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Der Absturz

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In der Nacht träumte ich von Haley. Der letzte Traum, in dem ich ihr begegnet war, war schon eine ganze Weile her, und ich hatte befürchtet, sie auch auf diesem Weg nie wiederzusehen.

Es hatte lange gedauert, bis ich einschlafen konnte. Jamie und ich hatten uns noch ein paar Emoticons geschickt. Manchmal brauchte es keine Worte, und hin und wieder schickte ich ihm auch Fotos von mir, aus meiner Kindheit oder von Ausflügen mit meinen Eltern. Wie er mir anvertraut hatte, hatten sie ihm schon einiges von mir erzählt, auch ein paar kleine Peinlichkeiten, die ihnen im Gegensatz zu mir als unwiderstehlich süße Ereignisse in Erinnerung geblieben waren.

Bei uns schien alles verdreht. Die Liebe hatte uns wie ein Blitz getroffen, so wie all die schrecklichen Begebenheiten und auch die Wunder, die sie bargen, und die uns eine hoffnungsvolle Brücke schufen, ohne die wir wohl untergegangen wären. Ich war und wollte dankbar sein für alle positiven Kleinigkeiten daraus.

Der Raum, in dem ich im Traum saß, erhellte sich, so als würde sich ein Theatervorhang öffnen. Ich erschrak, wenngleich ich Haley neben mir erkannte.

„Haley! Endlich bist du wieder da!“

Sie versuchte ein Lächeln. Ihr Gesicht war so bleich wie in den wenigen Tagen, in denen ich bei ihr sein durfte. Sogleich beschlich mich ein ungutes Gefühl. Was war los mit ihr? Ich ließ den Blick schweifen.

Wir befanden uns in einem Flugzeug. Ein paar Reihen hinter uns nahm gerade Jamie Platz, saß genau in meinem Blickfeld, wenn ich mich umdrehte. Das Motorengeräusch drang dumpf in meine Ohren, und auf einmal wurde mir klar, in welcher Maschine wir saßen. Eine ältere Dame ließ sich neben Jamie in den Sitz sinken und stöhnte leise auf. Jamie grüßte sie kurz und starrte dann durch das ovale Fenster hinaus in die Weite. Sofort wollte ich aufspringen und zu ihm gehen, doch Haley hielt mich energisch zurück und ich kam nicht dagegen an.

„Warum tust du das?“, fragte ich sie. Aber sie gab mir keine Antwort.

Eine der Stewardessen ging durch die Reihen und schaute nach dem Rechten. Sie trug ein Lächeln auf den rot geschminkten Lippen, das verschwand, sobald sie mich sah. Die Leute, die im Flugzeug saßen, waren voller Leben, Wünsche, Hoffnungen. Einige lachten laut, andere unterhielten sich, wieder andere waren in Bücher oder Zeitschriften vertieft, Kinder spielten. Ein kleines Mädchen rannte, ein rosa Jäckchen in den Händen haltend, den Gang entlang, gefolgt von einer Frau mittleren Alters. Nacheinander schoben sie sich an der zierlichen, blondhaarigen Stewardess vorbei.

„Warte, Zoe, nicht so schnell, sonst stolperst du wieder. Ich helf dir beim Umziehen!“, rief die Mutter dem Kind nach.

Plötzlich fiel mir ein, warum mir das Kind so bekannt vorkam. Es war die Kleine, die ich damals im Meer bei den Zellen gesehen hatte, in die die Avarthos uns sperren wollten.

Sie und ihre Mutter verschwanden aus meiner Sicht in der kleinen Toilettenkabine. Mein Herz hämmerte wie verrückt gegen meine Rippen, und für einen Moment wurde mir übel. Ich wusste, sie würden da drin sterben. Haley hielt mich noch immer fest.

„Ich muss zu ihm, Haley. Ich muss ihn warnen. Sie alle!“, sagte ich und wollte aufstehen, aber Haley schüttelte den Kopf. Dabei sah sie so zart aus wie ein Nebelhauch und doch so klar und lebendig.

