsichtig, will ihnen, mindestens vier bis fünf sind es, die angespannt am Straßenrand ausharren, zur nahegelegenen Grundschule unterwegs sind, die Vorfahrt abtreten, da verliert der hinter ihm die Geduld, hupt und rast mit quietschenden Reifen an ihm vorbei, in dem Moment wo die Kinder losgehen, nun genau in dieses Auto zu laufen drohen, oh Gott ... , im letzten Augenblick merken sie es noch. Höflichkeit kann da ein tödlicher Fehler sein. Schwer wird er den Anblick von zerquetschten Kinderfahrrädern wieder los, und schlimmer, einmal liegt ein kleiner Junge, etwa zehn Jahre alt, regungslos, mit dem Gesicht nach unten, in der Mitte einer großen Kreuzung, alles abgesperrt, keiner steht bei ihm, das geht wohl zu nahe, nicht mal Gaffer bleiben stehen. Ob bei solchen Ereignissen nicht jemand von der Stadt vorbei kommen müsste, die Verkehrssituation da genauer zu untersuchen? Auf dem ersten Blick ließe sich da oft vieles verbessern, aber es ist das Zeitalter des Autos, Leute verlieben sich in sie, verschulden sich hoch, um ein repräsentatives, möglichst neuestes Modell zu besitzen. Verbringen viel Freizeit damit, es zu pflegen, gehen sorgsam damit um, als sei es ihr höchstes Gut und nicht nur aus Blech und Kunststoff.
Wie Hemden und Hosen verändern sie ständig ihre äußere Form, richten sich nach Modefarben - muss ja alles zusammen passen, Haarfarbe zur Inneneinrichtung des Autos, mindestens. Allzu viele sind in dieser Branche beschäftigt, möchten ihren Arbeitsplatz nicht verlieren, schuften sich den Buckel krumm für diese Wegwerfgefährte und niemand darf ihren freien Lauf stören, ihr Prestige herabsetzen, ist fast ein Tabu.
"Die pflegen ja nicht mal ihr Auto", wurde seine Familie von einem Nachbarn empfangen. Und so schlängeln sich die Kinder hindurch, wagemutig, zwischen den ständig dichter werdenden Kolonnen, gehetzten ungeduldigen Gesichtern, die nicht zu spät kommen dürfen, vertrauen ihrem Schutzengel, sonst würde noch viel mehr passieren.
Stopp - rot, die einstmals grüne Welle hier, kann den gestiegenen Verkehr nicht mehr schlucken, zu zäh bewegt er sich voran. Vorsicht, wieder liegen Scherben auf der Fahrbahn, ständig kracht es hier auf der Umgehungsstraße und da stehen wieder zwei, leichter Auffahrunfall, nur Materialschaden, nichts Besonderes. Selbst an den Wochenenden ebbt der Verkehr kaum noch ab - Schlange stehen zum Waldspaziergang. Endlos steht er jetzt, um links abzubiegen, mitten auf der Straße, von hinten und von vorne rauschen sie vorbei, keine Lücke im endlosen Strom.
Vor dem Werkstor drängeln sich wie auf Kommando die Menschen. Nur einige müssen ihre Ausweise vorzeigen, offen erkennbare Ausländer und die paar Taschenproben am Abend, werden eben- falls hauptsächlich bei denen gemacht. Bei den anderen traut man sich wohl nicht, dabei sind es einige, aus dem Lager- Pfortenbereich, die nicht selten eilig mit auffällig dicken Taschen, Kartons den Betrieb verlassen. An ihren Gesichtern kann man es erkennen, decken sich gegenseitig, braucht doch keiner mehr, liegt doch nur rum, vergammelt doch sonst, nimm man mit, schadet doch keinem, nur nicht erwischen lassen. Die Aufmerksamkeit lenkt man dann auf andere, die sich nicht wehren können. Gerade der, der immer den letzten Ausländerwitz kennt, beim Hausmeister beschäftigt ist, die Putz-, Pflegemittel, den ganzen Hausrat verwaltet, ist ständig auf der Lauer, schlecht bezahlt, holt er sich, was ihm zusteht. Es geht bei seinen Scherzen längst nicht mehr darum, sich lustig zu machen, sondern zu beseitigen, und immer drastischer werden die phantasierten Methoden. Er sieht sie vor sich, wie sie sich im Bierdunst daran berauschen, ganz normale Kneipenbesucher. Da wurde ein ägyptischer Kollege, mit einer Deutschen verheiratet, während der Probezeit entlassen, wehrte sich verzweifelt gegen den Vorwurf, mehrere deutsche Kollegen bedroht zu haben. Lächelte immer sehr freundlich, sehr schüchtern und zurückhaltend war er, schmal, kleinwüchsig von der Gestalt. Die anderen halten zusammen, wie soll man ihnen das Gegenteil beweisen?
