Читать книгу Aurora Sea - Nadine Stenglein - Страница 11

Das Buch

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Am nächsten Abend klingelte Mel bei uns. Sie war richtig außer Puste. Das Wetter hatte umgeschlagen, es nieselte leicht. Ein paar Strähnen ihres feuchten Haares hingen ihr in die Stirn. Sie war so aufgewühlt, dass sie nicht einmal mein „Hallo“ erwiderte.

„Es lag am Strand, in der Nähe eines Felsens“, keuchte sie und holte Luft.

Ich verstand nicht, was sie meinte. „Komm erst einmal rein.“

Sie folgte mir in die Küche und zog währenddessen etwas unter ihrer Jacke hervor. Es war ein Büchlein, halb so groß wie eine DIN-A-4 Seite, das einen ledernen dunkelblauen Einband besaß. In seiner Mitte prangte ein eingeritztes „L“. Mit zittrigen Fingern hielt Mel mir das Büchlein entgegen. Eisige Kälte durchflutete mich, während ich ihr es abnahm und darin zu blättern begann.

„Sagte Sören nicht, dass er einen Avarthos am Strand gesehen hat? Wahrscheinlich hat der die Zeichnungen gemacht“, schlussfolgerte Mel und ließ sich auf einen der Küchenstühle nieder.

Ich musste ihr recht geben. „Jamie ist auch sicher, dass es einer der jungen Avarthos war.“

Die erste Zeichnung zeigte das Meer bei Sturmgang. Für mich war sie noch ein Tick besser als Evenfalls Version. Die Wellen wirkten lebendig, so als wollten sie jeden Moment über den Seitenrand hinausschwappen und uns mit sich reißen. Die Erinnerungen, die mich dabei überkamen, ließen mein Herz rasen.

„Blätter weiter. Die Zeichnungen sind super gut gelungen, aber ich finde sie dennoch gruselig“, bemerkte Mel. Auf der Folgeseite erkannte ich das Gesicht eines Avarthos, das von den Zügen her Evenfalls glich, nur dass es älter wirkte.

„Man könnte meinen, es sei …“, sagte Mel, brach ab und musste husten.

„Du meinst, es könnte Evenfalls Vater sein?“

Sie nickte und holte abermals Luft. „Sorry, ich bin bis hierher durchgerannt. Das bin ich nicht mehr gewöhnt.“

Ich blätterte weiter und stockte. Eine weitere Zeichnung zeigte Evenfall in Gefangenschaft. Eingerahmt wurde die Zeichnung mit einem Herz, das im Dunkeln lag.

„Seltsam, oder? Glaubst du wirklich, das würde ein junger Avarthos aus Freude oder Genugtuung malen?“, fragte Mel.

Ich konnte nicht antworten, meine Kehle war wie zugeschnürt. Am unteren Rand der gegenüberliegenden Seite, entdeckten wir eine weitere, wenn auch winzige Zeichnung von einem Schlüssel.

„Weiter hab ich auch noch nicht geblättert“, flüsterte Mel, als würde uns jemand zuhören. Der Wind blies die Hintertür ins Schloss und ließ uns beide hochschrecken. Ich legte die Seite um, ganz langsam, als wäre sie zerbrechlich.

Meine Augen weiteten sich. Wer war die unbekannte Avarthosfrau, die uns von der neuen Seite aus entgegenblickte? Auf ihren Lippen lag ein höhnischer Ausdruck. Langes welliges, rotes Haar umrahmte ihr Gesicht mit den hohen Wangenknochen.

Mel und ich tauschten Blicke. „Das hat doch etwas zu bedeuten“, sagte sie.

Ich überlegte fieberhaft, ob ich diese Frau schon einmal unter den Wesen gesehen hatte, konnte mich aber nicht erinnern. Mit Sicherheit wäre sie mir aufgefallen. Sie hatte etwas Herrisches und zugleich Edles an sich, das man mit Sicherheit nicht übersehen würde. Natürlich konnte es auch nur eine Traumzeichnung sein. Dennoch löste sie auch in mir ein mehr als ungutes Gefühl aus. Kurzerhand griff ich nach meinem Handy.

„Was hast du vor?“, wollte Mel wissen.

„Jamie“, erklärte ich nur und tippte eine Message.

Hallo, Jamie. Mel hat ein Buch am Strand gefunden, das seltsame Zeichnungen enthält. Bitte komm heute Nacht zum Steg. In Liebe, Emma. Ich schicke dir Fotos von den Zeichnungen mit.

Ich machte sogleich Fotos von den Zeichnungen, schickte sie meiner Nachricht hinterher und hoffte inständig, dass er sie erhalten würde. Denn manchmal funktionierte das Netz zwischen unseren Welten immer noch nicht.

„Da bin ich gespannt, was er davon hält“, meinte Mel.

„Ich kann nur hoffen, dass es wirklich bloß dumme Zeichnungen eines jungen Avarthos sind.“

„Und wenn nicht? Vielleicht ist doch noch heimlich jemand von den freien Avarthos auf Evenfalls Seite. Eine Verehrerin eventuell.“

Gebannt starrte ich auf mein Handy. „Mist!“, fluchte ich.