Endlich sprach sie zu mir: „Es ist nur ein Traum, Emma. Ich weiß nicht, warum wir uns hier begegnen sollen. Aber ich weiß, dass du eine Frage hast. Das spüre ich. Das hier ist die Vergangenheit. Eine Wiederholung von längst Geschehenem. Wir können es nicht aufhalten, nicht verändern. Egal wie sehr du es auch willst und versuchst.“

Behutsam strich sie mir über die Wange, was mich wohl beruhigen sollte, doch es funktionierte nur ein Stück weit. Abwechselnd starrte ich zu ihr und zu Jamie, der mit einem Kugelschreiber in einen Block kritzelte.

„Ja, ich habe eine Frage“, flüsterte ich, ohne ihn aus den Augen zu lassen. Haley wollte gerade etwas sagen, da hörte ich, dass die Frau, die neben Jamie saß, ihn ansprach.

„Entschuldigen Sie, junger Mann. Schreiben Sie? Geschichten? Ich liebe Geschichten. Vielleicht wollen Sie mir daraus vorlesen, wenn Sie daran weitergeschrieben haben? Wir sind ja noch ein paar Stunden unterwegs. Wissen Sie, ich habe vergessen, mein Buch mitzunehmen, das ich gerade lese. Und etwas Ablenkung würde mir guttun. Ich leide nämlich unter enormer Flugangst.“

Jamie zögerte ein paar Sekunden mit einer Antwort. Dann sagte er: „Ich versuche einen passenden Text zu einer Melodie zu finden, die ich geschrieben habe. Der Song wird Haley heißen.“

Die Frau mit dem grauen kurzen Haar lächelte entzückt. „Oh, das ist schön, das wird Ihrer Freundin sicher gefallen.“

Er lachte leise. „Nein, nein. Ich hab keine Freundin. Haley ist meine Schwester. Sie ist alles, was ich noch habe. Es soll ein Versöhnungssong werden. Ich … Ich hab da gehörig etwas vergeigt. Dumme Worte … Aus Wut, Verzweiflung und Selbsthass. Ich glaub nur, es gibt keine guten Worte, die das, was ich sagte, zurücknehmen oder wiedergutmachen können.“

Ich blickte zu Haley, die mehrfach blinzelte, während sich Tränen in ihren Augen widerspiegelten. Langsam stand ich auf, und sie tat es mir nach. „Lass uns zu ihm gehen. Bitte!“, bat ich sie.

Haley überlegte ein paar Sekunden, gab dann aber meinem flehenden Blick nach. „Also gut, Emma. Ich geh vor.“ Sofort folgte ich ihr.

„Gott“, flüsterte ich, „er ist so nah.“

„Aber doch so weit weg von uns“, entgegnete Haley leise und blieb stehen, als die Frau das Gespräch mit Jamie weiterführte.

Die alte Dame tätschelte Jamies Hand. „Mein junger Freund, Musik ist stärker als jeder Hass und jede Waffe; sie kann alles bezwingen. Jeder Ton allein kann mehr sagen als tausend Worte. Wenn er das Herz trifft, kann alles passieren.“

„Meinen Sie?“, fragte Jamie und atmete tief ein und aus.

„Aber sicher! Sie haben es doch mit dem Herzen geschrieben. Sie wird merken, dass es Ihnen wirklich leidtut. Glauben Sie einer alten Seele.“ Die Frau zwinkerte ihm zu und brachte Jamie zum Lächeln. „Worauf spielen Sie es ihr denn vor?“

„Auf meiner Gitarre.“

„Ach, wie schön. Gitarre spielte mein Mann auch. Sein Vater hat es ihm beigebracht. Gott, das ist so lange her. Vielleicht haben wir nach der Landung ein wenig Zeit. Ich würde es gerne hören. Haben Sie das Instrument dabei?“

„Ja. Das Spielen hat mir mein Vater beigebracht. Er war Gitarrist in einer kleinen Band. Sie hatten ein paar Auftritte im Jahr. Das hat mich immer fasziniert. Es hat eine ganze Weile gedauert, bis ich das Spielen raushatte.“

