Читать книгу Augen wie Gras und Meer - M.T.W. Mayer - Страница 10
Kapitel 8
ОглавлениеSeine Stimme war warm und klar, trotz des Schleiers, der seinen Mund bedeckte. Und obwohl Milia den Schah nicht verstand, spürte sie, dass seine Worte gewissenhaft gewählt wurden. Nach einigen Sätzen beugte sich Atif zu ihr und übersetzte die Ansprache seines Vaters.
„Es erfüllt mich mit großer Freude, einen todgeglaubten Freund und einen schmerzlich herbeigesehnten Gast in unserer Festung begrüßen zu dürfen. Jedoch ist dieser Empfang auch mit Schmerz und Leid verbunden.“ Atifs Aussprache war an manchen Stellen unsicher, dennoch verstand Milia ihn. Die Bewohner der Stadt hörten ihrem Herrn gespannt zu.
„Aret war mit seiner Schwester Fara und dem tüchtigen Alaji nach Atlantis aufgebrochen. Er kehrte jedoch alleine zurück. Alajis Tod hat uns tief bestürzt und hinterlässt eine Witwe und drei kleine Kinder. Meine Gedanken sind bei ihnen. Alaji war ein guter Mann.“ Der Schah machte eine kurze Pause. Milia versuchte zu verstehen, was das alles zu bedeuten hatte. Ihr war nie ein weiterer Mann in Arets oder Faras Umfeld aufgefallen. „Durch Arets Rückkehr bestätigt sich auch die schmerzliche Ahnung, dass die Seele seiner Schwester beim Untergang der großen Stadt Atlantis in das Reich der Toten gewechselt ist.“ Irgendwo in der Menge hörte man ein Schluchzen und Wimmern, doch Milia konnte nicht ausmachen, woher genau es kam. „Meine Gedanken sind dabei besonders bei ihrer Mutter und ihren Schwestern. Ihnen soll es ein Trost sein, dass Faras geliebter Bruder in ihren letzten Augenblicken in dieser Welt bei ihr war, um ihr die Angst vor dem Weggehen zu nehmen. Kurz vor ihrem Tod bat sie Aret, ihr Amulett an diesen Mann zu geben, Ebo, einen Sklaven im Hause des Periandros.“ Der Schah deutete auf Ebo. Die Bewohner reagierten überrascht auf diese Bekanntmachung. Ein Raunen ging durch die engen Gassen. „Er hatte ihr beigestanden, als sie in Not war. Deshalb bat sie ihren Bruder, ihn mit hierher zu nehmen, um hier in Freiheit leben zu können.“
Das Gemurmel in der Menge wurde größer. Der Schah schwieg, bis die Bewohner der Stadt zur Ruhe gekommen waren. Milia wurde das Gefühl nicht los, dass der wichtigste Teil seiner Ansprache kurz bevor stand.
„Unter Arets Verantwortung starben zwei meiner Krieger. Außerdem brachte er ohne meine Erlaubnis einen Fremden in die Festung. Seine Strafe dafür sollen fünf Hiebe mit der Peitsche sein.“
Zwei Wachen traten hinter den Vorhängen auf den Balkon, flankierten Aret und führten ihn weg. Milia konnte nur einen kurzen Blick auf sein ausdrucksloses Gesicht erhaschen. Die Bewohner waren wieder unruhig geworden, doch der Schah brachte sie mit einer Handbewegung zum Schweigen. Milia verstand nicht, was hier vor sich ging.
„Der Sklave Ebo wird bei uns bleiben, seine Wunden werden versorgt werden. In zehn Tagen wird er seine Fähigkeiten im Kampf unter Beweis stellen. Danach entscheide ich, ob er in der Festung bleiben darf oder nicht.“ Der Schah streckte seine Hand nach Milia aus. Reflexartig legte sie ihre hinein. „Das hier ist Aimilia aus Atlantis, Tochter des Periandros. Sie ist mein Gast und lebt mit meiner Familie im Palast.“ Der Schah nickte Milia freundlich zu, doch sie konnte sich nicht bewegen. Das war alles zu viel für sie und ihr blieb keine Zeit, die unzähligen Gedanken in ihrem Kopf zu ordnen.
