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Kapitel 6

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Die nächsten Tage verliefen ohne große Zwischenfälle. Immer wieder machten die Gaukler halt, verdienten Geld und kauften ein. Aret und Ebo ließen Milia mehr Freiraum, sodass sie sich frei von Scham waschen, umkleiden oder ihren Gedanken nachhängen konnte. Sie schliefen nicht mehr dicht gedrängt an sie, setzten sich nicht automatisch zu ihren Seiten oder beobachteten peinlich genau jeden ihrer Schritte. Und wenn sie sich mit jemandem unterhalten wollte, unterband Aret das nicht sofort.

Milia begann, abends die Kartographen zu beobachten. Der älteste, Amin, plauderte viel und gerne mit Ezra über Politik, das unstete Leben von Gauklern oder die Viehzucht. Der drahtige Manuél mit der olivfarbenen Haut kümmerte sich hauptsächlich um die Pferde, besserte Kleidungsstücke aus oder reinigte die komplizierten Messgeräte. Eero hatte begonnen, kleine Figuren aus Holz zu schnitzen, die er an Kinder verschenkte, wenn sie in das Lager der Gaukler kamen. Wenn sie weiterreisten, hörte Milia sie oft scherzen und lachen. Dabei sprachen sie arabisch. Da war sie sich sicher, auch wenn sie die Sprache bis auf einige Wörter nicht beherrschte. Daher kam wohl auch der Akzent Amins, der ihr bereits aufgefallen war. Arabisch war seine Muttersprache. Doch unterschied er sich von dem Akzent, den Aret hatte und Fara gehabt hatte, als sie ihre Sprache gesprochen hatten. Hin und wieder versuchte sie, den Sinn ihrer Unterhaltungen zu verstehen, gab jedoch meist schnell wieder auf. Ihre Zeit mit Fara war zu kurz gewesen.

Wenn sie an Arets junge Schwester dachte, begann sie Mitleid zu empfinden. Nicht unbedingt für ihn, weil er sie verloren hatte, denn ihre Abneigung ihm gegenüber war dafür viel zu groß. Vielmehr fand sie es traurig, dass ein Mädchen in ihrem Alter derart tragisch ihr Leben verlor, eingeklemmt unter Trümmern, in einem fremden Land, nur im Beisein ihres gefühlskalten Bruders.

Ob Fara Teil ihrer Entführung war, bevor das Unglück über Atlantis hereingebrochen war? Milia konnte es sich nicht vorstellen, dafür war sie zu schüchtern, ängstlich und auch jung gewesen. Sicherlich war sie von Aret dazu gezwungen worden. Ob er überhaupt ihr Bruder war? Würde ihr Bruder Akis ihr etwas Derartiges zumuten, Komplizin einer Entführung zu sein?

War Ebo von Anfang an Teil von Arets Plan gewesen? Er war viele Jahre ein Sklave von Milias Familie gewesen und sie hatte angenommen, er hätte sich für dieses Schicksal glücklich schätzen können. Wann hatte er von der Entführung erfahren und sich ihr angeschlossen? Waren seine Beweggründe wirklich nur der Wunsch nach „Freiheit“, einem Gut, mit dem er, als Sklave von Geburt an, womöglich nicht einmal wirklich umgehen konnte?

Milia erkannte mit jedem Tag mehr, wie wenig sie über ihre Entführer wusste.


Als die Gaukler ihr Lager zehn Tage später vor Tripole aufschlugen, verschwand Aret sofort. Ebo schien zu wissen, warum, sprach aber nicht mit Milia. Verwundert setzte sie sich an das Lagerfeuer, obwohl die frühe Nachmittagssonne genug wärmte. In ihrer Nähe hatte sich Eero niedergelassen und schnitze an einer neuen Figur. Milia hatte die letzten Tage versucht, ihn zu ignorieren. Auch wenn sie gerne gewusst hätte, was in jener Nacht zwischen ihm und Aret vorgefallen war, hielt sie sich zurück. Sie wollte ihn nicht erneut durch ein Gespräch in Gefahr bringen.

Als Aret einige Zeit später kam, waren die Schatten schon länger geworden. Er war nicht alleine. Bei sich hatte er fünf Kamele, schwer beladen mit Säcken, Tüchern und Beuteln. Sofort eilte Ebo zu ihm, um ihm die Zügel der Tiere abzunehmen.

Milia hatte schon einige Male Kamele gesehen, jedoch war sie ihnen noch nie so nah gewesen. Sie überragten sogar Ebo, der dem gewaltigen Tier nicht einmal bis zur Schulter reichte. Gemächlich folgten sie ihm, setzten einen ihrer überraschend zierlichen Füße vor den Anderen. Vor dem Höcker von drei Kamelen war eine Art Sattel befestigt. Milias Magen krampfte sich zusammen.

