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1. Das Telefonat

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Der Sommer ging zu Ende. Gelegentlich fiel schon mal ein Blatt vom Baum. Ich hatte keine Ahnung, ob das für Anfang September normal war, aber normal war der Sommer ja auch nicht gewesen. Im Juni war es mal drei Wochen lang sehr heiß, dem Rest konnte man aber überhaupt nichts Sommerliches abgewinnen. Nach dem letzten Winter war eigentlich gleich – bis auf diese drei Wochen – der Frühherbst gekommen, selbst der Spätsommer war ausgefallen. Ich hatte auch schon daran gedacht, die Heizung anzumachen, aber ich glaubte auch, so frühes Heizen sei etwas für Weicheier. Und wer will schon ein Weichei sein? Also blieb ich hart und wappnete mich gegen die erste Erkältung der Saison. Die Vorbereitung war rein mental und trotzdem wirkte sie meistens. „Scheiße, jetzt wird’s wieder richtig scheiße kalt, und besser wird’s erst wieder in acht Monaten.“ Es war erstaunlich, aber meistens half das wirklich, ich bekam recht selten eine Erkältung. Vielleicht lag es aber auch daran, daß ich nach den ersten stumm ausgesprochenen Durchhalteparolen doch zum Weichei wurde und die Heizung anstellte. Gerade als ich dieses Jahr ganz schnell Begründungen für das Anstellen der Heizung gefunden hatte, irgendeine Mischung aus „muß ja niemand erfahren“ und „Kunden sollen nicht frieren“, klingelte das Telefon. Meine Mutter war dran. Es war ungewöhnlich, daß sie mich an einem Dienstagmittag im Büro anrief. Meistens telefonierten wir sonntags. Meine Eltern waren im Urlaub gewesen und hatten vermutlich vor dem obligatorischen Sonntagstelefonat das Bedürfnis, sich mitzuteilen oder „Neuigkeiten“ von mir zu hören, die es natürlich nicht gab.

„Seid ihr heile aus dem Urlaub zurück?“

„Schon.“

„Aber?“

„Das war ganz schön knapp. Es sind uns zwei Reifen geplatzt. Ich weiß gar nicht wie das gekommen ist.“

„Gleichzeitig?“

„Nein, kurz nacheinander. Zuerst der eine und dann zwanzig Kilometer weiter der andere.“

„Das ist wirklich ungewöhnlich.“

„Ja, so kurz hintereinander.“

„Beim Auto oder beim Wohnwagen?“

„Beide Male beim Auto. Dein Vater hat das wirklich beide Male klasse gemacht. Wie er den Wagen abgefangen hat. Wirklich toll.“

„Er hat halt viel Erfahrung.“

„Das klingt so, als würdest du sagen wollen, wir seien alt.“

„Nein, so war das gar nicht gemeint.“

„Gemeint nicht, aber...“

„Er fährt halt jeden Tag Auto, und wenn man das über vierzig Jahre lang gemacht hat, dann macht man bestimmt einige Dinge instinktiv.“

„Da ist es ja schon wieder. ‚Über vierzig Jahre‘.“

„Aber so ist es doch. Überleg doch mal wie alt ich schon bin...“

„Und wie lange du schon von Zuhause weg bist.“

„..., was alles inzwischen passiert ist. Die Zeit vergeht schnell.“

„Ach ja, du hast ja Recht. Zu schnell, wenn du mich fragst.“

„Hat denn Papa die Aufregung gut verkraftet?“

„Ja, das schon, aber er ärgert sich jetzt, daß das alles so teuer ist. Wir hatten natürlich nur einen Ersatzreifen mit. Wir mußten also beim zweiten Mal den ADAC kommen lassen. Und der meinte, mit dem Ersatzreifen würden wir auch nicht lange sicher fahren können, also mußten wir uns von einer Werkstatt zwei neue Reifen montieren lassen. Und da kann man natürlich nicht irgendwo die billigsten raussuchen, da muß man schon das nehmen, was die haben. Und da waren die Reifen gleich mal 50 Prozent teurer als bei dem Händler hier im Ort.“

