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5. Die Nachbarn
ОглавлениеMeine Eltern wohnten auf dem Dorfe und natürlich gab es da keinen Supermarkt oder Baumarkt, aber die versorgende Kleinstadt war nur einen Steinwurf entfernt. Man mußte mit diesem Stein noch nicht einmal besonders weit werfen können. Hätte man das Aufstellen der Ortsschilder besser koordiniert, dann hätte man sich mindestens ein Schild sparen können, aber wer Geld für die Kunst des Herrn Eierkopp hat, der leistet sich auch unnötige Schilder.
Die räumliche Nähe von Stadt und Dorf bedeutete aber nicht gesellschaftliche oder kulturelle Nähe. Als ich Kind war, fuhr ich auf dem Klapprad meiner Oma, die Jungs in der Stadt auf modischen Bonanzarädern, womöglich noch mit Fuchsschwänzen. Die Jungs in der Stadt schlichen sich zum Fußballspielen auf den Sportplatz, der eigentlich den englischen Truppen vorbehalten war, und wir spielten auf dem eigens für uns angelegten Platz, auf dem man immer den Kuhgeruch in der Nase hatte. Die Unterschiede verwischten sich, als wir zusammen zur Schule gingen, aber irgendwie war der Start ins Leben doch prägend. Sei es auch nur, daß die Jungs aus dem Dorf einen stärkeren Drang hatte, dem Ganzen zu entkommen.
Das Kaufen der Farbe ging erfreulich schnell. Mein Vater ließ sich vom Verkäufer einfach die Farbe zeigen, die am längsten halten würde. Dann rechnete er die benötigte Menge ganz grob aus, nahm einen entsprechende Eimer, zeigte auf Pinsel, sagte „zwei von denen“, und ruckzuck waren wir auch schon wieder aus dem Baumarkt raus. Ich war froh, keine alten Lehrer oder Mitschüler gesehen zu haben. Vielleicht hatte ich ja auch einen gesehen, ihn nur nicht erkannt, und vielleicht wurde ja auch ich nicht erkannt. Jedenfalls gab es keine Peinlichkeit. Auch mein Vater gab keine Sprüche wie „Der letzte Zaunanstrich meines Lebens“ von sich.
Kaum waren wir wieder daheim, stürmte mein Vater aufs Klo.
Meine Mutter hatte während wir im Baumarkt waren, Käsekuchenteig fast fertig angerührt und kochte nun frischen Kaffee.
„Und?“, fragte ich meinen Vater, als er von der Toilette kam.
„Das hatte ich vorhin vergessen.“
„Deswegen seid ihr so schnell zurück“, sagte meine Mutter.
„Aber jetzt erst einmal einen Kaffee“, sagten alle mehr oder weniger gleichzeitig. Mein Vater und ich saßen am Küchentisch, meine Mutter wuselte schon wieder durchs Haus.
„Bekommst du eigentlich Kilometergeld?“, fragte ich sie.
„Nö, wieso?“
„Du bist immer nur am machen.“
„Ja. Hier!“, und sie legte mir einen Stapel Zeitungen hin.
„Was ist damit? Soll ich die lesen?“
„Nein, kannst du aber, nachdem ihr sie draußen unter den Zaun gelegt habt, damit keine Farbe auf den Rasen und die Erde tropft. Ihr habt bestimmt solche Farbe gekauft, wohin die tropft, da wächst kein Gras mehr.“
„Oh ja, Papa hat die gekauft, die am längsten halten soll, vermutlich die, die schon beim Angucken Krebs verursacht, aber das ist okay.“
„Genau“, meinte mein Vater. „Soll der Zaun doch Krebs bekommen, oder die Nachbarn. Irgendwann kriegen wir den alle.“
„Wenn wir nicht vorher erschossen werden.“
„Oder überfahren.“
„Oder vom Dach fallen.“
„Oder verbrennen.“
„Oder ertrinken.“
„Oder vor Langeweile sterben.“
„Oder durch einen Kunstfehler.“
„Genau. Ich fahre vor den Kunstfehler im Kreisel, das Auto fängt an zu brennen, die Feuerwehr will mich löschen, ein Tommy ist abgelenkt und überrollt mich mit seinem Panzer, und ein zweiter drückt aus Versehen ab, was aber alles nichts macht, weil ich vorher schon im Löschwasser ertrunken bin.“
„Vermutlich wärst du vorher verbrannt. Die hiesige Feuerwehr ist nicht besonders schnell. Und die Tommys sind doch schon lange abgezogen.“
„Ach ja.“
„Und den Kreisel gibt es noch gar nicht.“
„Verdammt.“
„Und was ist mit dem Dach und der Langeweile?“
„Also doch Krebs.“
„Quod erat demonstrandum.“
„Wer?“
„q. e. d.“
„Ach die!“
Meine Mutter verschwand, kam aber gleich darauf mit einer Springform in der Hand wieder, keine Ahnung, woher sie die gezaubert hatte. „So, jetzt aber raus aus der Küche. Wollen doch mal sehen, was zuerst fertig ist. Der Zaun oder der Kuchen. Ihr oder ich.“
Ich schnappte mir die Zeitungen und fing an, sie unter dem Zaun zu verteilen. Selbst in den Todesanzeigen steckte Langeweile und wer auf meine Eltern geschossen hatte, stand nicht in der Zeitung. Mein Vater holte Farbe und Pinsel aus dem Wagen.