Die Menge wurde unruhig. Milia sah unter dem Balkon einen freien Platz, auf den nun Aret geführt wurde. Ruhig nahm er erst seinen nachtblauen Schleier ab, dann den Umhang und übergab beides einem der Wachen. Schließlich zog er auch sein Hemd aus, legte es auf den Boden und ging zu einer Säule, die am Rande des Platzes stand. An ihr waren steinerne Griffe befestigt. Auf zwei davon legte Aret seine Hände und blieb regungslos stehen. Einer der Wachen ging nun auf ihn zu, er hatte eine Peitsche in der Hand. Milia wusste nicht, woher er sie hatte. Ein leises Wimmern drang an ihre Ohren und sie glaubte, die alte Frau zu sehen, die Aret so tränenreich begrüßt hatte.
Milia hätte am liebsten weggesehen, doch seltsamerweise konnte sie ihren Blick nicht von Arets nacktem Oberkörper abwenden. Es schien ihr fast, als wären darauf alte, bereits verheilte Narben zu sehen. Sie waren ihr vorher nie aufgefallen. Die Wache mit der Peitsche stellte sich hinter ihn und holte aus.
Das Geräusch fuhr Milia durch alle Knochen.
Die Wache rief laut ein Wort. Milia vermutete, dass er zählte.
Dann schlug er erneut zu. Aret gab keinen Laut von sich, sondern hielt sich nur mit aller Kraft an der Steinsäule fest. Seine Arme zitterten vor Anspannung. In Fetzen hing seine Haut von seinem Rücken, zwei blutrote Striemen kamen dazwischen zum Vorschein.
Nach dem dritten Schlag löste sich Milia aus ihrer Starre und wandte sich ab. Die Wache zählte weiter.
Ein weiterer Schlag.
Die Bewohner waren ganz ruhig.
Milia schossen Tränen in die Augen. Auch wenn Aret sie entführt hatte, sie durch die Wüste geschleppt und respektlos mit ihr umgegangen war, sie verstand diese Strafe nicht. Er konnte nichts für den Tod der Anderen. Und hätte er Faras Wunsch ignorieren sollen? Es war ungerecht!
Der fünfte Peitschenhieb.
Unsicher drehte Milia sich wieder zu dem Platz. Aret war auf die Knie gesunken, sein Rücken schien nur noch aus Hautfetzen zu bestehen. Milia wurde schlecht bei seinem Anblick. Die Wache blickte erwartungsvoll hinauf zum Schah, der ruhig nickte, sich umdrehte und zurück in den Palast ging. Die anderen folgten ihm, Milia wurde von Atif sanft hinein geleitet. Das Letzte was sie sah, waren mehrere Menschen, die auf Aret zuliefen, um ihm aufzuhelfen. Danach verschwand die Szene hinter den leichten Vorhängen.
Der große Raum fühlte sich für Milia schrecklich kalt an. Der Schah sagte ein paar kurze Worte zu einer Wache, danach wollte diese Ebo wegführen. Ohne nachzudenken, rief Milia erschrocken: „Wo bringt ihr ihn hin?“ Sie hatte diese Frage wohl etwas zu heftig hervorgebracht, denn alle Anwesenden blickten sie einige Zeit schweigend und stirnrunzelnd an.
„Zu einem Arzt“, antwortete schließlich der Schah ruhig. „Er ist sehr schwach.“ Dann schickte er mit einer Handbewegung die Wache mit Ebo hinaus. Noch während Milia auf die mittlerweile geschlossene Tür blickte, wandte sich der Schah direkt an sie.
„Werte Aimilia, Ihr seid sicher erschöpft von Eurer Reise. Rhani wird Euch in Euer Zimmer führen. Dort könnt Ihr Euch waschen und umziehen. Wir werden heute Abend mit meiner Familie speisen.“
Sanft wurde Milia von Rhani Richtung Tür geführt. Unfähig zu antworten, ließ sie es geschehen.