Haley wischte sich eine Träne von der Wange. Sie schluchzte und lachte beinahe gleichzeitig. „Ja, es war grauenhaft. Ich war manchmal kurz davor, dich zu erwürgen. Aber dann konntest du es richtig gut, Brüderchen. Ich danke dir dafür, Jamie!“, flüsterte sie und legte ihm eine Hand auf die Schulter. Er reagierte nicht darauf, spürte es wohl nicht. Ich konnte den Blick nicht von ihm wenden.

Plötzlich durchzog ein heftiger Ruck den Innenraum, und ich hatte das Gefühl, der Boden unter meinen Füßen würde gleich wegbrechen. Einige Passagiere schrien auf, andere tuschelten wild durcheinander. Die Stewardess versuchte sofort, alle zu beruhigen. Ich sah ihr und ihren Kolleginnen an, dass sie sich und allen anderen etwas vormachten. Schließlich war es ihr Job, Ruhe zu bewahren. Bei Gott, ich bewunderte sie dafür, dass sie es schafften. Keiner der Passagiere schien ihnen ihre Angst anzumerken.

„Es passiert gleich“, hörte ich Haley sagen, die mir eine Hand reichte. Wir sahen uns in die Augen. „Sie müssen nicht ewig dort bleiben, Emma. Sie gehören nach Hause. Ich weiß nicht genau, aber irgendwie hab ich ein komisches Gefühl.“

„Ein komisches Gefühl? Warum?“, fragte ich. Ein erneutes Ruckeln erschütterte die Kabine.

„Gütiger Gott“, stammelte die Dame neben Jamie, der ganz bleich geworden war. Der Block rutschte ihm von den Beinen auf den Boden. Die Frau wollte sich erheben.

„Nein, bleiben Sie. Wir sollen angeschnallt bleiben!“, rief Jamie, als er es bemerkte, aber sie hörte nicht.

Wieder durchfuhr ein Ruck das Flugzeug, dieses Mal stärker als zuvor. Kurz darauf begann es zu wanken. Von Panik erfasst stand die Frau auf und versuchte im Gang voranzukommen. Jamie griff nach ihr, fasste aber ins Leere. Wie von einer unsichtbaren Hand wurde er zurück in den Sitz gedrückt, während die Dame stolperte und rücklings in den Gang fiel. Leute kreischten vor Angst, eine der Stewardessen eilte der Frau zur Hilfe.

Haley griff meinen Oberarm und drückte mich hastig neben Jamie in den Sitz. Er bemerkte es nicht einmal. Da verstand ich, dass ich nicht existent für ihn war, für niemanden hier, nur für Haley. Sie kniete sich neben mich und sprach mit mir, doch das Kreischen der Leute und dieses seltsame Rauschen, das von draußen in den Innenraum drang, machten es mir unmöglich, sie zu verstehen. Seltsamerweise konnte ich jedoch hören, was Jamie sagte: „Verdammt! Was ist das denn?“

Er blickte aus dem Fenster, und ich tat es ihm nach. Unter uns sah ich den Atlantik, in dem sich eine Art Auge bildete, welches sich spiralförmig drehte. Was um alles in der Welt passierte da? Die Leute gerieten in Panik und kreischten durcheinander.

„Wir sinken! Wir stürzen ab!“, schrie eine Frau.

Ein Mann in unmittelbarer Nähe brüllte: „Wir werden ins Meer stürzen, ja, wir stürzen ab. Gott steh uns bei!“

„Wir sterben!“, rief ein weiterer Mann und drückte seine Freundin fest an sich, die zu weinen begann.

Jamie schloss die Augen. „Haley“, flüsterte er. Ich spürte, dass mein Magen krampfte und schmiegte mich an ihn. Ich konnte seinen schnellen Herzschlag spüren, seine Angst.

