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Kapitel 7
ОглавлениеDie Tage schienen nicht vergehen zu wollen. Milias ganzer Körper schmerzte von der ungewohnten Sitzposition auf dem Kamel und seinen Bewegungen. Die Umgebung wurde immer trostloser, es waren kaum noch Sträucher oder Bäume zu sehen und die Steine unter den Hufen der gewaltigen Tiere schienen immer kleiner und feiner zu werden. Die Hitze war unerträglich. Aret gestatte sich, Ebo und auch Milia etwas mehr Wasser als auf ihrem Weg zur Oase. Dennoch wurden ihre Zungen und Gedanken schwer und träge.
Mit jedem weiteren Tag wurde Aret unruhiger. Er wollte die Pausen verkürzen und länger reiten, bevor sie wieder ein Lager aufschlugen. Milia war sich nicht sicher, was sie davon halten sollte. Er hatte es offensichtlich eilig, irgendwo anzukommen, doch ob es eine weitere Oase war, die er wegen der zur Neige gehenden Wasservorräte aufspüren wollte oder womöglich das Ziel ihrer Reise, wusste sie nicht. Mittlerweile kreisten Milias Gedanken sehr oft um das Ende dieser Entführung und den Sinn dieses Höllenritts durch die Wüste. Aret musste irgendwo ein Versteck haben, in das er sie bringen würde, um dann in Verhandlungen mit ihrer Familie zu treten. Jedenfalls hoffte sie inständig, dass es so geschehen würde und ihr Entführer nicht etwa plante, sie für immer bei sich zu behalten.
Sie hatten fünf Tage und Nächte in der Wüste verbracht, als Aret plötzlich die Karawane am Rande einer langen Felswand zum Stehen brachte. Bedächtig stieg er von seinem Kamel ab und bedeutete Ebo, auf Milia aufzupassen und ruhig zu sein. Er schien etwas bemerkt zu haben, was ihr in der ewig gleichbleibenden Trockenheit nicht aufgefallen war. Vorsichtig schlich Aret an dem glatten Felsen entlang, bis zu einem Spalt, in den er verschwand. Erst drangen keine Laute zu Ebo und Milia, nur der Wind blies sanft über den Sand, wodurch ein leises Murmeln entstand.
Plötzlich Geräusche.
Gelächter? Ausrufe der Freude?
Milia und Ebo sahen sich verwirrt an. Was geschah dort hinter den Felsen? Auf wen war Aret getroffen?
Nach einiger Zeit kam Aret wieder, doch er war nicht allein. Ihm folgten fünf Männer, in lange helle Umhänge gekleidet und mit einem Turban um den Kopf, der bis auf ihre Augen nichts freiließ. Zielstrebig kamen sie auf Milia und Ebo zu. Die ganze Szene wirkte äußerst beunruhigend auf sie. Wenn von ihnen die freudigen Rufe kamen, die sie vorher gehört hatten, mussten es Freunde von Aret sein. Und damit womöglich auch Teil ihrer Entführung. Sie strahlten eine merkwürdige Bedrohlichkeit aus, eine Stärke und Geschicklichkeit, die Milia klar vor Augen führten, wie sehr sie ihnen unterlegen war.
Die Fremden griffen nach den Zügeln der Kamele und führten sie mit sich. Aret ging neben Ebo her und flüsterte ihm etwas zu. Wegen des Turbans konnte Milia keine Gesichter sehen oder Gefühlsregungen erkennen. Als sie um den großen Felsen herum gekommen waren, sah Milia ein kleines Lager aus Zelten, einige Kamele, ein Lagerfeuer und einen Brunnen, dem die Bedingungen der Wüste sichtlich zugesetzt hatten. Dennoch funktionierte er, denn zwei weitere Männer, die in die gleiche Kluft gekleidet waren wie die Freunde von Aret, schöpften aus ihm Wasser.
Aret half Milia aus dem Sattel des Kameles und brachte sie in die Mitte des Lagers an ein kleines Feuer. Dort wurde ihr von einem fremden Mann ein Tonbecher gereicht, gefüllt mit einem stark duftenden Tee. Auch wenn keiner zu ihr sprach, benahmen sie sich äußerst zuvorkommend. Ihr Verhalten gegenüber Ebo jedoch schockierte Milia.
