Читать книгу Familie - Morten Makolje - Страница 5
2. Das Abendessen
ОглавлениеIch prügelte meinen roten Passat Kombi Baujahr 80, einen der letzten der ersten Baureihe, über die Autobahn. Das hieß nicht, daß ich wirklich schnell fuhr, aber so 160 waren es doch manchmal. Die Einheitsgeschwindigkeit irgendwo in der Nähe von 120 konnte ich einfach nicht ertragen. Schneller fahren bringt einen nicht nur gefühlt schneller ans Ziel, es macht mehr Spaß und erhöht den Adrenalinspiegel, was die Konzentration erhöht und die Unfallgefahr verringert. Klingt paradox, ist es auch.
Ich rauchte, hörte Musik, meist Klassiker aus Teenagertagen oder, wie im Fall von King Crimson, Musik, die ich als Teenager entdeckt hatte. Ich erinnerte mich, wie ich von einer Plattenböse in einem Ausflugslokal am Fluß in der Nähe des neuen Knastes – schon wieder solch eine Absurdität, aber so scheint die Welt nun einmal zu funktionieren – kam, neben ein paar Bootlegs die Platte „Islands“ dieser Band, deren Namen gelegentlich in Biographien auftauchte, die ich las, im Arm hatte, mich in mein Zimmer verzog und den Rest des Sonntags auf meinem Sofa lag, mit Kopfhörern den Klängen dieser seltsamen und irgendwie beglückenden Musik lauschend. Es war wieder einer der Tage, an denen ich glaubte, die Welt noch weniger zu kennen und zu verstehen als je zuvor, und es gefiel mir.
Was meine Erinnerungen von jenem Sonntag noch weiter zurück in die Vergangenheit in den damaligen Wohnwagen meiner Eltern und einen Sommerurlaub an der holländischen Nordsee trieb, wird vermutlich nie jemand erklären können. Vielleicht war es nur das Wort „Islands“, die damit verbundene Assoziation „Meer“ und die Tatsache, daß mir gerade der beschossene Wohnwagen meiner Eltern im Kopf rumspukte. Jedenfalls dachte ich an ein Mädchen, das mir in jenen beiden Wochen gefiel. Alexandra war ihr Name, und vor allem dachte ich an meine frühpubertäre Phantasie von Sex mit Alexandra in den Dünen irgendwo zwischen Wohnwagen und Meer, unweit der Wege, die sich durch die Dünen schlängelten.
Natürlich blieb es bei der Phantasie und nach jenem Urlaub sah ich dieses Mädchen nie wieder, aber die Phantasie kam immer mal wieder, vielleicht weil sie – auch mit anderen Mädchen oder anderen Frauen – sehr lange eine Phantasie blieb.
Nach gefühlten zwei Millionen LKW auf der rechten Spur während dreieinhalb Stunden Fahrt und einer halben Schachtel Zigaretten parkte ich den Wagen vorm Grundstück meiner Eltern. Einer der Vorteile des Dorfes, vermutlich jeden Dorfes, war, daß man nie einen Parkplatz suchen mußte.
In der Einfahrt zur Garage parkte der Wagen meiner Eltern, irgendeiner dieser modernen, charakterlosen Wagen, die alle gleich aussehen. Ich kann mich beim besten Willen nicht mehr erinnern, welches Modell welcher Marke es war. Die Stelle zwischen Haus und Garage, die wir Hof nannten und an der normalerweise der Wohnwagen wohnte, war leer.
„Tach, mein Junge“, sagte mein Vater, der in der Haustür stand, die Hände in den Hosentaschen, und zuguckte wie ich meine Tasche aus meinem Auto nahm und abschloß. Eigentlich würde nichts passierten – es passiert immer etwas, weshalb Sätze niemals so beginnen sollten, aber ich denke, es ist klar, was gemeint ist –, wenn man das Auto auch mal offen ließe, aber wenn hier neuerdings scharf geschossen wurde, wer weiß, was dann noch in Mode gekommen war.
