Читать книгу Wer zählt die Völker, nennt die Namen - Moritz Liebtreu - Страница 6
Der Tagtraum lebt
ОглавлениеWar das ein verschenkter Abend, hatte sie mehr, zu viel erwartet? Machte es nur keinen Spaß, da alleine zu sitzen, plötzlich war ihr das Zuhören schwer gefallen, und sie hatte schon überlegt, vorzeitig zu gehen, nur wäre das Gefühl dann im nachhinein noch schlechter gewesen. Tief atmete sie nun aus, hatte wenigstens durchgehalten. Diese Vorträge dachte sie, ließ sich von der Mutter leicht dazu überreden, "hört sich doch sehr interessant an, musst doch mal raus, wo gehst du denn noch hin, passe gerne auf das Kind auf?" Routiniert hatte der Mann sein Referat abgelesen, kurze Diskussion, kaum Nachfragen, aber so viele, dass es nicht peinlich war und viele müde Gesichter im hellen kalten Licht des Klassenzimmers.
Warum fiel es ihr so schwer dieser Stimme zu folgen, war das Gehör nicht mehr daran gewöhnt, so lange einer natürlichen, nicht durch Technik vermittelten, Sprache zu folgen?, vor dem Radio- oder Fernsehgerät hatte sie nicht die geringsten Probleme. Oder lag es nur daran, dass sie es zu wenig gewohnt war, unter so vielen Menschen zu sitzen, und sie befürchtete schon, ihre Unruhe würde auffallen, störe die anderen, was sie noch weiter verunsicherte.
Als sie das Schulgebäude verlassen hatte, sah sie ihn schon von der anderen Straßenseite herüber kommen und konnte ein leichtes Herzklopfen kaum unterdrücken, als er plötzlich direkt auf sie zukam, sie fast zusammenstießen und dann die ersten Worte fielen. Er überragte die meisten Leute bei weitem, hatte ein auffallend schmales, längliches Gesicht, eine leichte Adlernase, hervorstehende Backenknochen, eine gleichzeitig hohe und breite Stirn. Die dichten dunkelblonden, fast schwarzen Haare hatten, vor allem an den Seiten, erste graue Strähnen; trotz seiner breiten Schultern und seiner athletischen Erscheinung, ging er leicht gebückt, zog sich zusammen, als wolle er den Größenunterschied ausgleichen, wirkte sogar etwas trottelig, versponnen. Waren es besonders diese Gegensätze, die sie so anziehend fand, und er ihr schon häufig aufgefallen war? Sie wusste es nicht. Sie hatte mal darüber nachgedacht, wie oft sie sich begegneten, vielleicht einmal pro Woche sauste er mit seinem Fahrrad an ihr vorbei, sah sie ihn im Auto, ganz selten kamen sie sich näher, standen im La- den nebeneinander. Dabei stellte sie schon früh fest, dass sie ihn gerne sah, er sie verunsicherte, sie ihn kaum richtig ansehen konnte, wenn sie sich gegenüber standen. Er schien unbefangener zu sein, oder hatte sie sich nur eingebildet, dass er sie beim Brötchen holen ziemlich ungeniert musterte? Traute sie ihrer eigenen Wahrnehmung nicht mehr?
Er hatte eine tiefe, etwas kratzige Stimme, die leicht abbrach, so, als höre ihm niemand zu oder er würde sich nur ungern festlegen. Im Café' saßen sie sich zum ersten Mal direkt gegenüber, und, ohne dass sie noch ein Wort darüber verlieren mussten, war auf einmal für beide klar, dass sie sich nicht gleichgültig waren. Ihr Gespräch blieb zunächst belanglos, so beschäftigt waren sie damit, sich mit diesem stillen Einverständnis gegenüber zu sitzen und sich anzusehen.
"Trinken sie den Kaffee immer schwarz?"
"Ist wohl mehr aus Bequemlichkeit so geworden, macht im Büro zu viel Arbeit, die anderen Utensilien da zu haben." Typisch Mann, hätte sie beinah gesagt, aber lächelte nur.
In seinem Kopf hatte es unablässig gearbeitet, doch eine Antwort auf die Frage zu finden, was mit ihnen sei. Es reizte ihn, eine möglichst einfache, aber nicht unbedingt eindeutige Aussage darüber zu machen, was sie miteinander verband. Ob man sich über so viele Jahre interessant finden konnte, ohne sich je näher gekommen zu sein - bis heute? Die richtigen Worte fielen ihm nicht ein. Sie schon früher nett, attraktiv, gut aussehend, empfunden zu haben - zu banal, dachte er, das trifft es irgendwie nicht. Andere Dinge fallen ihm spontan ein: Flucht in Träume, Flucht vor der Realität. Aber der Traum verflog nicht, im Gegenteil, die Wirklichkeit war noch schöner, aufregender als die reine Vorstellung. Ihre klar gezeichneten Gesichtszüge, den Wunsch verspürte er, sie mit seinen Fingern zu berühren, sie nachzuzeichnen. Oberhalb der Lippen entlang zu fahren, wo die schärfsten Konturen waren, dann an den Wangen entlang, unter den Augen vorbei bis zu den dunkel glänzenden Haaren, die locker sanft herunterhingen, öfter von ihr mit der Hand zurückgestreift wurden, was sehr elegant, weiblich wirkte.
"Gab wohl früher keine Gelegenheit, sich anzusprechen, sich näher kennen zu lernen - hätte es wohl nicht gewagt."
"Warum nicht gewagt?", ging sie sofort auf seinen Vorstoß ein.