Zwei der Fremden hatten ihn an den Armen gepackt und zu einem anderen Mann gebracht, der Ebo seinen Turban abnahm. Kritisch beäugte er den schwarzen Hünen, während Aret einige Worte zu ihm sagte. Schließlich bemerkte er das Amulett, dass Fara kurz vor ihrem Tod Aret gegeben hatte, der es wiederum Ebo überreicht hatte. Ehrfurchtsvoll drehte der fremde Mann den Anhänger zwischen seinen feingliedrigen Fingern, dann nickte er fast unmerklich und flüsterte einige Worte. Die zwei anderen, die Ebo an den Armen gepackt hatten, brachten ihn in die Nähe des Feuers, sodass Milia ihm in die Augen blicken konnte. Einer der beiden fesselte seine Arme hinter seinem Rücken, während der zweite Ebos Augen mit einem feinen Tuch verband und ihm danach wieder locker den Turban anlegte. Der letzte Blick ihres ehemaligen Sklaven, den Milia sah, war voller Hilflosigkeit und Angst.
„Wieso tut ihr das“, fragte Milia Aret, als er sich neben sie setzte und ebenfalls einen Becher mit Tee gereicht bekam. Warum verbanden sie ihm die Augen und fesselten ihn wie einen … wie einen Sklaven. Milia fühlte sich schlecht bei dem Gedanken, dass Ebo, der die Freiheit gesucht hatte, wie ein Tier in Ketten gelegt wurde.
„Er darf ihre Gesichter nicht sehen“, antwortete Aret leise und nahm einen Schluck Tee.
„Aber sie tragen doch diese Schleier“, widersprach Milia. Zudem machten die anderen Männer ebenso wie Aret keinerlei Anstalten, ihre Gesichter zu entblößen.
Aret schnaubte kurz. War es Resignation? „Er darf auch den Weg nicht sehen.“
Bevor Milia wieder etwas sagen konnte, fuhr er fort: „So will es das Gesetz. Er ist keiner von uns.“
Sie überlegte. „Ich dachte, er wäre dein Helfer bei meiner Entführung.“
Traurig blickte Aret in die Wüste. „Nein.“
Einige der anderen Männer hatten sich nun ans Feuer gesetzt und begannen, einen Teig zu kneten, den sie anschließend in den heißen Sand unter dem Lagerfeuer eingruben. Ebo verhielt sich ganz still. Nach einiger Zeit ging Milia zu ihm und legte ihre Hand auf seine Schulter. Er erschrak.
„Keine Angst, ich bin es nur.“ Sie legte ihren Becher an seine Lippen. „Trink etwas.“ Dankbar folgte Ebo ihrer Anweisung. Die anderen Männer beobachteten sie dabei genau.
Als es Abend wurde, unterhielten sich die Männer auf Arabisch. Milia blieb neben Ebo und gab ihm immer wieder zu trinken und zu essen. Die Männer schienen trotz ihrer Freude überrascht zu sein, Aret zu sehen. Immer wieder fassten sie ihn an Schulter oder Knie an, als wollten sie sich vergewissern, dass er wirklich vor ihnen saß. Als Aret Milias fragende Blicke bemerkte, erklärte er:
„Sie dachten ich wäre tot. Wenn sie mich berühren können, sind sie sich sicher, dass ich kein böser Geist bin, der sie täuschen möchte.“
Milia nickte langsam. Es waren zu viele Fragen in ihrem Kopf, angefangen bei den fremden Männern, in deren Lager sie aufgenommen wurden, bis hin zu Ebo und seiner Rolle bei ihrer Entführung.
Milia wurde von Aret unsanft aus dem Schlaf gerissen. Ein starker Wind zerrte an ihrem Zelt, das ihr ganz alleine zur Verfügung stand. Sie hörte Kamele unruhig schreien. Das Licht war diffus, so als wollte die Sonne langsam aufgehen, würde aber von einem Tuch verdeckt werden.
„Was geht hier vor“, fragte Milia schlaftrunken, als Aret Ebo zu ihr ins Zelt führte und den Eingang sorgfältig von innen verschloss. Die Augen und Hände von Milias ehemaligen Sklaven waren noch immer verbunden.