Währenddessen ging Aret zu Ezra und übergab ihm einen Beutel, vermutlich gefüllt mit Münzen als Bezahlung für die Reise. Woher hatte er das Geld, die Kamele, das Gepäck? Milias Kopf war voller Fragen, und keine war im Moment für sie zu beantworten.

Kurz darauf kam Aret auf sie zu. In seiner Hand hielt er einige Kleidungsstücke, die er zuvor aus einem Beutel auf dem Rücken eines der sandfarbenen Tiere geholt hatte.

„Zieh das an“, befahl er ihr. „Und beeil dich.“

Unsicher blickte Milia auf die hellen Stoffe in ihrer Hand. Rebekka, Ezras Frau, schien ihre Hilflosigkeit zu bemerken und nahm sie an der Schulter. „Komm mein Kind, ich helfe dir.“ Mit diesen Worten führte sie sie zu ihrer Kutsche, schob sie hinein und drapierte die äußeren Stoffplanen so, dass sie vor fremden Blicken geschützt waren. Mit sicheren Handbewegungen entledigte sie Milia ihrer Kleider und half ihr in die sandfarbene Hose, das lange Hemd, das ihr bis zu den Knien ging sowie in die leichten Sandalen. Geschickt wickelte sie ihr ein langes Tuch um den Kopf, befestigte es gekonnt und legte es so vor das Gesicht, dass nur noch ihre Augen sichtbar waren. Nachdem sie ihr noch einen Umhang um die Schultern gelegt hatte, führte Rebekka sie nach draußen. Dort warteten schon Ebo und Aret auf sie, ebenso gekleidet wie Milia.

Aret kam zu ihr und Rebekka, nickte letzterer anerkennend zu und zog Milia dann zu den Kamelen. Er klopfte einem auf die Flanke, sagte ein arabisches Wort und das gewaltige Tier legte sich gehorsam auf den Boden.

„Nimm Platz“, befahl er leise, als er auf den seltsamen Sattel vor dem Höcker des Tieres zeigte.

Panik stieg in Milia hoch. Das Kamel machte ihr Angst. „Das kann ich nicht. Aret nein, bitte nicht, ich kann nicht da drauf, es ist zu groß, bitte nicht.“

Der Griff um ihren Arm wurde etwas fester. „Nimm Platz.“

Sie nickte kurz und stieg dann unbeholfen in den Sattel. Ängstlich hielt sie sich am Griff fest und legte ihre Füße, wie von Aret gefordert, an den Hals des massigen Kamels. Aret sagte wieder ein Wort und klopfte an seine Flanke. Erst streckte es seine Hinterbeine, danach stand es komplett auf, weshalb Milia im Sattel hin und her geworfen wurde. Mit klopfendem Herzen hielt sie sich fest, bis ihre Fingerknöchel weiß hervortraten. Es war viel zu hoch, die Beine des Kameles waren so schrecklich dünn. Wieso musste sie auf diesem seltsamen Tier sitzen? Sollte sie fallen, würde sie sich alle Knochen brechen!

Auch Aret und Ebo stiegen auf jeweils ein Kamel auf und lenkten sie neben das von Milia. Während der Araber stolz und sicher auf seinem Tier saß, wirkte Ebo beunruhigt, jedoch bei weitem nicht so panisch wie Milia. Auch ihm waren die Kamele nicht geheuer.

Die anderen Bewohner des Lagers waren gekommen, um die Kamele zu betrachten und sie zu verabschieden. Während die Gaukler ihnen eine gute Reise wünschten, nickten Amin und Manuél ihnen freundlich zu. Eero trat an die großen Kamele heran, nickte Ebo zu, strich Arets Tier sanft über den Hals und trat an Milia heran. Unsicher blickte sie zu ihrem Entführer, der ihr jedoch mit einem knappen Nicken bedeutete, dass er nichts dagegen hatte. Gespannt beugte Milia sich zu Eero herunter, peinlich darauf bedacht, nicht ihr Gleichgewicht zu verlieren oder den Sattel loszulassen.

„Ich habe ein Geschenk für Sie“, flüsterte er ihr mit einem Lächeln zu. Dann hob er seine Hand und reichte Milia damit ein kleines geschnitztes Pferd, das an einer Lederschnur wie an einer Kette befestigt war.