„Wann seid ihr denn wiedergekommen?“

„Samstag. Da haben wir erst mal ausgepackt. Sonntag waren wir dann bei Oma. Die ist froh, daß wir wieder da sind.“

„Wenn ich mir vorstelle, was auf der Fahrt hätte passieren können, dann bin ich aber auch froh!“

„Sonst nicht?“

„Doch, natürlich. Immer...“

„Was?“

„Immer diese Wortklauberei. Oder Verdrehung von allem Gesagten. Hätte ich beispielsweise gesagt, ich hätte euch auch einen längeren Urlaub gewünscht, dann hätte man das auch wieder negativ interpretieren können. Du bist manchmal wie Papa und ich noch viel mehr. Ach, immer dieses Umdrehen der Worte im Mund. Und dann die anschließenden Rechtfertigungen. Ich mache es gerade wieder und kann es eigentlich nicht ertragen.“ Kurze Pause. „Was ich eigentlich sagen wollte: Ich bin froh, daß ihr heile zurück seid. Betonung auf heile.“

„Hm, es ist aber auch wirklich ganz schön, wieder hier zu sein. Wenn nur nicht der ganze Dreck wäre.“

„Ja, ja, alles meterhoch mit Staub zugedeckt.“

„Ja, das stimmt aber wirklich. Und wie der Garten aussieht.“

„Dann guck doch nicht hin.“

„Na ja, stimmt, ist auch gar nicht so schwer, so schmutzig wie die Fenster sind.“

„Laß einen Fensterputzer und einen Gärtner kommen. Ist beides nicht so teuer. Aber laß den Gärtner zuerst kommen. Nicht, daß der so viel Dreck macht, daß die Fenster gleich wieder geputzt werden müssen.“

„Aber wir müssen doch sparen, wegen der Rente.“

„Ja, dann müßt ihr sparen. Ich muß auch sparen, hab gerade keinen Auftrag.“

„Dann such dir doch endlich einen vernünftigen Job.“

„Ja, ja.“

„Ich weiß, das kannst du nicht mehr hören, aber es stimmt doch.“

„Ja, ist schon gut. Und auf eine von diesen ganz fürchterlichen Single-Partys soll ich auch gehen, damit ich auch gleich eine Frau finde.“

„Ach, die sind doch bestimmt nicht so schlimm, die Partys meine ich. Da muß man dann wenigstens nicht mehr abklären, weshalb man da ist.“

„Du warst noch nie auf so einer Party. Das ist so schlimm, das kannst du dir gar nicht vorstellen.“

„Doch, das ist bestimmt so ähnlich wie früher bei uns in der Disco.“

„Nein, das ist ganz, ganz anders, viel, viel schlimmer, da dreht sich einem der Magen um. Da läuft Musik, die jeder kennt, die jeder mitsingen kann, die aber auch jeder schrecklich findet.“

„Aber jeder kann dazu tanzen.“

„Hm, so habe ich das nicht gesehen, aber jeder kann dazu auch kotzen.“

„Na. Also wirklich...“

„Ist doch war. Wenn ich nur die Wörter Staying alive höre, möchte ich schon das Gegenteil tun.“

„Aber vielleicht kann das ja auch verbinden.“

„Sterben? Kotzen? Schwachsinn!“

„Aber willst du immer alleine bleiben? Und willst du schon bald die Brücke fegen?“

„Brücke fegen, wenn man mit 30 noch nicht verheiratet ist? Ich weiß jetzt wenigstens, warum ich direkt nach der Schule in die Stadt gezogen bin, um diesen Dingen zu entgehen.“

„Und wegen deinen Eltern.“

„Quatsch.“

„Sag nicht immer ‚quatsch’.“

„Na gut, aber ihr meintet doch auch, es sei gut, wenn ich möglichst weit weg ziehen würde.“

„Ja, hier wärst du doch nur unglücklich geworden.“

„Bin ich auch so.“

„Wirklich?“

„Weiß nicht, vermutlich schon.“

„Immer noch dieses Mädchen?“

„Anne ist eine ausgewachsene Frau, kein Mädchen. Ja, ich komme von ihr nicht los.“