„Ein Habub zieht auf“, erklärte Aret, als er Milia dabei half, den Turban umzulegen und peinlich genau darauf achtete, dass ihr Mund und ihre Nase gut bedeckt waren.
„Was ist ein Habub?“ Das Getöse wurde immer lauter, sodass Milia beinahe schrie.
Aret überlegte kurz. „Ein Sandsturm. Der starke Wind wirbelt den Sand auf.“
Vor dem Zelt schrien die Kamele und auch menschliche Stimmen mischten sich darunter, die versuchten, die Tiere zu beruhigen. Als Aret bemerkte, dass Milia sich Sorgen machte, erklärte er: „Den Kamelen geschieht nichts. Sie müssen nur festgebunden werden, damit sie nicht weglaufen.“
Der Lärm wurde immer stärker. Dunkelheit brach herein, obwohl es Zeit für die Morgendämmerung war. Sand drang durch alle Ritzen des Zeltes und gelangte in Milias Augen. Sofort versuchte sie, ihn wegzublinzeln, doch es half nichts. Schließlich schloss sie die Augen und zog ihren Turban über sie. Der Wind riss an dem Zelt, als wollte er es jeden Moment mit sich in die Dunkelheit zerren. Ängstlich griff sie nach ihren Entführern. Aret zog sie schützend an sich, sodass ihr Gesicht an seiner Brust lag. Ebo drängte von der anderen Seite an Milia, sodass sie, geschützt von beiden Körpern, auf ihren Knien kauerte.
Sie konnte nicht schätzen, wie lange der Sandsturm dauerte. Es kam ihr endlos vor. Nach einiger Zeit hörte sie Donnergrollen. Ein Gewitter schien die Massen an Sand zu begleiten. Die junge Atlanterin drückte sich vor Angst nur noch fester an Aret.
Dann war es endlich vorbei.
Der Wind wurde schwächer und die Helligkeit kehrte zurück. Langsam zog sich Milia ihren Turban vom Gesicht, um wieder frei atmen zu können. Über allem lag eine feine Schicht aus Sand. Als Aret aus dem Zelt ging und Ebo mit sich führte, sah Milia, dass sich ganze Sanddünen bewegt hatten. Der Sonne nach zu urteilen hatte der Sturm einige Stunden gedauert. Die anderen Männer begannen, das Lager abzubauen und sich um die Kamele zu kümmern. Milia bekam etwas Milch und Brot zu essen, dann musste auch sie wieder in den Sattel steigen.
Sie zogen weiter in die Wüste. Ebo war auf sein Kamel gefesselt worden, die Augen noch immer verbunden. Immer wenn es Zeit war, etwas Wasser zu trinken, bekam Milia es als erste, Ebo als letzter. Sie begann zu begreifen, dass ihr eigener Wert um ein vielfaches höher war als der des schwarzen Hünen. Und obwohl es in Atlantis genauso gewesen war, empfand sie es in der Wüste als eine unendliche Ungerechtigkeit.
Während der gesamten Reise verbargen die Männer ihre Gesichter hinter ihren Schleiern. Auch Aret nahm ihn nicht mehr ab, jedenfalls nicht vor Milia. Die Gegenwart seiner Freunde schien ihm gut zu tun, hin und wieder lachte er. Ebo hingegen sank immer mehr in sich zusammen. Er war erschöpft von der Reise und seinen Verletzungen, die er sich beim Untergang von Atlantis zugezogen hatte. Dass er gefesselt war und nichts sah, verschlechterte seinen Zustand noch.
Am Morgen des vierten Tages waren die Männer sehr aufgeregt. Sie ritten früher los als sonst und waren verhältnismäßig ausgelassen. Drei hatten ihre sandfarbenen Turbane und Überwurfe gegen nachtblaue Stoffe getauscht, darunter auch Aret. Milia fragte sich, wie sie darin die Hitze der Sonne aushielten.
Auf einmal tauchte eine Stadt vor ihnen auf.