Vorsichtig hob sie das Geschenk an der Schnur zu sich hoch. Obwohl sie sicher war, dass er das Holzpferd innerhalb kürzester Zeit geschnitzt haben musste, wirkte es filigran, kraftvoll und erhaben.

„Danke“, hauchte Milia.

„Pferde haben in dem Land meiner Ahnen einen hohen Wert“, erklärte Eero ruhig. „Und ich glaube mich zu erinnern, dass Poseidon, dessen Tempel mitten in Atlantis stand, Pferde heilig waren. Also hoffe ich, dass Ihnen dieser Anhänger Glück, Zuversicht und Mut bringt für Ihren weiteren Weg im Leben. Behaltet damit die Erinnerungen an Euer Zuhause in Eurem Herzen. Und das Wissen um Menschen, denen Ihr viel bedeutet.“ Nach diesen Worten neigte er seinen Kopf und ging zu seinen Mitreisenden.

Sprachlos betrachtete Milia die Kette, lächelte und hängte sie sich um den Hals. Das kleine Pferd aus Holz hing nun auf Höhe ihres Herzens. Um es vor der Sonne zu schützen, verbarg sie es unter ihrem Hemd. Es fühlte sich angenehm auf ihrer Haut an.

Aret schnalzte mit der Zunge, und die fünf Kamele setzten sich in Bewegung. Er selbst ritt voran, hinter ihm Milia, dann die beiden Lastkamele und zum Schluss Ebo. Ihr Weg führte sie direkt in die Wüste.


Die Hitze war für Milia unerträglich. Eintönig zog die Landschaft an ihr vorbei, die nur aus Gestein, dürren Pflanzen und Hitze bestand. Das Kamel schwankte sanft hin und her, wie ein kleines Boot auf einem See. Hin und wieder kam Aret zu ihr und reichte ihr einen Trinkbeutel mit warmem Wasser. Sie selbst hatte keinen, ihr Entführer beschloss, wann sie trinken durfte und wie viel. Immer wenn sie trank, trank auch Ebo, an dessen eigenen Sattel ein Beutel befestigt war. Aret achtete peinlich genau darauf, dass sie nicht zu viel Wasser verbrauchten.

Mittags rastete die kleine Karawane, meist unter einem knochigen Baum oder an Felsen gelehnt. In dieser Zeit fiel Milia sogar das Atmen schwer. Ihre Mund war trocken, die Sonne brannte erbarmungslos und kein Lufthauch kühlte ihre Glieder. Wenn es Stunden später kaum merklich kühler wurde, reisten sie weiter.

Die Nacht brach sehr schnell über die Wüste herein, doch Aret hatte dann schon immer ein kleines Lager mit Ebo errichtet. Dann saßen sie an einem mickrigen Feuer, Aret teilte etwas Trockenfleisch, Brot und Milch zum Essen aus. Sie sprachen kaum ein Wort, und wenn, dann nur sehr leise. Es schien Milia so, als würde die Wüste keine lauten Geräusche dulden.

So ging es, bis sie nach sechs Tagen eine Oase erreichten.

Sie war unvermittelt hinter einer Düne vor Milias Augen erschienen. Und obwohl sie nur aus einem kleinen See und einigen Bäumen darum bestand, schien es ihr, als hätten sie inmitten der staubigen Wüste ein Paradies gefunden.

Aret stieg elegant von seinem großen Kamel ab und half danach Milia zurück auf den Boden. An das Schwanken des Tieres gewöhnt, fiel es ihr erst einmal schwer, auf festem, unbeweglichem Untergrund gerade zu stehen. Sorgsam führte Aret die Kamele zu dem See, um sie zu tränken. Als er die Wasserbeutel auffüllte, erkannte Milia, dass kaum noch ein Tropfen darin gewesen war. Deswegen hatte Aret peinlich genau darauf geachtet, wie viel sie trank! Das Wasser hatte gerade ausgereicht, um zu dieser Oase zu kommen. Was wäre gewesen, wenn es Verzögerungen gegeben hätte? Wenn Milia oder Ebo mehr getrunken hätten? Oder sie die Oase nicht gefunden hätten in dieser eintönig gleichen Landschaft? Doch Aret hatte auf Milia niemals nervös, unsicher oder orientierungslos gewirkt. Sicher hatte er die kleine Karawane durch die trockene Wüste geführt. Er musste sich bestens auskennen.