Ich versuchte den Kopf in Haleys Richtung zu drehen, was mir nicht gelang. Meine Frage, sie hatte sie mir noch nicht beantwortet. Ich wusste, dass die Antwort wichtig war. In all dem Trubel hatten wir den Faden verloren. Mein Körper erzitterte, die Umgebung drehte sich.

„Haley? Haley!“ Ich konnte meine eigene Stimme nicht hören, spürte nur, dass Jamie mich fest an sich drückte. Er nahm mich also wahr. Schweiß durchdrang meine Kleidung, ich prallte auf etwas Hartes und erwachte im selben Moment.

Ein paar Sekunden später fand ich mich neben dem Bett wieder, das Shirt, das ich trug, feucht vor Schweiß. Benommen stand ich auf und wankte ins Bad, wo ich mir kaltes Wasser ins Gesicht spritzte und nach Luft schnappte wie eine Ertrinkende. Meine Gefühle fuhren Achterbahn.

Noch immer spürte ich die scharfen Kanten der Traumsplitter, die an meiner Seele wetzten und in mir wühlten. Gleich einer Diashow, blitzten die Bilder des Traumes vor meinem inneren Auge auf. Ein leichtes Beben erschütterte meinen Körper, als ich an den Sog dachte, der die Maschine nach unten gezogen hatte, direkt auf seinen Schlund zu, der nur darauf wartete, die Seelen zu verschlingen, die sich voller Angst und ohne Chance ihrem Schicksal ergeben mussten.

Ich sah Jamie vor mir und Haley, die mir noch etwas sagen wollte. Wie schon im Traum fragte ich mich, was es war. Sie hatte bestätigt, dass die Seelen nicht ewig im Meer bleiben mussten und dass sie sich Sorgen machte.

Ich kroch ins Bett zurück und versuchte, sogleich wieder einzuschlafen, in der Hoffnung, Haley würde mir noch einmal im Traum begegnen und eine Antwort geben. Doch mein innerer Aufruhr hielt mich noch eine ganze Weile wach, bevor ich wegdämmerte. Statt von Haley träumte ich von dem Boot, das Georg mir versprochen hatte. Verzweifelt versuchte ich, darin zur Koralleninsel zu rudern, aber die Wellen trieben mich immer wieder zurück. An meinen nackten Füßen spürte ich die Kälte des Wassers. Ein Leck! Vom Strand aus hörte ich Georg rufen. Er hatte vergessen, mir zu sagen, dass er ein Stück Holz entnommen hatte, um Tillis Veranda endgültig zu stopfen. Das Versprechen, das sie ihm gab, wenn er es gleich erledigte, brachte ihn völlig aus dem Konzept. Nun ja. Gefühlt wartete er schon eine Ewigkeit auf einen Kuss von Tante Tilli, weshalb ich es ihm nicht krummnehmen konnte.

Als ich erwachte, musste ich darüber lachen, denn aller Wahrscheinlichkeit nach, würde Georg für ein solches Versprechen so einiges machen.

Mein erster Weg führte zum Fenster. Beim Anblick des Meeres kam mir der Traum des Absturzes in den Sinn. Als würde die Sonne meine Gedanken erraten, verschwand sie hinter einer gräulichen Wolkenbank. Ich öffnete das Fenster und atmete die würzige Luft, die der Wind in mein Zimmer trug, tief in meine Lungenflügel ein und langsam wieder aus.

„Was nur wolltest du mir noch sagen, Haley?“, fragte ich leise und blickte Richtung Himmel. Ein paar Sonnenstrahlen schafften es, sich durch die Wolkendecke zu bohren und die Umgebung in ein unwirkliches Licht zu tauchen. Kurzerhand schnappte ich mir mein Handy und schickte Jamie eine SMS.

Ich schicke dir ein paar Sonnenstrahlen und einen Guten-Morgen-Kuss übers Meer. Ich habe von dir geträumt. Erzähle ich dir nachher. Ist wirklich alles in Ordnung bei euch? Bis später, ich kann es kaum erwarten. In Liebe, deine Emma.