Teilweise in Stein gehauen schlängelte sie sich einen Berg empor, als wäre sie aus ihm heraus gewachsen. Mächtige Mauern umschlossen die engen Gassen, verschachtelten Häuser und kleinen Freiplätze, sodass Milia ahnte, wie schwer diese Stadt von einem Feind einzunehmen wäre. Weit oben thronte, von einem weiteren Schutzwall aus Stein umgeben, ein Palastkomplex. Ehrerbietig strahlte die Stadt trotz aller Widrigkeiten der Wüste eine Stärkte und Macht aus, die Milia erschaudern ließ.
Das also war ihr Ziel.
Als sie durch das massive Tor ritten, brach ein unfassbarer Lärm los. Überall riefen Menschen in verschiedenen Sprachen – meistens arabisch – Sätze und Namen hin und her, Kinder liefen jauchzend zwischen den Kamelen und alle Bewohner der Stadt schienen sich zu versammeln, um sie willkommen zu heißen.
Nach den langen und stillen Tagen in der Wüste wusste Milia nicht, wohin sie zuerst blicken, welchen Rufen sie zuerst Gehör schenken sollte. Alle Menschen waren in lange, von der Sonne ausgebleichten Gewänder gekleidet und trugen ebenso wie sie Turbane, die nur ihre Augen zeigten. Jedoch schien das nicht immer so zu sein, da vor allem die Frauen ihren Schleier mit der Hand hielten und es nicht so aussah, als wäre er für eine komplette Verschleierung gebunden.
Ein Schrei ertönte, danach rief eine alte Frau Arets Namen. Zitternd lief sie auf sein Kamel zu und streckte ihre dünnen Hände in die Höhe, die Aret sofort in seine nahm. Schluchzend sprach sie mit ihm, Milia glaubte, das Wort „Fara“ gehört zu haben. Als Aret den Kopf schüttelte, schrie die alte Frau erneut auf und sank auf ihre Knie. Einige Menschen scharten sich um sie, wollten sie trösten oder weinten mit ihr.
Auf einen Befehl hin legten die Kamele sich hin, sodass die Reiter absitzen konnten. Aret kniete sich sofort neben die alte Frau und sprach auf sie ein. Einer seiner Freunde kam zu Milia und half ihr aus dem Sattel. Die Bewohner der Stadt musterten sie neugierig. Ebo wurde unsanft gepackt, die Menschen schienen Angst vor ihm zu haben. Sie machten Zeichen, die Milia an die Gesten gegen den bösen Blick erinnerten. Einer der Männer rief nach Aret, der daraufhin von der Gruppe Abschied nahm, zu Ebo ging und ihn hinter sich her zog.
„Komm“, befahl er Milia knapp, als er neben ihr stand. Mit seiner Hand deutete er nach vorne, Richtung Palast. Dorthin waren seine Freunde aufgebrochen und Milia folgte ihnen gehorsam, dicht hinter sich Aret und Ebo.
Ihr Weg wurde von vielen neugierigen Menschen gesäumt, Kinder folgten ihnen einige Meter in sicherem Abstand. Manche Bewohner machten Schutzzeichen, als sie vorbeikamen, oder küssten ehrfurchtsvoll ein Amulett, das sie um ihren Hals trugen.
Ungehindert betraten sie den Palast. Allen schien der Weg bekannt zu sein, ihre Schritte waren sicher und unbefangen. In den langen Gängen und kleinen Innenhöfen herrschte eine überraschende Ruhe. Kühler Wind fuhr Milia immer wieder übers Gesicht. Und auch wenn nirgends unermessliche Kostbarkeiten ausgestellt waren und die filigranen Wandbemalungen schon ausblichen, fühlte sie, dass dies ein Ort voller Macht war.
Vor einer großen Tür aus dunklem Holz blieben sie stehen. Sie wurde von zwei Männern mit Speeren bewacht. Ihre Klingen waren sehr lang, sodass sie auch im Nahkampf großen Schaden anrichten konnten. Einer der Männer im nachtblauen Gewand trat zu den Wachen, nahm seinen Schleier ab und sprach ein paar Worte mit ihnen. Aret trat neben ihm und zeigte ebenfalls sein Gesicht. Die Wachen erschraken kurz, fassten sich aber schnell. Dann ging einer von ihnen durch die große Tür.