„Was ist?“

„Die Textnachricht ist durch, die Fotos aber nicht.“

„Vielleicht ist zu wenig Netz hier.“

Das konnte durchaus sein. Also gingen wir auf die Veranda, was allerdings auch nicht viel brachte, obwohl das Handy dort ein paar Balken mehr verzeichnete.

Gerade als wir wieder reingehen wollten, kamen Tilli und Georg von ihrem Einkauf zurück. Sein alter Karren quietschte gequält beim Überfahren einer kleinen Sandkuppe. Tilli winkte uns von der Beifahrerseite aus zu und stieg aus, sobald Georg angehalten hatte.

„Na, Kinder. Alles klar?“, fragte sie.

„Hoffentlich“, flüsterte Mel.

Ich stupste sie an. „Sag ihr nichts davon.“

Sie nickte und steckte das Buch, das ich ihr vorhin wiedergegeben hatte, unter ihre Jacke.

„Ja, alles gut!“, rief ich.

Georg und Tilli waren nicht allein. Sie hatten Sören dabei, der auf der Rückbank saß.

„Aussteigen, altes Haus, wir sind da“, bat ihn meine Tante und öffnete die Hintertür.

„Ich helfe beim Auspacken“, sagte ich. Mel folgte mir.

„Bring lieber den alten Schluckspecht ins Haus und gib ihm eine warme Decke“, meinte Tilli und seufzte, während Georg bereits zu ihr eilte und Sören aus dem Wagen half. Lallend setzte er seine Füße, die in olivgrünen Gummischuhen steckten, auf den sandigen Boden.

„Wo habt ihr ihn denn aufgegabelt?“, wollte ich wissen. Georg und ich stützten Sören, da dessen Beine ein wenig einknickten.

„In der Nähe von Tinnum. Er lag auf einem Dünenhügel und redete mit sich selbst.“

„N…n…ne…nein, ni… wahr“, presste Sören hervor und setzte einen Fuß vor den anderen, vielmehr schlurfte er. Er war zwar dünn, aber sein Gewicht war dennoch beachtlich. Mel half meiner Tante, die Einkaufssachen nach drinnen zu tragen.

Wir legten Sören auf der Couch ab, und ich hörte, wie Tilli zu Mel sagte: „Du gefällst mir aber gar nicht, Mädchen. Hoffentlich wirst du nicht krank.“

„Mit mir ist alles okay, Mathilda. Keine Sorge.“

„Ich mach euch allen einen starken schwarzen Tee mit einem Schuss Rum. Außer für Sören, der bekommt nur Tee.“

Sören protestierte und bekam danach einen gehörigen Schluckauf. Noch bevor der Tee fertig war, war er auf der Couch im Wohnzimmer eingeschlafen. Georg warf eine Decke über ihn und schüttelte den Kopf.

„Er hat wieder einen der Avarthos gesehen. Vielleicht hat er es sich in seinem Suff aber auch nur eingebildet.“

„Eine Avarthos“, korrigierte Tilli von der Küche aus. Mel ließ sich auf einen Sessel nieder und ich mich auf dessen Lehne.

„Ja, stimmt. Ein Weib. Sie soll eine rote, lange Mähne gehabt haben“, erwiderte Georg.

„Was? So wie in …“, brach es aus Mel heraus. Ich gab ihr einen kleinen Seitenhieb auf den Oberarm, was sie augenblicklich verstummen ließ.

Georg runzelte die Stirn. „Hm?“

„Nichts“, sagte ich schnell.

„Kommt, der Tee ist fertig. Lasst Sören seinen Rausch ausschlafen“, rief Tilli.

Auf dem Weg in die Küche fragte mich Mel leise: „Denkst du etwa das Gleiche wie ich?“

Erst als wir später allein waren, gab ich ihr eine konkrete Antwort auf ihre Frage. Nach dem gemeinsamen Tee hatten Mel und ich uns in mein Zimmer verzogen. Noch einmal betrachteten wir die Zeichnung der Avarthosfrau.

„Ich weiß nicht, was ich denken soll. Aber ich weiß, was ich tun werde“, erklärte ich dann.

Ich nahm das Handy und sah, dass Jamie mir eine Nachricht geschickt hatte, die Bilder aber nach wie vor im Netz des unendlichen Datenuniversums festhingen.

Hallo Emma, ich komme heute Nacht. Die Bilder erreichen mich leider nicht. Du kannst sie mir ja später zeigen. Ich habe keine Ahnung, wer solche Zeichnungen gemacht haben könnte. Ich höre mich deswegen um. Gegen 22 Uhr bin ich da.

„Er kommt“, rief ich und freute mich einerseits, ihn so bald wiedersehen zu können. Andererseits wühlte eine dunkle Furcht tiefe Gräben in mir, dass Evenfall außerhalb seines Gefängnisses doch noch Anhänger hatte, die einen neuen Sturm planten. Mel schien meine Gedanken zu erraten.

