Читать книгу Familie - Morten Makolje - Страница 6
3. Der Schuß
ОглавлениеIch nahm meine Tasche und brachte sie nach oben in mein Zimmer. Es war nicht mein Zimmer von damals. Es war etwas kleiner, aber das spielte keine Rolle. Ein Schreibtisch, ein französisches Bett und ein Kleiderschrank hatten darin Platz. Mein altes Zimmer war nach und nach zur Rumpelkammer geworden, nachdem ich nach und nach meine Sachen mitnahm. Dafür war der Kombi wirklich gut gewesen. Auf jeder Heimfahrt, also Rückfahrt, stopfte ich den Kofferraum voll, ohne jedes Mal zu wissen, wohin ich mit dem Kram zuhause sollte. Je schneller ich mein Zimmer räumte, desto schneller übernahmen es meine Eltern. Ob meine Eltern mir indirekt auf die Art und Weise sagen wollten, ich solle doch stärker auf eigenen Füßen stehen, überlegte ich zwar einmal, aber hätten sie mir statt des Autos dann nicht einen Umzugswagen spendiert?
In meinem neuen Zimmer kamen deshalb, weil es halt nicht mein altes Zimmer war, vermutlich auch keine Kindheitserinnerungen hoch, die Hollywood an dieser Stelle eingebaut hätte. Dieses Zimmer hatte keine Madeleine und auch keinen Pflasterstein, über den ich hätte stolpern können. Ich konnte mich noch nicht einmal daran erinnern, wie dieses Zimmer genutzt wurde, als ich noch hier wohnte.
Ich öffnete also einfach so, ohne irgendwelche Gefühle oder Gedanken, das Fenster und rauchte. Auch das löste keine Erinnerungen aus, konnte es eigentlich auch gar nicht, hatte ich mir das Rauchen doch erst als Erwachsener angewöhnt. Wie an so Vielem in meinem Leben war auch daran eine Frau schuld, oder ich verdankte ihr dieses Laster, werten wollte ich das in dem Augenblick nicht.
Ich drückte die Zigarette außen an der Hauswand aus, schloß das Fenster, ging nach unten und warf die Kippe in der Küche in den Mülleimer.
„Hast du wieder geraucht?“
„Ja, stört es dich?“
„Nein, mich wundert nur, daß dein Vater noch nichts gesagt hat.“
„Wieso?“
„Na, als Kind hast du uns das Rauchen verleidet, hast Zigaretten versteckt, Aschenbecher mit Wasser gefüllt, Feuerzeuge geleert, und jetzt rauchst du selbst. Wir haben dann ja auch wirklich aufgehört – ich schwöre –, aber das ist fast wie bei ihm.“
„Was meinst du?“
„Das Rauchen und die Tischmanieren. Du wirst vielleicht wie dein Vater. Zuerst das eine predigen und später das Gegenteil machen.“
„Verdammt“, war das Einzige, was mir dazu noch einfiel. Hätte ich noch eine Zigarette in der Hand gehabt, ich hätte sie sofort ausgedrückt. Meine Mutter hatte Recht. Sie hatte die Gabe, Menschen zu durchschauen, und die Größe, es ihnen nicht immer, und wenn doch, so wie jetzt, dann sehr behutsam, aufs Brot zu schmieren.
„Bier ist noch da?“
„Ja, hier oben im Kühlschrank.“
Ich nahm mir eins, den Öffner fand ich, ohne nachzudenken, instinktiv.
„Wie war das denn nun Samstag mit dem Schuß?“
„Wir haben das gar nicht so mitbekommen, es ging irgendwie an uns vorbei.“
„Das kann man wohl sagen. Und gut ist es.“
„Einen Schuß haben wir nicht gehört, nur ein komisches Geräusch. Das war wohl das Geräusch aus dem Wohnwagen. Dein Vater kann dir das aber genauer erzählen.“
„Wo ist er denn?“
„Bestimmt vorm Fernseher.“ Kurze Pause und dann etwas lauter: „Schatz?“ Keine Reaktion. „Schatz?“, rief meine Mutter jetzt deutlich lauter.