Aret wirkte nervös, als er zurück zu Milia ging.
„Worauf warten wir“, wollte sie wissen. Aus einem ihr unerfindlichem Grund flüsterte sie, als ob dieser Ort keine lauten Worte ertrug.
„Auf Einlass“, antwortete Aret knapp.
„Und dann?“
Ihr Entführer zögerte. „Das wird sich zeigen.“
Die schwere Tür öffnete sich, der Wachmann kam heraus. Stumm blickte er zu Aret und winkte ihn hinein. Er griff Ebo am Arm und führte Milia mit der anderen Hand am Rücken durch die große Tür. Laut schloss sie sich hinter ihnen.
Der Raum war sehr groß. Links von ihnen waren die großen Fenster nur von leichten Vorhängen verdeckt, die sanft im Wind tanzten. Den Geräuschen nach zu urteilen zeigten sie in Richtung Stadt. An einer Seite stand ein langer Tisch, jedoch war er so niedrig, dass man sich mit Kissen auf den Boden setzen musste, um davon zu essen. Vor ihnen stand auf einer kleinen Erhöhung ein Thron, herrlich verziert und aus kostbaren Materialien. Darauf saß ein Mann, gekleidet in ein schlichtes langes Gewand und einen Turban, der bis auf seine Augen, die gespannt auf die Eintretenden gerichtet waren, sein gesamtes Gesicht verschleierte. Neben ihm stand, ebenso gekleidet, ein weiterer Mann, vermutlich jünger. Hinter dem Thron entdeckte Milia weitere Wachen.
Aret trat nun an Ebo und Milia vorbei und verbeugte sich vor den Männern. Dabei berührte er mit seiner rechten Hand erst seine Stirn, dann seinen Mund, danach sein Herz und schließlich legte er sie flach vor sich auf den Boden.
Eine beängstigende Stille herrschte.
Ebo begann zu zittern. Für ihn musste es besonders furchteinflößend sein, ohne Erklärung nicht sehen zu können, was vor sich ging. Milia trat einen Schritt auf ihn zu und legte ihre Hand beruhigend auf seinen Arm.
Die beiden Männer am Thron blickten noch immer auf Aret. Schließlich sprach der Ältere. Milia konnte nicht verstehen, was er sagte, aber seine Stimme war angenehm sanft und kraftvoll. Aret erhob sich vom Boden, kam etwas näher und sprach mit ihm. Nach einigen Sätzen stand der Mann von dem Thron auf, ging ruhig an Aret vorbei und blieb dann vor Milia stehen. Er blickte ihr geradewegs in die Augen.
„Seid willkommen, Aimilia, Tochter des Periandros, Schwester des Alexandros und Verlobte des Charilaos. Ich möchte mich entschuldigen für die entbehrungsvolle Reise, die hinter Euch liegt.“ Er sprach mit einem leichten Akzent, doch voller Freundlichkeit. Milia betrachtete ihn skeptisch.
„Wer seid ihr?“ Es war unhöflich, so direkt zu sein. Doch anstatt sie zu tadeln, lächelte der Mann vor ihr nur, was sie an den entstehenden Lachfalten am Auge erkannte.
„Wie ich sehe, hat Aret sich in Schweigen gehüllt, was die Motive und das Ziel Eurer Reise angingen. Mein Name ist Schahanschah Ibrahim ibn Ahmad ibn Ridwan ibn Adil, ich bin der Herr über diese Festung in der Wüste.“ Er hielt kurz inne. „Doch für die Bewohner dieser Stadt, bin ich ein Beschützer, Versorger und ihr Schah.“
Milia war verwirrt. Was sollte sie hier? Und was wollte dieser Schah von ihr?
„Ich sehe, dass in Eurem Kopf viele Fragen sind, geschätzte Aimilia“, fuhr der Schah vor. „Habt keine Angst, ihr bekommt Antworten auf sie alle. Aber nicht jetzt.“ Er sagte ein paar Worte zu einer der Wachen, die daraufhin verschwand.