„Ich hoffe nur, dass sich alles zum Guten wenden wird“, flüsterte sie leise, als könnte sie, würde sie es zu laut aussprechen, böse Geister heraufbeschwören.

Die nachfolgenden Stunden vergingen im Schneckentempo. Georg hatte Sören inzwischen nach Hause gefahren und auch Mel mitgenommen. Ich versprach ihr, mich bei ihr zu melden, sobald ich mehr wusste.

Kurz vor 22 Uhr machte ich mich auf den Weg. Ich steckte mein Handy ein, zog meine kniehohen Gummistiefel an und warf mir eine Regenjacke über, da es draußen inzwischen stürmte. Das Geheule des Windes erinnerte an hungrige Wölfe.

„Wo willst du denn noch hin bei dem Sauwetter?“, fragte Tilli, die auf der Couch lag und fern sah.

„Ich schaue nur noch mal kurz nach dem Boot“, antwortete ich, was im Grunde ja auch stimmte. Von meinem Fenster aus konnte ich beobachten, wie der Wind die Plane, mit der es bedeckt war, herunterzog. Ich wollte sie wieder befestigen.

„Aber beeil dich. Die haben richtigen Sturmwind und Hagel gemeldet.“

„Ja, mach ich!“, rief ich im Hinauseilen.

Jamie kam, nachdem ich mit dem Abdecken der Aurora Sky fertig war. Bis zu den Knien watete ich zu ihm ins Wasser.

„Endlich!“, sagte ich und fiel ihm in die Arme. „Teilweise dachte ich schon, die Zeit wäre stehengeblieben.“

Jamie hielt mich fest. Unsere Lippen berührten sich, woraufhin mich ein wohliges Zittern durchfuhr, das sich von meinen Zehen bis zu den Haarspitzen und wieder zurück ausbreitete.

Es war so schade, dass wir uns nicht jeden Tag auf der Insel treffen konnten. Doch das klappte nur, wenn die energetische Strömung gut war, denn dann konnte sie emporgehoben werden. Dr. Sad hatte mir erklärt, dass es eben auch jene Strömung war, die durch ihr Energiefeld das Nordlicht auslöste.

Jamie ließ mich los und fragte nach dem Buch. Ich zog das Handy aus meiner Tasche und öffnete die Fotos. Nachdenklich betrachtete er sie.

„Kommt sie dir bekannt vor, Jamie?“

Die Anspannung, die sich sogleich auf ihn legte, war fast spürbar. „Nein, ich hab sie noch nie gesehen. Vielleicht ist es nur eine reine Fantasiezeichnung einer Avarthos.“

„Und was denkst du, bedeutet der Schlüssel?“

„Ja, seltsam ist es schon“, murmelte er und besah sich auch das Bildnis Evenfalls.

Er nahm sein Handy und bat mich, nochmals zu versuchen, ihm die Fotos zu übermitteln. Das tat ich. Dieses Mal klappte es ohne Probleme.

„Ich werde der Sache auf den Grund gehen und nachfragen, ob jemandem von den Avarthos die Zeichnung der Frau etwas sagt, beziehungsweise wem das Buch gehören könnte.“

Ich merkte, dass Jamie verzweifelt versuchte, vor mir ruhig zu wirken. Er zog mich enger als vorhin an sich, sodass kein Blatt mehr zwischen uns gepasst hätte. Ich wünschte mir, ich hätte ihn mit mir nehmen können, nach Hause zu Tante Tilli. Gemeinsam einschlafen, gemeinsam aufwachen.

Behutsam hauchte er mir einen Kuss auf den Scheitel. „Mach dir keine Sorgen, Emma.“ Ich nickte, auch wenn ich wusste, dass ich mir sehr wohl Sorgen machen würde. „Sobald ich etwas herausgefunden habe, melde ich mich bei dir“, fügte er hinzu und strich mir mit einer Hand durchs Haar.

Wind und Regen wurden stärker und peitschten mir ins Gesicht.

„Geh nach Hause. Denk an unsere Insel, an etwas Schönes. Es bringt nichts, wenn du dich nun verrückt machst. Es ist alles gut bewacht, und keinem von uns ist etwas aufgefallen, das Grund zur Sorge machen würde.“

Abermals nickte ich. „In Ordnung.“

Er küsste mich zum Abschied lange und zärtlich. Und immer, wenn er das tat, erschuf er damit um uns herum ein imaginäres Universum, in dem nur wir beide zu existieren schienen. Es fiel uns wieder verdammt schwer, uns voneinander zu trennen. Es bereitete mir jedes Mal Mühe, ihn wieder dem Meer zu überlassen.

„Grüß meine Eltern!“, rief ich ihm hinterher. Bevor er unter die Oberfläche des Wassers tauchte, hob er eine Hand, wohl auch zum Zeichen, dass er dies tun würde. Gleichsam mit meinem Bauch zog sich mein Herz zusammen. Auch ich hob die Hand zum Abschied, als könnte er es noch sehen.

Aurora Sea

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