Nachdem er auf dem Klo war und Kaffee getrunken hatte, trieb ihn nichts mehr an. Er wollte erst einmal lesen, was auf dem Farbeimer stand.
„Nichts da“, sagte ich. „Einfach streichen. Was soll da schon schiefgehen?“
„Auf deine Verantwortung!“
Ich zucke mit den Schultern und wir legten los.
Eine Frau undefinierbaren Alters kam vorbei.
„Ah, Vater und Sohn bei der Arbeit.“
„Ja, ja“, antwortete mein Vater.
„Wer war das?“, fragte ich ihn, als die Frau weg war.
„Die Schwiegermutter vom Bäcker, Berliner Straße.“
Eine Frau undefinierbaren Alters fuhr auf dem Rad vorbei.
„Ah, Vater und Sohn...“
„Ja, ja“, antwortete mein Vater.
„Und wer war das?“, fragte ich ihn, als die Frau weg war.
„Das ist... Ihr neuer Name fällt mir jetzt nicht ein, jedenfalls die Schwester von dem Bäcker“, und er zeigt auf irgendwas, ein Haus, ein Auto oder eine Kuh, ich weiß es nicht.
„Zwei Bäcker in so einem Kaff? Kommt das Zeug inzwischen nicht aus der Fabrik?“
„Schon. Die heißen ja beide nur Bäcker.“
„Ach so.“
Nach dem ersten Anstrich war der Eimer halb leer und halb voll, ich mache da keinen Unterschied. Und wir mutmaßten, daß die Farbe, weil der erste Anstrich relativ viel Farbe benötigte, noch für zwei weitere Anstriche reichen würde und daß wir die auch bräuchten.
Eine Frau undefinierbaren Alters blieb vor uns stehen.
„Ah, sind sie der Sohn?“
„Ja“, sagte ich.
„Ja, ja“, antwortete mein Vater.
„Hat der Zaun auch was abbekommen?“
„Was denn?“
„Na, vom Schuß?“
„Nein“, sagte mein Vater.
„Was wissen sie denn vom Schuß? Haben sie was gehört?“, fragte ich.
„Nein gehört habe ich den Schuß nicht. Ich höre nur, was die Leute so erzählen. Und da sagt man, auf ihre Eltern ist geschossen worden.“
„Ja, ja“, sagte ich. „Aber wer da geschossen hat. Das weiß niemand?“
„Nein, das weiß niemand. Wenn es jemand wüßte, dann wüßte ich das auch.“
„Ich verstehe. Haben sie denn einen Verdacht?“, fragte ich konspirativ.
„Ach, was gibt denn die Jugend schon auf die Meinung einer alten Frau?“
„Alt? Na ja, wohl eher eine Frau mit Erfahrung.“
„Danke... Sind sie zu Besuch zuhause?“
„Zuhause?“, dachte ich nur und sagte „Ja.“
„Na, dann noch fröhliches Schaffen.“
„Danke!“
„Ach, ich an ihrer Stelle tät mal zu die Schützen gehen. Wo geschossen wird, da muß ja auch ein Schütze sein“, sagte sie im Gehen.
„Sind die immer noch hinterm Sportplatz?“
„Da hat sich nichts geändert.“
„Und wer war das?“, fragte ich meinen Vater, als die Frau weg war.
„Die Frau vom alten Metzger.“
„Name oder Beruf?“
„Beides.“
„Ach so. Und der junge Metzger?“
„Autounfall, vor ein paar Jahren.“
„Discotod?“
„Ja, im Golf GTI.“
Wir waren mit dem zweiten Anstrich noch nicht fertig, und ich hatte keine Lust mehr. Meine Mutter stand in der Haustür und sagte laut, noch nicht rufend, daß der Kuchen jetzt aus dem Ofen wäre, daß er noch etwas auskühlen müsse. Wir hätten also durchaus noch eine Chance, früher fertig zu sein.