Es dauerte einige Zeit, bis in der eilig herbeigetragenen Wanne genug Wasser war, um darin zu baden. Rhani bekam dabei Unterstützung von einigen anderen Sklavinnen. Milia hatte währenddessen auf dem Bett gesessen und ihr offenbar neues Zimmer begutachtet. Es war nicht sonderlich groß, doch war alles darin, was man brauchte: eine schlichte Kommode aus hellem Holz, ein Spiegel, einige Truhen, auf deren Deckeln teilweise bunte Kissen platziert waren, um sie auch als Sitzgelegenheit zu nutzen. Ein kunstvoller Wandschirm aus Holz und rot eingefärbten Stoffbahnen. Und natürlich das Bett auf dem sie saß, drapiert mit Kissen in verschiedenen Größen sowie einer zarten und einer gröberen, dickeren Decke.
Sie schaffte es nicht wirklich, einen klaren Gedanken zu fassen. Immer wieder sah sie Aret vor sich, an der Steinsäule gestützt mit zerfetztem Rücken. Ohne einen Schmerzenslaut hatte er die Peitschenhiebe über sich ergehen lassen.
Rhani berührte Milia sanft am Arm. Offenbar war das Bad fertig, auch wenn in der Wanne nicht annähernd genug Wasser war, damit sie darin hätte versinken können. Dennoch stand sie auf und ließ sich ohne Widerstand entkleiden. Ihr Gewand war vom Sand der Wüste grau und steif geworden. Vorsichtig stieg sie in die Wanne. Das Wasser war lediglich lauwarm, doch Milia fehlte die Kraft, um die Sklaven zu Recht zu weisen. Routiniert begannen sie, ihr den Sand vom Körper zu waschen und ihr Haar zu entwirren. Immer wieder gossen sie dabei frisches Wasser aus Eimern über sie. Ihr Badewasser färbte sich braun vor lauter Sand.
Als Milia aus der Wanne stieg und abgetrocknet wurde, musterte Rhani sie streng und sagte dann ein paar Worte zu einem jungen Mädchen, das danach verschwand. Sie begann dann, die Form von Milias Augenbrauen mit einer Pinzette zu zupfen, während eine andere Sklavin ihr Haar mit wohlriechenden Ölen pflegte. Nach einiger Zeit kam das Mädchen zurück, in ihrer Hand ein Behälter mit einer dampfenden Substanz. Rhani nahm es ihr ab und bedeutete Milia, sich auf das Bett zu legen, nachdem sie die Decken zur Seite geschlagen hatte.
„Das ist Halawa“, erklärte sie. „Heißer Zucker. Gegen die Haare.“ Damit deutete sie auf Milias Achseln, ihre Beine und ihre Scham.
Erschrocken fuhr sie zurück.
Doch Rhani sah sie unbeeindruckt an. „Keine Angst. Ich bin vorsichtig.“
Der Schah hatte einen Peplos bereit legen lassen, falls Milia in ihr bekannter Kleidung zum Abendessen erscheinen wollte. Die Sklavinnen jedoch wusste nicht, wie man ihn anlegte, weswegen er wenig elegant wirkte. Dennoch genoss Milia das vertraute Gefühl des schweren Stoffes auf ihrer Haut. Als sie allerding ihr Zimmer in Begleitung von Rhani verließ, schlug ihr eine Welle aus Hitze entgegen, sodass ihr das lange Kleid bald am Rücken zu kleben begann.
Das Abendessen wurde in dem großen Raum eingenommen, in den Milia früher am Tag geführt worden war. Der Schah saß nun jedoch nicht auf dem reich verzierten Thron, sondern am Kopf des großen Tisches. Auf dem Boden lagen lauter Kissen, um gemütlich sitzen zu können. Bei ihm saßen noch andere Personen, von denen Milia nur Atif, seinen Sohn, erkannte. Alle trugen weite Obergewänder und bauschige Hosen. Um die Hüften hatten einige Gürtel geschlungen. Sie trugen aber ihre Schleier nicht mehr derart Streng vor ihrem Gesicht, sodass er öfter zur Seite rutschte. Milia fühlte sich mit ihrem Peplos zwischen ihnen äußerst unwohl. Der Stoff war zu warm, engte sie ein und drückte.