„Du fährst ihn ja immer noch.“
„Ja, wenn er erstmal läuft, dann ja auch gut.“
„Immer noch Probleme beim Anlassen?“
„Ja, das Übliche.“
„Laß mal den Vergaser austauschen.“
„Kein Geld.“
„Soll ich mal unseren Kemal fragen? Der hat’s drauf und er macht einem immer einen mehr als fairen Preis. Darfst aber nicht hoffen, daß es von heute auf morgen geht. Der bastelt dir aus drei Coladosen einen neuen Auspuff.“
„Nee, danke, laß mal. Ewig wollte ich ja nicht bleiben.“
„Verstehe schon.“
„Na ja, mal sehen wie schnell sich das alles klärt.“
Den Wagen hatten mir meine Eltern vererbt, als ich auszog. Ihre Beweggründe waren klar, ich sollte sie öfter mal besuchen. Und ich freute mich über den fahrbaren Untersatz, den sie anfangs auch noch finanzierten. Später wollte ich dann das Dreibuchstabenkennzeichen loswerden und es gegen den einen Buchstaben meiner neuen Heimat tauschen. Ich meldete den Wagen also auf mich an. In dem Augenblick wurde mir auch klar, wie sehr ich an dem Wagen hing. Er war einer der Begleiter meiner Teenagerzeit, ich lernte mit ihm das Autofahren, noch bevor ich in der Fahrschule meine Pflichtstunden runterriß, und jetzt wollte ich auch, daß er noch meine 20er überstand. Ich wollte ihn keinem Bastler überlassen, egal wie geschickt der war.
„Und?“, fragte mein Vater, um überhaupt irgendwas zu sagen und meine Gedanken zu unterbrechen.
„Er schluckt ganz schön. Ich habe den Eindruck, das wird immer schlimmer.“
„Das kann schon sein. Die heutigen Autos verbrauchen zwar weniger, dafür ist der Sprit viel teurer geworden.
„Dummerweise frißt dieser alte Kasten mit dem Hunger von damals nur Sprit von heute, zu den Preisen von heute. Wenn man eine Zeitmaschine hätte und einfach zurückreisen könnte, in die Zeit vor den beiden Ölkrisen...“
„An die kannst du dich noch erinnern?“
„Nur an die zweite. Schuld war der Chomeini, oder?“
„Hm. Vielleicht auch Jimmy Carter. Der war einfach zu nett für den Posten. All das Gute, das er geschafft hat, verblaßt gegen die Probleme, die er nicht in den Griff bekommen hat. Irgendwie verdankten wir ihm auch diesen Spinner Reagan...“
„Hoffentlich hört dich Carter nicht. Der würde sich das bestimmt zu Herzen nehmen.“
„Okay, wenn ich ihn treffe, halte ich zu dem Thema die Klappe. Versuche es jedenfalls.“
„Aber wenn wir eine Zeitmaschine zum Spritkaufen hätten, vielleicht könnte man die auch für etwas anderes nutzen.“
„Nee, laß mal lieber. Zeitmaschinen machen bestimmt nur Ärger, wenn es die Dinger überhaupt geben kann. Kauf dir einen neun Wagen, einen ganz normalen, meinen Segen hast du.“
„Noch muß er ein bißchen halten.“
„Kein Geld?“
„Auch das.“
Ich stand am Zaun, dessen Holz mal schwarz gewesen war, inzwischen aber das meiste seiner Farbe verloren hatte. „Der müßte mal...“
„Ich weiß, gestrichen werden. Oder ich reiße ihn ganz raus. Habe aber keine Lust auf das eine oder andere.“
„Du bist doch inzwischen Rentner, hast doch Zeit.“
„Erstens: Frührentner. Das macht mich nicht ganz so alt. Zweitens: Rentner haben nie Zeit.“
„So wie Studenten?“
„Das ist etwas ganz anderes. Als Rentner, auch als Frührentner, ist dir bewußt, daß dir wirklich nicht mehr viel Zeit bleibt...“
„Hm.“ Kurze Pause. Depression kann ich nämlich auch ohne väterliches Zutun, also wirklich nur eine kurze Pause des Mitleids. „Hast du denn schon Farbe gekauft?“
„Nee.“