„Spricht das nicht für so eine Single-Party?“

„Nein, ich glaube, das spricht dafür, daß du mir mal den Papa gibst.“

„Der ist nicht da.“

„Wann kommt er denn wieder?“

„Das weiß ich nicht. Der bringt den Wohnwagen weg. Das kann dauern.“

„Wieso bringt er denn den Wohnwagen weg? Ist doch was passiert?“

„Ach, der hat ein Loch. Haben wir das noch nicht erzählt?“

„Ein Loch?“

„Auf den wurde geschossen.“

„Was?“, fragte ich deutlich lauter.

„Ja, am Samstag, als wir ankamen. Die Polizei war auch schon da.“

„Wie bitte?“, fragte ich, wieder lauter als zuvor.

„Ja, die Polizei war auch schon da. Machen konnten die natürlich auch nicht viel.“

Die Ruhe meiner Mutter war anstecken, auch ich beruhigte mich wieder etwas.

„Nein, das meinte ich nicht. Warum habt ihr mir nicht schon viel früher was gesagt?“

„Ach, das haben wir wohl vergessen.“

„Aber so was vergißt man doch nicht.“

„Doch, ist wohl passiert.“

„Was hat Oma dazu gesagt?“

„Der haben wir es nicht erzählt.“

„Auch vergessen?“

„Nein, die sollte sich nicht aufregen.“

„Also findet ihr auch, daß es keine Kleinigkeit ist.“

„Schon.“

„Aber?“

„Was hättest du denn tun können?“

„Weiß ich nicht, aber so was will man doch wissen. Ich will doch wissen, wenn auf euch geschossen wird.“

„Auf den Wohnwagen wurde geschossen.“

„Okay, was sagt die Polizei?“

„Ja nichts. Was sollen die denn sagen? Die haben das aufgenommen. Wegen der Versicherung.“

„Und sonst?“

„Was denn?“

„Na, ermitteln die den Täter?“

„Nein, wie denn? Die Kugel haben wir nicht gefunden. Die können da doch nichts tun.“

„Okay, dann hättet ihr mich um so mehr schon früher anrufen sollen.“

„Ja, warum denn? Willst du einen Beschwerdebrief schreiben?“

„Hast du schon vergessen, womit ich zur Zeit meine Brötchen verdiene? Äh, wenn ich sie mir denn verdiene...“

Kurz Pause und dann: „Ach ja, stimmt ja. Das hatten wir gar nicht auf dem Schirm.“

„Was gibt es zum Abendessen?“

„Ich wollte Bratkartoffeln machen.“

„Sehr gut, ich liebe Bratkartoffeln. Ich komme. Laßt mir was übrig oder wartet.“

„Aber wegen Bratkartoffeln muß du doch nicht extra vier Stunden durchs Land fahren. Da gibt es doch bei dir dieses Lokal...“

„Mama?“

„Ja?“

„Ich komme nicht wegen der Bratkartoffeln!“

„War das jetzt nett oder nicht nett?“

„Ich komme, weil auf euch...“

„Den Wohnwagen.“

„...geschossen wurde und ich Detektiv bin und das klären möchte.“

„Na, dann bis nachher. Fahr vorsichtig.“

„Ja, bis später.“

Ich hatte meinen Wagen seit ein paar Tagen nicht mehr bewegt, hatte auch vergessen wo er stand. Wartungsaufwand und Parkplatzprobleme sprechen eindeutig gegen ein Auto in der Großstadt, aber manchmal ist es einfach praktisch. Ich hätte in dem Augenblick nicht Bahn fahren wollen. Allerdings mußte ich mein Auto erst einmal finden.

Ich ging nach Hause und packte das Nötigste für ein paar Tage. Beim Abschließen der Wohnungstür fiel mir sogar wieder ein, wo der Wagen stand, jedenfalls wo ich ihn abgestellt hatte. Er sprang nicht gleich an, aber ich brauchte nicht länger als zum Rauchen einer Zigarette, um ihn zum Laufen zu bekommen. Der Tank war glücklicherweise voll.

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