Читать книгу Familie - Morten Makolje - Страница 9
6. Der Verein
Оглавление„Da hat sich nichts geändert“, hatte die Frau gesagt. Das sollte wohl soviel heißen wie „da wurde nichts gemacht“. Der Zahn der Zeit nagte an dieser langen Baracke auch nicht langsamer als an anderen Dingen, so wie es aussah vielleicht sogar schneller. Oder fehlten mir damals einfach nur die Vergleichsmöglichkeiten, um zu erkennen, daß das Ganze auch da schon ziemlich erbärmlich war? Das Gebäude fiel nicht zusammen oder eindeutig in die Kategorie Schuppen, es wirkte nur, als hätte man es aus all den Teilen zusammen geschustert, die bei anderen Bauvorhaben übrig geblieben waren. Selbst der PVC-Boden war nicht aus einem Stück, noch nicht einmal von einer Qualität oder mit einem einheitlichen Muster verziert. Und mit Hippietum hatte dieses Patchwork überhaupt nichts zu tun. An einer Wand hingen die Bilder von Schützenkönigen vieler vergangener Jahre und auf dem Bilderrahmen klebte nicht selten das Logo einer Partei oder einer Firma, die es sich leisten konnte und wollte, den Schützenkönig zu stellen. Das Ausrichten der Siegerfeier war nie ganz billig gewesen.
Ein Typ in meinem Alter kam mit einer Kiste Cola aus einem hinteren Raum.
„Die Hälfte von denen ist schon tot.“
„Hallo.“
„Hi. Und die andere Hälfte braucht auch nicht mehr lange. Langsam wird es mal wieder Zeit für einen jungen Schützenkönig.“
„Und wer hat Chancen?“
„Der alte Myller und der alte Menty haben sich in den letzten Jahren immer mal wieder die Krone hin- und hergereicht, aber die wollen wohl nicht mehr. Ist auch besser so. Aber es wird wohl in der Familie bleiben. Einer der Söhne wird’s wohl machen. Tom ist der bessere Schütze, aber ich denke, der wird aus Versehen einen der letzten Schüsse verreißen, damit es Bernd wird.“
„Gibt es sonst keine guten Schützen?“
„Hier? Nein. Jedenfalls nicht im Verein. Das sind die einzigen Jungen, die das noch von ihrem Vater haben. Ansonsten gehen doch alle weg oder machen andere Sachen, Gameboy oder Autorennen oder was weiß ich. Hasch und Discos kennt die Dorfjugend ja auch. Fußball“, er zeigt Richtung Sportplatz, „geht noch ganz gut, aber schon die Feuerwehr hat kaum noch Nachwuchs. Morten, oder?“
„Ja, stimmt.“
„Hab dich gleich erkannt.“
„Tschuldige, aber...“, ich hatte ihn nicht erkannt.
„Ach, macht nichts. Ingo. Du kannst dich bestimmt nicht mehr an mich erinnern.“
„Ja, da hast du leider Recht.“
„Besuchst du deine Eltern?“
„Ja. Und irgendwie holen mich ein paar alte Geschichten wieder ein. Mein Vater und ich haben vorhin den Zaun gestrichen und da kamen ein paar Leute und Erinnerungen vorbei...“
„Ja, selbst wenn man in die große Stadt geht, irgendwie ist man doch immer noch ein kleines bißchen hier zuhause.“
Ich drückte den Zeigefinger fest auf den Daumen und sagte „Aber nur so viel.“
„Verstehe. Ich bin hier nie weggekommen. Werde es auch nie. Ich hatte das mal überlegt, weil man in der Stadt doch mehr Freiheiten hat, aber ich bin auch irgendwie ein Kleinstädter. Und du?“
„Ich würde es hier nicht mehr aushalten. In den ersten ein, zwei Jahren bin ich noch recht häufig gekommen, aber dann hat das auch nachgelassen. Selten besuche ich meine Eltern und dann auch wirklich nur sie, nie das Dorf. Mir gibt das nichts mehr.“
„Du warst damals schon anders.“
„Du kannst dich an mich erinnern?“
„Klar. Du warst aus unserem Jahrgang der Einzige, der sofort einen so großen Schritt weg getan hat, auf jeden Fall der Erste. Das hat Eindruck gemacht. Und nicht jeder hatte dir das zugetraut. Einige sagten, du würdest bald wieder hier sein.“
„Warum nicht? Also warum haben sie mir das nicht zugetraut?“
„Ich weiß nicht. Vermutlich, weil sich einfach niemand vorstellen konnte, wie es in einer Großstadt ist.“
„Dabei ist es auch dort ein bißchen wie hier, ein bißchen. Das klingt komisch, aber man richtet sich auch in der Stadt sein Dorf ein, nicht das Dorf, das man kannte, aber schon ein Dorf.“