„War es in den letzten Tagen einigermaßen trocken? Wollen wir das morgen nicht einfach mal in Angriff nehmen? Ist bestimmt an einem Tag erledigt, vermutlich selbst dann, wenn wir zwei Durchgänge brauchen. Das Holz ist ganz ausgelaugt, das saugt den ersten Anstrich bestimmt auf wie nix.“
„Mal sehen, komm erst einmal rein! Das Essen wartet.“
Mein Vater hatte irgendwann die alte Mauer, die das Grundstück vom Gehweg – in diesem Teil des Dorfes gab es wirklich einen! – trennte, eingerissen und mit den Steinen den Hof gepflastert. An ihre Stelle kam ein Zaun, etwa alle zwei Meter ein Pfosten in die Erde gerammt, und an jeweils zwei Pfosten kamen jeweils drei Bohlen, relativ gleichmäßig über die Höhe verteilt. Die Bohlen waren an den Kanten nicht geradegeschnitten, sondern sollten noch die Form des Baumes, aus dem sie gemachte waren, erkennen lassen. Das wirklich tolle an dem Zaun war, daß mein Vater darauf geachtet hatte, daß die unterste Bohle immer so viel Abstand zum Boden hatte, daß der Rasenmäher noch gerade so drunter paßte. Eigentlich war ich solchen Feinheiten damals eher gleichgültig gegenüber, doch war ich fürs Rasenmähen zuständig und deshalb dankbar, jedenfalls etwas.
Mein Vater stand nicht mehr in der Tür, er war schon reingegangen, und ich ging auch, schloß die Tür, stellte meine Tasche in den Flur und ging in die Küche. Ich umarmte meine Mutter, gab ihr einen Kuß.
„Wie war die Fahrt?“
„Das Übliche an einem Werktag. LKW ohne Ende.“
„Hier, nimm deinen Teller mit. Ich habe im Wohnzimmer gedeckt. Es wäre noch mehr da, wenn du dann noch magst.“
Ich setzte mich an den Platz, an dem eine Flasche meines Lieblingsbieres stand. Mein Vater saß am Tisch und aß schon. Meine Mutter kam rein, und ich konnte mich nicht zurückhalten.
„Papa ißt schon“, doch meine Mutter sagte nur „Ja, hau rein, wird sonst kalt.“
Mein Vater hatte die Spitze vielleicht mitbekommen, vielleicht wunderte er sich aber auch nur, daß ich noch nicht aß. Er sagte: „Ja, was ist? Willst du neuerdings vorher noch ein Tischgebet hören?“
Ich sagte „nein“, stand auf, schloß die Tür, setzte mich wieder und fing auch an, zu essen. Meine Mutter sah mir zu und lächelte. Würde mein Vater jetzt noch den Fernseher anschalten, zwischendurch aufs Klo gehen oder einfach wortlos verschwinden, während die anderen noch aßen, dann... Mein Vater stand auf, ich schaute meine Mutter an, die mit den Schultern zuckte, was ich nicht eindeutig interpretieren konnte. Wollte sie nur ausdrücken, sie wisse auch nicht, was er jetzt wieder wolle, oder meinte sie, er wäre nun einmal so. Mein Vater kam wieder rein, und ich fragte „Was war? Brennt das Haus?“
„Nee, wieso?“
Ich stand auf und schloß erneut die Tür.
„Was?“, fragte mein Vater, so als würde er wirklich nicht verstehen, was mich bewegte.
Ich schüttelte nur den Kopf, und meine Mutter übersetzte.
„Morten wundert sich nur über dein Verhalten.“
„Wieso, was ist damit?“
„Als er noch hier wohnte, da gab es feste Regeln, durchaus sinnvolle Regeln. Du erinnerst dich?“
„Was denn für Regeln?“
„Zum Beispiel Regeln für den Essenstisch. Erst anfangen zu essen, wenn alle am Tisch sitzen, keine offenen Türen, nicht während des Essens aufstehen, sitzenbleiben bis alle aufgegessen haben, kein Fernsehen bei Essen et cetera.“
„Ich gucke doch gar nicht fern. Was kommt denn?“
„Egal“, sagte ich und meinte ausnahmsweise nicht das Fernsehprogramm.