Trotz fehlender Lust beeilten uns auch etwas. Die Aussicht auf frischen Kaffee und frischen Käsekuchen trieb uns vermutlich an. Mir ging es nicht darum, den von meiner Mutter ausgerufenen Wettbewerb zu gewinnen. Meinem Vater traute ich solchen Ehrgeiz schon eher zu.
Wir waren mit dem dritten Anstrich fast durch, im Eimer war nur noch wenig Farbe, als ein kleiner Junge, vielleicht vier bis fünf Jahre alt, vor mir stehenblieb.
„Bist du der Sohn aus der Stadt?“
„Ja, ich bin Morten. Und wer bist du?“
Der Junge rannte weg, zu einem Erwachsenen, der älter als ich wirkte, es aber, wie sich kurz darauf rausstellen sollte, nicht war. Der Junge rief noch im Laufen: „Papa, Papa, er ist es, er ist es wirklich. Ich habe gefragt.“
„Ups, was war das? Ist jemand, der den Ort verläßt eine Sensation? Oder ein Affe im Zoo? Oder etwas in der Art?“
„Nein. Das war der Sohn der Tochter des Briefträgers. Du erinnerst dich?“
„Ich denke schon.“ Ich hoffte, nicht rot zu werden. Und ich fragte mich, was mein Vater über mich und die Tochter des Briefträgers wußte. Ich wollte keine Pause entstehen lassen und fragte deshalb irgendwas. „Und wer war der Kerl?“
„Das ist ihr Mann. Der kommt aus irgendeinem der Täler, aus welchem, habe ich vergessen, aber ihr müßtet zusammen zur Schule gegangen sein.“
„Das mag sein, aber dann habe ich es verdrängt.“
Wir packten ein. Mein Vater warf die Pinsel in den Eimer und drückte den Deckel drauf.
„Nicht aufheben?“
„Nein, wenn ich alles aufheben würde, was man irgendwann noch mal gebrauchen könnte, dann würde es im Haus so aussehen wie in der Garage.“
Ich nahm den Eimer und ging in Richtung Garage, um ihn im Hof in die Mülltonne zu werfen. „Du mußt jetzt nicht reingucken, das reinste Chaos.“
„Hatte ich nicht vor.“
Als ich zurückkam, unterhielt sich mein Vater mit einer Frau, jünger als die anderen, älter als ich. Sie kam mir aber irgendwie bekannt vor.
„Hallo“, sagte ich, sie nickte nur und sprach weiter mit meinem Vater. Ich suchte die Zeitungen zusammen.
„Wie war es denn im Urlaub?“
„Schön, es war wirklich schön. Wir hatten auch richtig Glück mit den Wetter.“
„Hier war es ja nicht so toll.“
„Ja, das haben wir schon gehört.“
„War ihr Sohn auch mit?“
Mein Vater guckte zu mir. „Nein, nein, das würden wir uns nicht antun. Wir waren hauptsächlich in Schweden, haben einen Abstecher nach Norwegen gemacht und auf dem Rückweg kurz einen Zwischenstop in Dänemark, fast nur Landschaft und kaum Städte. Da würde er“, er deutete auf mich, „sich nur langweilen.“
„Ach, ich dachte, sie wollten nach Skandinavien.“
Ich beeilte mich, mit den alten Zeitungen zur Mülltonne zu kommen, wollte das Fremdschämen vermeiden.
„Ja, ja, in Skandinavien waren wir auch“, hörte ich meinen Vater die Situation retten.
Ich stopfte das Papier in die Tonne und mußte erst einmal tief Luft holen, um nicht in lautes Lachen auszubrechen. Als ich zurückkam, war die Frau schon gegangen.
„Wer war denn das?“
„Die Frau mit den hervorragenden Geometriekenntnissen?“
Jetzt mußten wir doch lachen, und ich hoffte, sie würde uns nicht hören. Und ich schämte mich, aber nicht für die Frau, sondern unserer Gemeinheit, unserer Überheblichkeit, aber nur etwas.
„Das war die viel jüngere Schwester des Briefträgers.“
„Was muß die auch von Geologie verstehen.“ Ich erinnerte mich daran, daß da eine nur unwesentlich ältere Tante..., aber ich wollte ja nicht rot werden.
Meine Mutter stand wieder in der Tür. „Was gibt’s denn zu lachen?“
„Ihr wart in Schweden im Urlaub, aber auch in Skandinavien.“
„Ja und in Europa auch. Wo ist der Witz?“, fragte meine Mutter.
„Ich glaube, den habe ich gerade verbockt.“
„Also der Kuchen ist fertig, schon seit einiger Zeit in Eßtemperatur. Habe ich gewonnen?“
„Einigen wir uns auf ein Unentschieden?“