Sobald die Nachricht gesendet war, legte ich das Handy weg, zog mich aus und stieg in Windeseile unter die Dusche. Abwechselnd ließ ich heißes und kaltes Wasser über meinen Körper rieseln. Es half, um die letzten Traumfetzen abzuwaschen.

Ich zwang mich, positiv zu denken. Die Merbies hätten jegliche negative Veränderung mit ihrem Gesang mitgeteilt, und Jamie sowieso. Auch meine Eltern hatten gesagt, alles sei in bester Ordnung.

Nach der Dusche kehrte ich seufzend in mein Zimmer zurück und zog mir eine hautenge Bluejeans, eine rosa Bluse und eine weiße Strickjacke über. Kaum fertig, klingelte es an der Tür. Ich brauchte gar nicht zu fragen, wer es war, meine Vermutung bestätigte sich. Mit noch nassem Haar trat ich zu Georg nach draußen, dankbar für die Ablenkung.

„Morgen Deern, hast du schon im Meer gebadet?“, fragte er und zwinkerte mir zu.

Zur Begrüßung klopfte ich ihm freundschaftlich auf die Schulter. „Morgen, Seebär. Na, wie geht’s?“

Er zeigte hinter sich. „Fabelhaft. Dem da hinten musste ich erst Beine machen, aber kein Mitleid. Wer saufen kann, kann auch arbeiten.“

Sören winkte mir mit kleinen Augen von Georgs selbstgeschreinertem Boot entgegen und stützte dann, die Schultern hängend lassend, seinen Kopf mit den Händen.

„Geht es ihm etwas besser? Also, seelisch meine ich?“, wollte ich wissen.

„Wir haben lange geredet gestern, und ja, er begreift langsam, dass er wirklich nichts für Bens und Olles Tod kann. Aber den Avarthos traut er nach wie vor kein Stück. Keinem einzigen von ihnen. Ich hatte da ja anfangs auch so meine Probleme, bis ihr mir ein paar der Guten vorgestellt habt. Also kann ich ihn gut verstehen. Ein Treffen kommt für ihn allerdings nicht infrage. Aber nun los, Deern. Die Bootseinweihung steht an. Wo ist Tilli?“

„Schon hier“, drang die Stimme meiner Tante aus der Küche zu uns. Sie schien erstaunlich guter Laune, obwohl sie eigentlich ein kleiner Morgenmuffel war. Vielleicht lag es aber auch an Georgs Anwesenheit, wenn sie das auch nie im Leben zugegeben hätte. Sie brachte einen Korb und eine Decke mit nach draußen.

Georg zog seine Kappe vom Kopf, verbeugte sich theatralisch vor ihr und flötete ein raues: „Guten Morgen, Sonnenschein.“

Sie nahm ihm die Kappe weg und zog sie ihm neckend über den Kopf. Wohl auch, um ihre Verlegenheit zu verbergen. Georg zwinkerte ihr zu. „Kindskopf“, erwiderte sie.

Die Sonne kämpfte sich wieder einen Weg durch die Wolken und senkte sich in einem hellen Schleier, der unsere Seelen aufatmen ließ, auf Sylt hinab. Das Rauschen des Meeres drang wie ein Schnurren an unsere Ohren.

„Herrlicher Morgen“, sagte Georg, wandte sich um und hielt uns seine Ellenbogen zum Einhängen hin, was wir nicht abschlugen. Je näher wir dem Boot kamen, desto schneller tanzte mir das Herz in der Brust.

„Was ist in dem Korb?“, wollte der Seebär wissen.

„Der ist voller Nervennahrung für alte Seebären und ihre besten Freunde. Gleich, aber nicht sofort.“

Georg spitzte die Lippen und lachte. „Bist eben ein Schatz, Tilli. Und das mit dem alt habe ich überhört.“

Ich wusste ja, dass Georg Boote bauen konnte, aber dieses hier war ihm wirklich besonders gelungen. Es hatte einen eleganten Körperbau, der karminrot lackiert war. Sören stand auf und begrüßte uns mit einem Handschlag und einem Brummen, das wohl „Morgen“ heißen sollte.