Pupidu kann man schlecht einschätzen, ist doch ganz normal, oder, ein seltsamer Name zwar. Seine Position in dem Unternehmen ist nicht ganz einfach. Er ist durch einige recht spektakuläre Veröffentlichungen, die er sonst hier mit keinem abgestimmt hat, aufgefallen. Zeitungs-, Radio-,Fernsehberichte folgten, und die Geschäftsleitung ist auf die Publizität recht stolz, andererseits fürchtet sie seinen Einfluss, hält seine Ideen teilweise für utopisch, eigenwillig, wo will der hin, steht der loyal zum Unternehmen? Innerhalb des Betriebes hat er nie versucht, Vorschläge zu machen, besonders aufzufallen, bloß niemanden herausfordern. Er kennt das Gelächter, wenn Projekte abgelehnt, durch immer die gleichen Phrasen abgeschmettert werden: "Viel zu teuer, da können wir ja gleich eine völlig neue Fabrik bauen, so etwas passt doch gar nicht in unser Konzept", und wieder dieses von Anfang an vernichtende höhnische Gelächter des Produktionschefs und seiner Mannen. Die kleinste Veränderung versetzt sie in panische Angst, ihr Herrschaftsgebiet würde verkleinert, ihre Macht würde bröckeln, sie hätten nicht mehr alles unter Kontrolle. Inzwischen hat er die Hoffnung aufgegeben, in die kleine Forschungsabteilung zu kommen, die Stellen dort scheinen ohnehin besonders vakant zu sein, gerade in schwierigen Zeiten droht dort als erstes die Auflösung. Dass die in diesen Zeiten besonders überflüssig sein sollen? Im Pfortendienst, sogar beim Hausmeister, dürften zurzeit mehr beschäftigt sein als dort in der Entwicklung.
Ohnehin herrscht noch ein gehöriges Misstrauen gegenüber Akademikern, das vor allem durch die ohne diese Weihen aufgestiegenen Mitarbeiter genährt wird, die aus dieser Richtung leicht Konkurrenz wittern.
Hin und wieder werden abrupt Dienstpläne geändert, Urlaubssperren ausgesprochen, Rationalisierungsmaßnahmen angedroht: "Jetzt müssen wir uns aber was einfallen lassen, sonst machen die uns dicht." Keiner soll sich ganz wohl fühlen, sich vor oben fürchten, auf der Hut sein, von neuen Führungsmethoden keine Spur und längst kann er dort keinen vernünftigen Gedanken mehr fassen, hat sich statt dessen zu Hause ein kleines Labor eingerichtet - wird schon nichts passieren - wo er unbehelligt experimentieren kann und davon träumt, so vielleicht mal auf eigenen Beinen zu stehen, sich selbständig zu machen. Zur Vorsicht hat er eine feuerfeste Tür eingebaut:
"Was soll denn diese Tür? Sieht ja unmöglich aus“, war die besorgte Frage.
"Wegen des Geruchs, kann schon mal etwas unangenehm riechen, lässt sich doch schön streichen", hatte er zu beruhigen versucht. Nicht ohne Aufwand das Ganze, und ein Luftabzug musste zusätzlich noch eingebaut werden. "Dann sieht man dich wohl gar nicht mehr", war der Kommentar.
Ohne den geringsten Einsatz zu leisten, profitierte zwangsläufig die Firma von dieser Arbeit, die ihn oft bis spät in den Abend, besonders aber an den Wochenenden und Feiertagen beschäftigte, was ihn nicht selten in Konflikte stürzte, ihn maßlos ärgerte.
Aber die Kinder ließen sich von den neuen Apparaturen nicht schrecken, "darf man reinkommen, ist doch nicht gefährlich?"
Es gab nichts schöneres, da Versuche zu machen, aber die meiste Arbeit vollzog sich am Schreibtisch, auf dem Papier.
"Gibst du mir ein Blatt Papier, zum Malen, was machst du denn da, störe doch nicht?"
"Ja, gerne - stört doch nicht", das war die schönste Form der
Arbeit.
"Darf ich mich da hinsetzen, muss ja nicht viel sagen?"
"Ja, gerne."