Die erste etwas umständliche Aussage brachte ihn aber weiter. Jetzt hatte er ungefähr, was er sagen wollte: "Fand Sie, glaube ich, zu attraktiv."
"Kann ich mir nicht vorstellen", sagte sie ehrlich erstaunt, "dass sie da Komplexe gehabt haben, sie doch nicht, oh nein", schaute sie ihn skeptisch an. Oder, warten sie, ging es mir ganz ähnlich? Darf ich das ganz offen sagen?
"Ja, auf jeden Fall, ohne Scheu."
"Sie sind mir so arrogant vorgekommen, unnahbar."
"Wer weiß immer, wie er auf andere wirkt?"
"Hatte aber später gar nicht mehr das Gefühl", schickte sie schnell hinter her, als sie sein zweifelndes, bedauerndes Gesicht sah.
Pu wusste nun, dass an diesem Tag wirklich alles anders war, er sich auf eine sehr riskante Sache einließ, alle bisherigen Grenzen überschritt, aber nun nicht mehr zurück wollte oder konnte.
Es war ihr in diesem Augenblick gleichgültig, welche Konsequenzen diese Begegnung mit sich brachte, gab sich ganz einem Hochgefühl hin, das sie so schon lange nicht mehr erlebt hatte. Sie konnte seine abtastenden neugierigen Blicke regelrecht körperlich spüren, bot sich ihm an und spürte seine unterschiedlichen Regungen, je nachdem, wie sie sich setzte, ihre Schenkel leicht öffneten, die Beine übereinander schlug oder ihr Rückgrat durchdrückte und sich ihre Brüste leicht anhoben oder senkten. Wahrnehmung und Gestik verhielten sich wie in einem berauschenden Tanz und keiner von ihnen konnte genug davon kriegen, zu schauen und angeschaut zu werden.
Sie hatte sehr ebenmäßige Gesichtszüge, und er mochte ihre Frisur, die ihr Gesicht so gleichmäßig umrahmte, sehr glatte Ränder warf, sehr exakt geschnitten sein musste. Es störte ihn nicht im Geringsten, dass sie keine Mannequin-Figur hatte, in den Hüften breiter, weiblicher, nicht völlig schlank war.
Als er sich leicht vorbeugte, um seine Sitzhaltung zu verändern, spürte er ein Knistern in der linken Innentasche seines Blousons und erinnerte sich an die Papiere, die er dort in der Kneipe provisorisch verstaut hatte. Es passierte leicht, dass sich seine Aufmerksamkeit abrupt veränderte, holte ohne eine Erklärung die Blätter hervor, war auf einmal gespannt, was sie enthielten.
Zu seinem Erstaunen war das erste Blatt keine Kopie, sondern eine Originalschrift, wie man es deutlich an den ausgestanzten und verschmierten Buchstaben einer wohl schon älteren Schreibmaschine feststellen konnte. Es waren mehrere Dokumente, zum Teil mit der Hand geschrieben und unterschiedlich alt, wie es an dem Papierzustand und teilweise angebrachten Datierungen abzulesen war.
"Haben sie etwas geschrieben?", fragte sie und wunderte sich etwas über sein Verhalten.
Er leicht verlegen: "Hm, von einem Bekannten, bin noch nicht dazu gekommen, es mir anzuschauen, ist wohl gar ein Gedicht dabei?"
"Wenn du willst, lies doch laut, vielleicht passt es zu dem Vortrag?"
Pu, der nicht gerne laut vorliest, schon gar keine Gedichte, liest aber nur für sich ein paar Worte, überfliegt schnell den Text. „Vorlesen war leider nie meine Stärke. Aber es geht wohl um die Bürgerkriege, über die jeden Tag im Fernsehen berichtet wird. Schlimm, wie viel heute noch mit Gewalt geregelt werden soll -kann ich selbst auch nicht mehr sehen“, letzteres etwas heftiger.
„Mudidingo“, „Dingomudi“, das sind wohl die Parteien, die miteinader im Krieg liegen.“
Und nur zu sich selbst: Muss die Sachen wohl gut aufheben (s. Archiv 1, letzte Seite des Buches), der war vielleicht zu betrunken und weiß heute nicht mehr, wo seine Aufzeichnungen geblieben sind.
Pu schaut auf, " was machen wir nun, wie geht es weiter?" Sie weiß, dass er nicht den Text meint, sagt dennoch: "Es interessiert mich, wie das Gedicht weitergeht - sollen wir nicht Du sagen?"
"Mein Vorname, François, ist etwas schwierig auszusprechen, ich mag ihn auch nicht, so dass mich alle Pu nennen."
"Ich finde das originell - dann sag doch einfach C zu mir, dann haben wir etwas gemeinsam", erwidert sie ganz ernsthaft.
"Gut, C", die Zeit drängt und beide fürchten sich davor, die Situation abzubrechen, wissen nicht, was dann passieren soll.
Geht man jetzt auseinander, lässt alles wie es war, trifft sich so nicht wieder, sondern nur in Tagträumen? Täuscht man sich in seinen Gefühlen, ist alles nur Einbildung? Nein, das ist keine flüchtige Bekanntschaft mehr - keiner will das. Sie zahlen und draußen, sie steht ganz dicht neben ihm, leicht berühren sich ihre Arme - "vielleicht kannst du mich morgen anrufen, dienstlich, im Büro, sagt er endlich die befreienden Worte und denkt gleichzeitig, nie geht das gut, niemals.
"Die Nummer?" "Warte!"
"Ja, fahr du nur, ich habe es nicht so eilig."