„Verehrte Aimilia, ich freu mich, Euch an meiner Tafel begrüßen zu dürfen“, schwärmte der Schah, als sie sich setzte. Er hatte viele Lachfalten. „Meine Familie fühlt sich geehrt.“ Danach stellte er sie der Reihe nach vor, und Milia hatte große Mühe, sich seine Worte zu merken.
Neben Atif nahm auch seine Mutter Fatime am Essen teil, eine schöne und anmute Frau. Sie dürfte bei seiner Geburt kaum älter gewesen sein als Milia es nun war. Daneben gab es noch drei Töchter: Ayla, Siham und Aischa. Während die erstgenannte so alt sein mochte wie Milia selbst, schätze sie Siham etwas jünger als ihre eigene Schwester Dora. Aischa hingegen mochte erst fünf oder sechs Jahre alt sein. Auch wenn eine Ähnlichkeit zwischen den Geschwistern bestand, hatte Milia das Gefühl, dass die Unterschiede doch zu groß waren, als dass sie alle die gleiche Mutter hatten.
Milia hatte nicht gewusst, wie viel Hunger sie hatte, bis sie das Essen vor sich sah. Obwohl es weniger verschwenderisch war als die Mahle in Atlantis, lief ihr das Wasser im Munde zusammen. Es gab frische Brote, Getreidebrei, einiges getrocknetes Obst und Fleisch, dazu frische Feigen und Datteln. Getrunken wurde im Gegensatz zu ihrer Heimat kein Wein, sondern Wasser oder Kamelmilch. Nach den Tagen in der Wüste war dies für sie Festmahl genug.
Die Gespräche waren lebendig, auch wenn Milia kaum etwas verstand. Atif und der Schah übersetzten gelegentlich für sie, und auch die älteste Tochter, Ayla, versuchte ihr hin und wieder den Sinn der Worte zu erklären, doch ermüdete Milia unfassbar schnell. Als der Schah das bemerkte, erklärte er das Essen für beendet und schickte alle Anwesenden bis auf Milia und Atif hinaus.
„Ich hoffe, das Abendessen hat Euch nicht allzu sehr angestrengt“, fragte er besorgt, als sie unter sich waren. Ein Sklave brachte frischen Tee herein, der Milia wieder etwas Kraft schenken sollte. „Ich habe eine Bitte an Euch und ich hoffe, Ihr könnt sie mir so bald wie möglich erfüllen.“
Unsicher blickte Milia von dem Schah zu seinem Sohn. Sie bezweifelte, dass es um einen Gefallen ging, sondern eher um einen Befehl. Dennoch spielte sie sein Spiel mit. „Um welche Bitte handelt es sich?“
„Ich bitte Euch, einen Brief an Euren Vater aufzusetzen. Er soll wissen, dass ihr unverletzt seid.“ Milia verstand nicht den Sinn hinter diesem Auftrag, doch der Schah sprach ruhig weiter. „Um zu versichern, dass der Brief von Euch ist, bitte ich Euch zudem, einige persönliche Bemerkungen oder Begebenheiten zu erwähnen, von denen nur Ihr Kenntnis haben könnt. Macht Euch keine Sorgen, niemand außer Eurem Vater wird diesen Brief sehen. Sobald Ihr ihn vollendet habt, wird er versiegelt.“
Atif holte Papier und Tinte und legte es vor Milia auf den Tisch. Danach gingen sie zu einem kleinen Tisch, der hinter dem Thron verborgen war und schienen dort selbst einen Brief zu verfassen.
Offensichtlich wollten sie Peris mitteilen, dass sie in ihrer Gewalt war. Und ihr Brief sollte der Beweis dafür sein. Obwohl es Milia missfiel, damit ihren Entführern zu helfen, wollte sie, dass ihr Vater wusste, dass sie wohlauf war. Also begann sie zu schreiben. Sie benannte ihre Entführung als „Reise“ und das Ebo bei ihr war, in der Hoffnung, dass das ihrer Familie Hoffnung geben und sie beruhigen würde. Selbstverständlich teilte sie auch Ebos Erklärung mit, Dora wäre mit der Sklavin Sia geflohen und dass sie täglich dafür betete, dass sie in Sicherheit wäre. Milia wollte gerne noch hinzufügen, dass es ihr gut gehe, aber hier hielt sie inne. Auch wenn alle in dieser seltsamen Stadt freundlich zu ihr gewesen waren, konnte sie sich nicht dazu überwinden, das in den Brief zu schreiben. Also skizierte sie das Angebot ihres Vaters, den Armreif ihrer toten Mutter bei ihrer Hochzeit zu tragen. Keine andere Person war bei diesem Gespräch anwesend, also konnte Peris sicher sein, dass dieser Brief von seiner Tochter stammte. Ihr Herz setzte kurz aus, als sie daran dachte, dass all die kostbaren Erinnerung an ihre Mutter Philomena für immer mit Atlantis in den Fluten des Meeres versunken waren.