Der Schah wandte sich Ebo zu. Skeptisch musterte er ihn, während er Aret mit einer Handbewegung herbeiholte, der dem Hünen die Augenbinde abnahm. Nicht mehr an das Licht gewöhnt, blinzelte Ebo überrascht. Der Schah ging langsam um ihn herum, dann sagte er etwas zu Aret. Daraufhin griff er nach dem Amulett, dass Ebo trug und von Fara bekommen hatte. Vorsichtig wiegte der Schah es zwischen seinen Fingern. Sie waren schlank und kraftvoll.
Eine Seitentür außerhalb Milias Blickfeld öffnete sich und die Wache kam zurück, neben sich eine schmächtige Frau mittleren Alters, in einfache Kleider gehüllt, die ihr Gesicht hinter einem Tuch verbarg und eine schlichte Schale aus Ton trug. Wasser befand sich darin. Doch als sie Aret sah, entwich ihrer Kehle ein Schrei und sie lief freudig auf ihn zu. Dabei hatte sie ihren Schleier los gelassen und Milia sah ihr sanftes Gesicht, dessen Züge sie an die indischen Sklaven auf dem Markt in Atlantis erinnerten. Kurz bevor sie Aret berühren konnte, blieb sie ehrfurchtsvoll stehen. Ungläubige Freude stand in ihren braunen Augen. Auf dem Weg hatte sie einige Tropfen Wasser vergossen, die sich nun dunkel vom Boden abhoben.
„Das ist Rhani“, erklärte der Schah, woraufhin die Frau erschrocken ihr Gesicht verbarg und zu ihm trat. „Sie wird ab heute Eure Sklavin sein, solange Ihr uns mit Eurer Anwesenheit beglückt.“ Rhanis Haltung verspannte sich, sie blickte kurz zu Aret, dann auf den Boden. Milia wusste nicht wie ihr geschah. Eine Sklavin für sie? War sie nicht eine Gefangene? Doch der Schah behandelte sie eher wie einen Gast, auf dessen Ankunft man sich lange gefreut hatte.
Der Schah nickte Rhani zu, die Milia daraufhin die Tonschale hinhielt.
„Wascht Euch etwas, der Sand schadet Eurer empfindlichen Haut.“ Nach diesen Worten wechselte der Schah wieder ins Arabische und sprach weiter mit Aret, der respektvoll antwortete. Milia blickte auf die klare Oberfläche des Wassers, dann zu Ebo neben ihr. Wann hatte er das letzte Mal etwas getrunken? Kurzentschlossen nahm sie mit ihren Händen etwas von der kühlen Flüssigkeit auf und führte sie an Ebos Mund, der dankbar davon trank. Rhanis Augen weiteten sich vor Schreck und Milia blickte kurz zu dem Schah und Aret, die sie beide stumm musterten. Doch sie hielt ihren Blicken trotzig stand. Auch wenn sie sich nicht um Ebo kümmern wollten, sie würde sich nicht ihr Gesicht waschen wenn er neben ihr fast verdurstete.
Schließlich wandte sich der Schah wieder Aret zu und sprach weiter leise mit ihm. Ebo wiederum signalisierte, genug getrunken zu haben, weshalb Milia nun begann, sich mit dem Wasser vorsichtig ihr Gesicht zu waschen.
Dann kam der Schah ruhig zu ihr. „Wir werden nun auf den Balkon gehen. Dort werde ich einige Worte an die Bewohner richten. Mein Sohn Atif wird für Euch übersetzen.“ Er zeigte auf den jungen Mann, der neben dem Thron gestanden hatte und nun näher herantrat. Er nickte Milia zu. Auch wenn der Schah freundlich gesprochen hatte, war klar, dass er keinen Widerspruch duldete. Weder von Milia, noch von seinem Sohn.
Dann führte der Schah sie durch eines der bodentiefen Fenster auf einen großen Balkon, der tatsächlich über die gesamte Stadt zu ragen schien. Überall standen Menschen, die erwartungsvoll zu ihnen hinauf blickten. Milia wurde schwindlig von dem Ausblick. Sie stand zwischen dem Schah und seinem Sohn Atif. Zur Linken des Schahs standen Aret und Ebo. Die Bewohner der Stadt warteten gespannt auf die Ansprache ihres Herrn. Selbst der Wind schien zum Stillstand gekommen zu sein, um durch keinen Laut seine Worte zu übertönen.