„Diese ganzen Regeln sind doch nur was, wenn Kinder dabei sind. Warum soll ich mich jetzt noch daran halten?“
„Aus Höflichkeit? Oder weil man das so macht?“
Mein Vater guckte meine Mutter an, dann wieder mich. „Ich nicht.“
„Das merke ich. Aber warum hast du mich dann damit meine Kindheit über gequält?“
„Hm, wenn ich mir das so angucke, wie es jetzt ist, dann war es wohl eher eine Qual für mich“, sagte mein Vater, „Immer ein Vorbild sein und so.“
„Wie war das denn in deiner Kindheit?“
„Bestimmt nicht besser als in deiner, hab ich aber vergessen.“
„Vielleicht frage ich mal Tante Frida.“
„Die wird sich auch nicht erinnern. Vielleicht erinnert sie sich gerade noch so, daß sie einen kleinen Bruder hatte, aber das glaube ich nicht.“
„Und wie geht’s ihr?“
„Gut.“
„Hat sie einen neuen Freund?“
„Schon“, antwortet meine Mutter.
„Noch“, antwortet mein Vater.
„In dem Alter immer wieder neue Freunde“, sagte ich, weder kritisch noch bewundernd, sondern nur mich wundernd.
„Horch, ein Spießer“, sagte meine Mutter in den Raum und „Das ist nur deine Schuld.“ zu meinem Vater.
„Ach, quatsch!“
„Sag nicht immer ‚quatsch’“, sagte meine Mutter.
„Sag nicht immer ‚Sag nicht immer quatsch’“, sagte ich.
„Na, vielleicht hast du Recht“, sagte mein Vater, aber natürlich wollte er auf etwas ganz anderes hinaus. „Ich fand es gut, daß er Architekt werden wollte. Aber du hast gesagt, daß er dann bestimmt nur Klohäuschen entwerfen würde. Als er“ – er redete, als sei ich gar nicht anwesend – „dann Rechtsanwalt werden wollte, da sagtest du doch auch gleich, daß das nichts mit Gerechtigkeit zu tun hätte und er dabei sicherlich unglücklich würde, bei seinem Gerechtigkeitssinn.“
„Ja, ja, aber ich habe ihn wenigstens nicht zum Spießer gemacht.“
„Genau. Als er dann meinte, irgendwas Künstlerisches machen zu wollen... Was war das doch gleich?“
„Ich wollte Maler werden.“
„Ach, deswegen willst du morgen den Zaun streichen. Dein Sohn hat mir Arbeit verschafft. Er meint, daß wir morgen zusammen den Zaun streichen.“
„Na, nötig hat er’s.“
„Der Zaun oder unser Sohn?“
„Ich wollte Maler werden, nicht Anstreicher.“
„Na, jedenfalls hast du damals, als er sich in den Kopf setzte, Maler zu werden, keinen flotten Spruch mehr auf Lager gehabt.“
„Ich finde was Künstlerisches gut.“
„Brotlose Kunst. Und das auch noch mit einer Drei in der Schule.“
„Ach, was verstehen Kunstlehrer schon von Kunst – und von künstlerischem Talent. Unser Sohn hat ein ganz hervorragendes Auge für Farben.“
Ich mußte lächeln, ich wußte auch nicht warum, wurden doch gerade meine Talente verhandelt, und unterm Strich würde eine Null stehen, vermutlich noch nicht einmal eine positive.
„Sein Talent für Farben kann er morgen im Baumarkt beweisen, wenn er zwischen schwarzem Schwarz, braunem Schwarz und schwarz wie die Nacht Schwarz...“
„...also blauem Schwarz...“
„...das richtige im Regal findet. Mir ist das schnuppe.“
Das Wortgefecht war zu Ende, was beide niemals als Streit bezeichnen würden, bestenfalls als Diskussion, vielleicht sogar nur als Unterhaltung, und ich überlegte, ob ich noch etwas zu meiner Rechtfertigung sagen sollte, oder ob ich den Spießer einfach so stehen lassen sollte, in irgendeinem Abseits, schien doch der Teil des Gesprächs eh schon wieder vergessen zu sein.
Trotz allem waren die Bratkartoffeln unübertrefflich.