Der Schah und sein Sohn Atif traten neben Milia und rissen sie aus ihren Gedanken.
„Seid Ihr bereit“, fragte er mit seiner tiefen ruhigen Stimme.
Milia blickte nochmal auf die Zeilen vor ihr, nickte, faltete das Papier und reichte es Atif, der es vor ihren Augen mit Wachs versiegelte. Danach verließ er den Raum mit den Briefen. Der Schah setzte sich neben Milia auf eines der reich verzierten Kissen und schenkte ihnen etwas Tee nach.
„Ich bin mir sicher, Ihr habt viele Fragen, die beantwortet werden wollen.“ Er hielt kurz inne, um einen Schluck zu trinken. „Aber auch ich muss Euch eine Frage stellen und ich vertraue darauf, dass Ihr sie mir wahrheitsgemäß beantwortet.“
In Anbetracht ihrer Situation war ihr klar, dass sie nicht anders konnte, als zu nicken.
„Während Eures Aufenthaltes hier ist es meine Pflicht, für Eure Unversehrtheit einzustehen. Und ich bin mir darüber im Klaren, dass es für Euch als zukünftige Braut von besonderer Bedeutung ist, vollständig unberührt Eurem Verlobten gegenüberzutreten, wenn die Verhandlungen abgeschlossen sind. Als Euer Gastgeber werde ich selbstverständlich für diesen Umstand garantieren, doch dafür muss ich wissen, ob ihr tatsächlich noch nie mit einem Mann zusammen wart.“
Röte stieg in Milias Wangen. Nicht nur, dass der Schah die Dreistigkeit besaß, ihre Entführung als „Reise“ und sich selbst als „Gastgeber“ zu bezeichnen, er wagte es auch, sie nach ihrer Jungfräulichkeit zu fragen! Als wäre sie ein lasterhaftes Flittchen, dass jeden Mann in ihr Bett lässt.
Stolz reckte sie ihr Kinn vor. „Selbstverständlich ist meine Ehre unberührt. In Atlantis wissen wir Frauen, was sich gehört und was nicht.“
Unberührt von dieser Spitze gegen die weiblichen Bewohner dieser Stadt nahm der Schah ruhig einen Schluck aus seiner Tasse. „Es freut mich, das zu hören. Auch wenn es mich nicht überrascht, da ich um die Ehrbarkeit Eurer Familie weiß.“
Eine für Milia unbequeme Ruhe trat ein. Der Stoff ihres Peplos war zu dick und nun wünschte sie sich nichts sehnlicher, als ein erneutes Bad, um sich den Schweiß vom Körper zu waschen. Sie war müde und erschöpft. Zudem bemerkte sie in jeder Minute, die sie nicht mehr auf einem Kamele saß, wie ihr Rücken und die Glieder schmerzten und ihre Haut unter der Sonne gelitten hatte. Könnte das nicht alles ein schlimmer Traum sein, aus dem sie jeden Moment aufwachen würde?
„Ich hoffe, ich trete Euch nicht zu nahe, wenn ich sage, dass die Schönheit Eurer Augen die Erzählungen darüber bei Weitem übertreffen“, bemerkte der Schah nach einiger Zeit.
Unsicher, was sie auf dieses Kompliment antworten sollte, wandte sie den Blick ab. Seit dem Untergang Atlantis‘ hätte sie lieber gewöhnliche Augen als zweifarbige.