„Hä?“ kam aus dem Wohnzimmer.
„Wie war das am Samstag?“
„Was?“
„Na, das mit dem Schuß!“
„Was?“
„Erzähl doch mal.“
„Was? Ich versteh kein Wort. Es ist gerade so laut, es ist wieder Krieg.“
„Na, dann mach doch mal leiser.“
„Was?“
„Welcher denn?“
„Na, was ist denn heute für ein Wochentag? Ich weiß auch nicht, was auf dem Programm steht.“
„Welchen Krieg sie gerade zeigen!“
„Tagesschau läuft.“
„Ich glaube, ich geh mal hin“, sagte ich mehr amüsiert als genervt.
„In Ordnung. Guck mal, wo heute wieder Krieg ist.“
Ich ging ins Wohnzimmer und mir war es total egal, in welcher Ecke der Welt sich wieder zwei Gruppen die Köpfe einschlugen, weil wieder irgend jemand vergessen hatte, warum man das eigentlich tat, oder so. Es war irgendwo in Afrika oder Amerika oder Asien, und ich war froh, nicht in Australien zu leben, denn die wären bestimmt als nächstes dran.
„Papa, jetzt mach doch mal die Kiste aus und erzähl, wie das am Samstag war.“
„Na gut“, er machte den Fernseher auch aus, behielt aber die Fernbedienung in der Hand. „Was willst du denn wissen?“
„Eigentlich nur, wer auf euch geschossen hat.“
„Auf den Wohnwagen hat der geschossen, nicht auf uns.“
„Also wer war’s?“
„Das weiß ich nicht.“ Er drehte sich weg und wollte den Fernseher schon wieder einschalten.
„Halt, halt, halt. Ich will das jetzt wissen.“
„Aber das weiß keiner, auch die Polizei nicht.“
„Na, das ist ja mal klar. Aber du hast ‚er’ gesagt. Also hat ein Mann geschossen?“
„Das nehme ich doch mal an. Eine Frau doch nicht.“
„Warum nicht?“
„Das machen doch Frauen nicht.“
„Okay, ich will kein positives Frauenbild zerstören, bleiben wir also dabei, daß es ein Mann war. Gesehen hast du ihn nicht?“
„Nein.“
„Nun laß dir doch nicht alles aus der Nase ziehen und gib mir diese blöde Fernbedienung.“ Statt darauf zu warten, daß er sie mir gab, nahm ich sie mir. „Und jetzt erzähl.“
„Es war Samstagmittag. Wir kamen an. Ich stellte das Gespann vor dem Haus ab. Ich wollte erst aufs Klo und einen Kaffee trinken, bevor ich den Wohnwagen auf den Hof fahre. Nur einen Augenblick nachdem ich die Autotür zugemacht hatte, schepperte es. Ich dachte, ich hätte die Tür zu doll zugeschlagen und etwas sei aus dem Fach in der Tür gefallen. Erst später, als ich in den Wohnwagen ging, um zu gucken, ob ich vor dem Rangieren besser noch was rausnehme, da hab ich im Wohnwagen die Kassetten auf dem Boden gesehen. Einige Hüllen waren kaputt, und als ich sie zurückstellen wollte, da hab ich gesehen, daß das Fach kaputt war, Holz war abgesplittert. Das kam mir komisch vor. Es sah so aus, als hätte jemand mit einer langen, dünnen Stange von außen in den Wagen gestoßen. Ich also raus und habe draußen geguckt, und da war wirklich die Einschußstelle. Es war ganz eindeutig eine Einschußstelle, ziemlich rund, drum herum war der Lack ab und nach innen war das Blech durchbohrt, so daß sich eine Art Vulkankrater gebildet hatte, nur umgekehrt, also nach innen. Das war ziemlich genau auf der Höhe, wo innen das Fach für die Kassetten ist.“
„Hast du die Kugel gefunden?“
„Nein, auf der Straße lag nichts, und im Wagen habe ich auch keine gefunden.“
„Könnte es auch woanders passiert sein?“
„Das glaube ich nicht. Ich habe doch ein Scheppern gehört. Irgendwas muß doch gewesen sein.“
„Hast du den Schuß gehört?“
„Nein, habe ich nicht.“ Meine Mutter kam rein. Er fragte sie „Schatz, hast du den Schuß gehört?“
„Nein, ich weiß noch nicht einmal, ob ich den Einschlag gehört habe. Ich weiß es gar nicht mehr. War ich gleichzeitig mit dir ausgestiegen oder kurz vorher oder nachher? Erst als du die Tür noch mal aufgemacht hast, dachte ich auch, daß da was war, aber einen Schuß habe ich nicht gehört.“
„Also kam der Schuß von weit weg oder es wurde schon auf der Fahrt auf euch geschossen“, schloß ich.