„Hm.“
„Was meintest du gerade mit ‚anders’?“
„Daß du anders warst?“
„Ja.“
„Du hattest nicht dieses kleinkarierte Denken. Du hattest deinen Spaß, das hat man gesehen, jedenfalls hattest du ihn irgendwie, mit den Mädchen, Bier, Autos und so.“
„Hatten die anderen doch auch.“
„Aber dein Spaß wirkte lockerer. Du schienst das alles nicht so ernst zu nehmen, so als hättest du schon Alternativen parat. Das Leben hier schien dir nur eine Zwischenstation zu sein. Du wolltest nicht in der Sparkasse hinterm Schalter enden. Du hast nicht nur The Police, Depeche Mode und Nena gehört. Du kanntest The Smiths, The Cure und...“
„Da war ich aber nicht der Einzige.“
„Aber wer hat sonst Can, Neu! oder King Crimson gehört?“
„Ist das so wichtig?“
„Nein, vermutlich nicht, aber du warst offen und warst nicht mit dem Standard zufrieden.“
„Ich befürchte, du siehst mich da zu avantgardistisch... Meine Eltern nannten mich gestern – oder war es heute? – einen Spießer.“
„Die sind ja auch – versteh mich nicht falsch, ich meine das eher positiv – die sind ja auch total crazy. Du und ein Spießer...“
„Erklär mir doch mal eins. Warum meinst du, mich so genau zu kennen?“
„Menschen verändern sich nicht großartig, vielleicht ein bißchen, aber nicht so sehr...“
„Aber das ist noch keine Erklärung.“
„Ich kann mich ziemlich genau an dich erinnern.“
„Warum?“
„Das will ich lieber nicht erklären.“
„Aha.“
„Ja.“
„Vorhin, da hat mich schon der Sohn von, jetzt habe ich ihren Namen gerade nicht parat, angesprochen.“
„Anja.“
„Ja, stimmt.“
„Du warst mal mit ihr zusammen, oder?“
„Ich weiß nicht.“
„Was soll das heißen?“
„Ich weiß nicht, ob man das so nennen kann.“
„Sie nennt es so. Ich habe mich oft mit ihr über dich unterhalten.“
„Oh.“
„Sie ist meine beste Freundin und da spricht man schon mal...“
„Ich wußte nicht, daß ich einen bleibenden Eindruck bei ihr hinterlassen hatte.“
Ingo schaute sich um und sagte „Wieso bei ihr?“
„Uuups!“
„Entschuldige, ich glaube, ich muß noch ein paar Dinge erledigen, aber bleib ruhig noch hier, es ist eh fast immer offen. Wenn du dir ein Bier nimmst, dann leg ne Mark in die Kassette.“
„Ja, okay, man sieht sich.“
Er sagte nichts mehr, ging zur Tür raus und hinterließ mich etwas verwirrt. Ich überlegte, ob ich in meiner Jugend doch besser die Scorpions hätte hören sollen, oder es zumindest hätte vorgeben sollen. Vielleicht hätte ich ihm dann eine Enttäuschung erspart. Ich konnte mich wirklich nicht an ihn erinnern, ich wußte noch nicht einmal seinen Nachnamen. Ich konnte mich aber daran erinnern, wie es mir gegangen war, wenn mich jemand, als ich Teenager war, nicht beachtete, obwohl ich das wollte. Wenn ich verachtet oder verspottet wurde, dann war das fast noch besser, als nicht beachtet zu werden. Aber Ingo tat mir nur ein bißchen leid.
„Wo geschossen wird, da muß auch ein Schütze sein.“ Hatte sie es so gesagt? Frau Metzger oder Frau Bäcker, geborene Bäcker oder verschwägerte Bäcker oder was auch immer, ich wußte es nicht mehr.
Warum konnte sich mein Vater die Namen der Alteingesessenen merken, aber nicht der Zugezogenen, beispielsweise von Schwiegermüttern? Warum wußte er noch den Geburtsnamen einer Frau, aber nicht ihren Ehenamen? Mich hätte interessiert, ob der Ehemann der Frau, deren Geburtsnamen mein Vater noch wußte, ein Zugezogener war oder ein Einheimischer. Funktionierte das Gedächtnis meines Vaters schon dörflich? Oder gab es die typische Dorfstruktur, weil sich an diesem Ort Menschen sammelten, deren Gedächtnis auf diese Weise funktionierte? Mußte ich deshalb in die Stadt ziehen, weil mein Gedächtnis städtisch funktionierte? Wirkt sich unsere Gedächtnisstruktur so stark auf unseren Lebenswandel aus? Und gehörte es zu meiner, zur städtischen, so viel vergessen oder verdrängt zu haben? Wow, was für eine Theorie steckte da hinter diesen Fragen! Was für eine total bekloppte Theorie!