„Da Ihr mir meine Frage beantwortet habt, möchte ich nun versuchen, einige der Eurigen zu beantworten.“ Milia blickte wieder auf und damit genau in die dunklen Augen des Schahs. Sie glaubte, Verständnis darin zu sehen. „Ihr fragt Euch sicher nach dem Grund Eures Aufenthaltes in meiner bescheidenen Stadt. Nun, neben dem Geschenk Eurer Anwesenheit hoffe ich auf diesem Wege, Euren Vater sowie Euren Verlobten davon zu überzeugen, dass Handelsbeziehungen, die sie ins Auge gefasst haben, nicht vorteilhaft für sie sein werden. Bisherige Bemühungen in diese Richtung haben leider nicht das gewünschte Ergebnis hervorgerufen, sodass ich mich gezwungen sah, die Basis der Verhandlungen zu verändern.“
Er machte eine kurze Pause, um Milias Reaktion auf diese Enthüllung zu beobachten. Diese begann zu begreifen, dass ihre Entführung wegen den beruflichen Plänen ihrer Familie zusammen hang, mit denen sie sich selbst nie beschäftigt hatte. Offensichtlich war der einzige Grund, warum sie hier war, ihre Verbindung zu sowohl ihrem Vater als auch Charis, ihrem Verlobten. Sie war das Bindeglied, dessen Entführung beide verletzten würde. Dabei hatte sie sich nie für den Handel interessiert!
„Wie Ihr sicherlich bemerkt hab, gab es bei Eurer Reise einige ungeplante Zwischenfälle. Ich hatte gehofft, sie würde weniger nervenaufreibend sein, als sie es wohl war.“
„Wie hätte sie denn geschehen sollen“, brach es aus Milia heraus. Sie wollte nicht mehr höflich oder lieblich sein. Sie war entführt worden und das wegen etwas, womit sie selbst nicht die geringsten Berührungspunkte aufwies.
Der Schah schwieg eine Weile. Milia war es, als wären seine Augen voller Traurigkeit. Als er schließlich antwortete, war seine Stimme leiser als sonst. „Sie hätte keine Toten fordern sollen. Sehr viel Leid ging damit einher. Ihr hättet von Aret und Fara mit einem kleinen Boot nach Berenike gebracht werden sollen. Dort hätte bereits Alaji mit Kamelen auf Euch gewartet, um Euch unverzüglich hierher zu bringen. Den tatsächlichen Verlauf kennt Ihr jedoch besser als ich selbst. Zeitliche Verzögerungen, der Untergang Atlantis … Alajis Ermordung … so hätte es nicht geschehen sollen.“
Milia wollte nach diesem Alaji fragen, tat es allerdings nicht. Sicher war er gerächt worden. Wie genau, wollte sie gar nicht wissen. Sie war müde und hatte mit eigenen Augen gesehen, wie der Schah Menschen bestrafte.
„Wieso habt Ihr Aret derart hart bestraft“, fragte sie schließlich. Der Schah atmete tief ein und straffte seinen Rücken. Er wirkte nun wieder wie ein starker und unnahbarer Herrscher.
„Unter seinem Befehl starben zwei meiner Krieger. Für jeden bekam er zwei Peitschenhiebe. Und er brachte einen Fremden mit in die Festung. Das war der Grund für den letzten Hieb.“
Die junge Atlanterin fuhr wütend hoch. „Aber er konnte nichts für ihren Tod! Und es war Faras Wunsch, dass Ebo mitkam. Wie hätte er ihr diesen Wunsch abschlagen können?“
Der Schah nahm einen weiteren Schluck Tee. Trotz Milias wütendem Ausruf blieb er ruhig. „Mir ist bewusst, dass es nicht in seiner Macht lag, die Geschehnisse zu ändern. Doch geschah alles unter seiner Verantwortung, also muss er die Konsequenzen tragen.“
Anmutig erhob sich der Herrscher der Wüstenstadt. „Ich denke, es ist besser, wenn Ihr nun zu Bett geht. Ein langer Tag liegt hinter Euch. Ich freu mich auf Morgen.“ Er nickte Milia kurz zu, dann verließ er den Raum. Als er gegangen war, huschte Rhani hinein, redete auf Milia ein und führte sie zurück in ihr Zimmer.