„Für dich hab ich gleich das Richtige“, sagte Tilli. Sie öffnete den Korb und zeigte auf eine Thermoskanne.

„Mit Schnaps?“, flüsterte Sören und schien auf einmal hellwach.

„Schwarzer Kaffee, Jung“, erwiderte Tilli und seufzte.

Sören winkte ab. „Nett gemeint, aber neee, danke, Mathilda.“

Ich gab Georg einen Kuss auf die Wange, löste mich von ihm und ging halb ums Boot herum.

„Wow, das ist … Spitzenklasse, Georg. Ich weiß gar nicht, wie ich dir danken soll“, strahlte ich, rannte zurück zu ihm und umarmte ihn. Das Boot war schöner als in meiner Vorstellung. Er drückte mich kurz an sich und klopfte mir auf die Schultern.

„Ich nenn dir jetzt ein paar technische Daten. Musst ja wissen, was du unterm Hintern hast. Also, es hat ein klassisch geklinkertes Unterschiff mit Mittelkiel. Dadurch liegt es perfekt und ruhig auf dem Wasser. Es kann bis zu 250 kg laden und ist dennoch absolut kentersicher. Ich habe es in der Doppelschalenbauweise gebaut, was es äußerst stabil macht. Selbst wenn es beschädigt wird, kannst du es durch den maximalen Auftrieb noch gut manövrieren. Wie du siehst, hat es auch zwei verzinkte Ruderdollen. Also, entweder benutzt du es als Ruderboot oder eben als Motorboot. Wie du magst.“

Hatte ich gerade richtig gehört? „Heißt das etwa, du hast … nee, oder?“

Georg grinste wie ein kleiner Junge, hob und senkte dabei die Brauen. „Motor ist zwar gebraucht, aber in top Zustand, Deern.“

Ich schlug die Hände vor den Mund. Er hatte sich solche Mühe gegeben, und das alles nur für mich.

„Das kann ich unmöglich annehmen“, flüsterte ich.

„Du musst sogar“, entgegnete Georg mit gespielt strenger Miene. Tilli nickte zustimmend.

„Außerdem schlepp ich das Ding garantiert nicht wieder zurück und lade es auf“, warf Sören ein, grinste nun aber wenigstens auch mal.

Meine Tante nahm mich an der Hand und führte mich um das Boot herum.

„Das Beste zum Schluss“, sagte sie und nickte Richtung Bootsseite. Ich folgte ihrem Blick und sah, dass Georg das Boot bereits getauft hatte. In weißer Schrift stand darauf ein Name geschrieben, der mir sogleich gefiel: Aurora Sky.

„Ich schwankte zwischen Sea und Sky. Aber schließlich ist es doch Sky geworden“, erzählte er.

Wow, ich war vollkommen überwältigt. „Ich liebe es, Georg. Es ist … wunderschön.“ Tränen stiegen mir in die Augen.

Tilli zog mich an sich. „Oh Schatz! Du hast es verdient.“

„Und wie“, erwiderte Georg.

Sören rieb sich mit einer Hand über die Kehle. „Hast du nicht vielleicht doch einen Schluck Goldwasser dabei, Tilli?“

Gleichzeitig verneinten Georg und Tilli. „Ich schlage vor, wir frühstücken nun erst einmal hier, und dann probieren wir das Boot aus“, überlegte Mathilda und warf Sören die Decke zu. „Na, komm schon. Kaffee oder Tee tut deiner Leber besser.“

Es war ein toller Morgen. Tatsächlich schafften es Georg, Tilli und auch Sören, meine mulmigen Gedanken von vorhin zu vertreiben, wenn auch nur für ein paar Stunden.

Ich konnte es noch gar nicht richtig glauben. Nun war ich tatsächlich stolze Besitzerin eines eigenen Bootes, in welchem ich mich frei, sicher und Jamie noch näher fühlte.

Aurora Sea

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