„Oder ein Schalldämpfer“, sagte meine Mutter.
„So wie im Film?“, fragte ich. „Habt ihr so was gehört?“
„Nein“, sagten beide.
„Das wäre auch komisch, denn in Wirklichkeit klingt das anders und auch lauter. Wenn ihr also was gehört hättet, dann nicht das Schaldämpferfilmgeräusch.“
„So was weißt du?“
„Ja. Ich hatte mal einen Fall, bei dem ich einem Geräuschmacher vom Film begegnet bin. Der hat mir das demonstriert.“
„Toll! Aber warum wird dann immer das gleiche falsche Geräusch bei Filmen benutzt?“
„Er meinte, die Zuschauer hätten sich daran gewöhnt und wüßten genau, was das Geräusch bedeuten würde. Würden sie das echte Geräusch hören, würden sie glauben, der Schalldämpfer wäre kaputt und würden dadurch auf die falsche Fährte geführt oder würden den Film für schlecht halten, wenn sich die falsche Fährte wirklich als falsch erweisen würde, oder etwas in der Art. Die Leute haben auch einen bestimmten Namen, benannt nach irgendeinem Tonmenschen. Das habe ich aber gerade vergessen. ich dachte damals nur irgendwie an der Film ‚Beverly Hills Cop‘, wußte aber auch im gleichen Augenblick, daß das falsch war.“
„Hast du jemanden Bekanntes getroffen? Bei deinem Filmfall?“
„Das ist doch jetzt egal. Wo waren wir stehen geblieben?“
„Ich weiß nicht.“
„Ich auch nicht.“
„Na, da haben wir den Salat.“
„Mit Salat hat das alles nichts zu tun“, meinte mein Vater, vermutlich ohne zu wissen, worüber wir vorher gesprochen hatten, aber auch ich hatte den Faden verloren und hoffte, einer der beiden hätte eine Antwort auf „Ja, was denn nun?“
Stille, es herrschte nichts als Stille.
„Also, okay, Foley – jetzt habe ich es wieder! –, Geräuschmacher, im Film anders als in Wirklichkeit, Schalldämpfer. Super! Wir waren beim Schalldämpfer, und ich vermutete, daß ihr den gehört hättet, wenn denn mit einem geschossen worden wäre.“
„Ja, so was in der Art.“
„Ist euch sonst noch irgendwas eingefallen, aufgefallen?“
„Runtergefallen?“
Ich glaubte, meine Mutter würde das Ganze nicht ernstnehmen, aber vielleicht hatte sie ja sogar Recht.
„Ja. Warum auch nicht das? Vielleicht hat das ja das Geräusch gemacht. Ist was runtergefallen?“
„Na, die Sachen im Wohnwagen“, sagte mein Vater. Auch er hatte Recht, aber weiter brachte mich das nicht. „Ist der Fall jetzt abgeschlossen? Und kann ich die Fernbedienung wieder haben?“
Ich gab sie ihm.
„Soll ich dir noch ein Bier geben?“
Meine Mutter war mehr um meinen Alkoholpegel besorgt als über den Schuß auf sie.
„Den Wohnwagen“, sagte sie. Und ich wunderte mich mal wieder darüber, daß ich mich überhaupt noch wunderte. Vielleicht hatte ja auch sie einfach nur Recht, und ich sollte am nächsten Tag statt in den Baumarkt nach Hause fahren.