Einen Schützen hatte ich jedenfalls nicht getroffen, aber ich hatte etwas aus meiner Vergangenheit gefunden, was ich gar nicht verloren hatte.
Ich nutzte die Gelegenheit, um mich etwas umzuschauen.
Hinter dem Tresen Marke Eigenbau ohne Zapfanlage ging es in einen Lagerraum oder eine Rumpelkammer, die vielleicht gern Lagerraum genannt werden würde. Ging man rechts am Tresen vorbei, kam man in einen Gang, von dem nach einer Weile, also nach dem Lagerraum, die Toilette kam und danach ein Büro. In ihm stand ein kleiner Schreibtisch aus den Fünfzigern, ein seltsamerweise unverschlossener Waffenschrank mit ein paar Gewehren, ein weiterer verschlossener Schrank, vermutlich auch ein Waffenschrank, und an der Wand hing ein Kalender aus dem vorigen Jahr. Das obligatorische Pinup war aus den Siebziger Jahren. Das mag komisch klingen, aber es mußte neu sein. Als ich vor über zehn Jahren hier im Büro war, hingen da Bettie Page und Marilyn Monroe. Ich hatte so viel vergessen, aber die Pinups seltsamerweise nicht. Ich konnte mich dunkel an mehrere Partys im vorderen Raum erinnern, aber was ich im Büro gemacht hatte, wußte ich nicht mehr. Vielleicht war ich hiergewesen, weil ich als Kind oder Jugendlicher auch mal das Schießen probiert hatte. Mehr als ein Probieren ist nicht dabei rausgekommen. Mir fehlte damals die Kraft, um das Gewehr ruhig zu halten. Die Schreibtischschublade war abgeschlossen und dort vielleicht die Munition. Das seitliche Fach war offen und darin ein Ordner. Der machte auch keinen besseren Eindruck als der Rest des Büros. Immerhin fand ich Schießergebnisse, Quittungen und ein paar Adressen. Die Namen, die Ingo vorhin nannte, kamen öfter vor als andere. Und auch ein paar Erinnerungen kamen dazu hoch, aber ziemlich diffus.
Hinter dem Büro war der Schießplatz. Er war komplett überdacht, aber nur auf den ersten Metern war der Boden betoniert, danach kam etwas Wiesenähnliches, und die Zielscheiben befanden sich im solidesten, gemauerten, Teil des Gebäudes.
Ich ging wieder nach vorne, nahm mir ein Bier aus dem Kühlschrank. Ich legte ein Zweimarkstück in die Kasse und nahm mir ein Einmarkstück raus. Das Bier war kalt. Besseres ließ sich darüber nicht sagen. Ich suchte mir einen Aluaschenbecher, setzte mich auf einen Barhocker an den Tresen. Während ich versuchte, mir auf irgendwas einen Reim zu machen, rauchte ich zwei Zigaretten und trank das Bier. Ein Reim bekam nicht dabei raus.
Ich machte mich wieder auf den Weg. Auf dem Sportplatz trainierte die E-Jugend, Jungen und Mädchen zusammen.
„Guten Tag“, sagte ich zu einer älteren Frau, die ich nicht kannte, aus reiner Freundlichkeit.
„Guten Tag Morten, schön, dich einmal wieder zu sehen. Du bist so selten hier.“
„Na ja, irgendwann führt man halt sein eigenes Leben, und da ich nicht gerade um die Ecke wohne...“
„Du bist aber zu selten zuhause!“
Da war es wieder, dieses Zuhause, aber eine Diskussion darüber wäre bestimmt gerade jetzt nicht angebracht.
„So ein oder zwei Mal im Jahr bin ich schon da. Zu Weihnachten oder den Geburtstagen.“
„Da sieht man dich aber gar nicht.“
„Ja, dann widme ich mich ganz der Familie.“
„Auch in der Kirche sieht man dich zu den Feiertagen nicht.“
„Stimmt, mit der Kirche hab ich es nicht so. Das liegt wohl in der Familie.“
„Na, muß ja auch nicht. Hauptsache, du vergißt deine Familie nicht.“
„Das werde ich nicht.“
„Mach’s gut Morten. Und grüß schön!“
„Danke, mache ich.“
Wer war nur diese Frau?