Ebo hatte begonnen, das kleine Lager aufzubauen, das eigentlich nur aus einer Feuerstelle und einem Zelt bestand. Milia fühlte sich nutzlos zwischen der Geschäftigkeit der beiden Männer. Unsicher ging sie hin und her, während sie den Holzanhänger von Eero zwischen ihren Fingern drehte. Diese Bewegung hatte sie sich angewöhnt, während sie lange Nächte damit verbrachte, den überwältigenden Sternenhimmel zu betrachten. In der Wüste schien er noch beeindruckender und gewaltiger zu sein als in Atlantis. Aus Angst, sich in ihm und der trostlosen Landschaft um sich herum zu verlieren, griff sie jedes Mal nach dem Pferd als Holz, als wäre es ein Anker.

Nach einiger Zeit nahm Aret sein Kopftuch ab, legte die lange Stoffbahn sorgfältig zusammen und tauchte seine Unterarme in den See. Langsam ließ er das Wasser von seiner Haut tropfen, bis er mit den Händen über sein Gesicht fuhr. Dabei interessierte er sich nicht für die Kamele, die zufrieden neben ihm lagen und immer wieder aus dem gleichen See tranken, mit dessen Wasser er sich wusch. Ebo trat an ihn heran und tat es ihm gleich, wobei Aret ihn anwies, sparsam mit dem kostbaren Gut umzugehen. Schließlich blickte er fordernd zu Milia und bedeutete ihr, zu ihnen zu kommen.

Zögerlich näherte sie sich ihren Entführern und nahm dabei ihren Turban ab. Es war befreiend, den leichten Wind auf dem gesamten Kopf zu spüren, auch wenn die Sonne nun direkt auf ihre Haut brannte. Als sie sich neben Aret setzte, schützte sie der Schatten eines trockenen Baumes. Obwohl sie sich davor graute, sich mit dem Wasser zu waschen, von dem die Kamele getrunken hatten, war sie dankbar für das kühle Gefühl auf ihrem Gesicht. Erst jetzt bemerkte sie, dass sich eine feine Schicht aus Sand auf ihrem ganzen Körper abgelagert hatte.

Aret hatte längst wieder das lange Tuch um seinen Kopf gewickelt und bewegte sich damit beeindruckend selbstverständlich. Er hatte damit begonnen, die verschiedenen Säcke und das Gepäck von den Kamelen zu nehmen und half Ebo nun mit dem Aufbau des Lagers. Milia blickte sich schüchtern um. Keiner schien auf sie zu achten. Als sie die gefüllten Wasserbeutel ganz in ihrer Nähe sah, kam ihr kurzentschlossen ein Gedanke.

Ohne weiter darüber nachzudenken, sprang sie auf, griff nach einem der Beutel und rannte so schnell sie konnte. Das Leder schlug hart gegen ihren Körper und der Sand unter ihren Füßen schien wie Wasser zerfließen zu wollen. Die Sonne brannte wie Feuer auf ihrer Haut, mit jedem Atemzug war Milia, als wären Kohlen in ihrer Lunge, die sie von innen verbrennen wollten.

Plötzlich wurde sie am Arm gepackt und fiel zu Boden. Der Sand war hart und der Sturz drückte alle Luft aus ihren Lungen.

Aret stand wie ein gewaltiger Schatten über ihr, die Sonne im Rücken. Unsanft zog er sie auf die Beine und zerrte sie weiter weg vom Lager auf einen kleinen Felsen. Milia hatte Todesangst. Würde er sie nun ermorden? In der Wüste würde sie niemand finden, keiner würde ihr zur Hilfe kommen.

„Sieh dich um!“ Die Worte waren äußerst langsam, aber mit Nachdruck von Aret ausgesprochen wurden. Ängstlich blickte Milia auf die trostlose Umgebung: überall nur Sand, Gestein und endlose Trockenheit.

„Hast du wirklich geglaubt, du könntest hier fliehen“, fragte Aret sie. Seine Stimme war hinter den Stoffbahnen seines Turbans, der auch sein Gesicht bis auf die Augen verdeckte, gedämpft und leise. „Du würdest keine Oase finden, kein Wasser, keine Rettung. Innerhalb eines Tages und einer Nacht wärst du tot.“

Beim Anblick der unendlich scheinenden Wüste wurde Milia der Wahnsinn ihres unbedachten Fluchtversuches klar. Sie sah nicht einmal ihr Lager, obwohl es nur wenige Meter hinter einer Düne oder einem Felsen verborgen sein musste. Sie hätte niemals die geringste Chance gehabt, lebend durch die Ödnis zu wandern und Hilfe zu finden.

„Auch wenn du es nicht glaubst, aber ich bin deine einzige Rettung in der Wüste.“ Mit diesen Worten drehte Aret sich um und ging zurück zum Lager.

Mutlos folgte Milia ihm.

Augen wie Gras und Meer

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