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Aurora Sea
ОглавлениеAurora Sea - Zwei Worte, die eine Geschichte bewahrten, eine Geschichte, so unglaublich, aber wahr. Eine Geschichte, die noch nicht zu Ende erzählt war und die ein Geheimnis barg, welches nur wenige Menschen kannten.
Verbunden mit einer Liebe, stärker als der Tod und bestimmt für die Ewigkeit.
Immer, wenn das Nordlicht über dem Meer am Firmament leuchtete, wusste ich, dass er da war und wir uns bald wiedersehen durften. Jamie! Die Liebe, die ich für ihn empfand, war nicht schwächer geworden, im Gegenteil. Früher hatte ich nie daran geglaubt, dass es sie wirklich gibt, diese magische Liebe auf den ersten Blick, und noch weniger, dass sie mich eines Tages treffen würde. Vielmehr hatte ich angenommen, ich würde wohl nie einen Mann finden.
Tante Tilli hatte gelacht, als ich ihr das damals erzählte, und gesagt: „Meine Güte, Kind, du bist noch so jung. Mach dir darüber keinen Kopf. Meist ist es so, dass er in dein Leben tritt, wenn du es am allerwenigsten erwartest.“ Und genauso war es.
Keiner der Jungs, denen ich vor Jamie begegnet war, hatte mich auch nur annähernd interessiert, während meine beste Freundin Melanie und andere Mädels, die ich auf Sylt kannte, bereits einige Erfahrungen in Sachen Liebe gemacht hatten. Bei Jamie hatte mich bereits das erste Foto, das ich von ihm gesehen hatte, berührt. Und unser erstes Treffen auf der Insel – ein einziger Blick, und ich war gefangen. Auf die schönste Weise, die ich mir vorstellen konnte. Schon seltsam. Verrückt, aber eben auch wunderschön.
Ich liebte seine Wärme, seine Zärtlichkeit, seine Augen. Das Blau in ihnen glich einem tiefen Ozean, in den ich so gerne eintauchte. Ich wollte die Seele, die sich unter seiner Oberfläche befand, von Anfang an näher kennenlernen. Was ich dort fand, war ein toter Junge, allerdings mit einem – und das meine ich symbolisch – lebendigen Herzen, das für das Gute schlug und schließlich auch für mich. Nur eines machte mir Sorgen.
Mit jedem Jahr, das verging, würde ich älter werden, während Jamie immer jung bleiben würde. Bei meinem letzten Besuch auf der Koralleninsel hatte er mir lächelnd erklärt, dass er mich auch dann noch lieben würde, wenn ich einmal faltig sein und graues Haar haben würde. Das war lieb von ihm, aber ehrlich gesagt eine schreckliche Vorstellung für mich. Unsere Insel – nur für diejenigen sichtbar, die mit dem Schicksal der Seelen, die nun das Meer ihr Zuhause nannten, in Berührung gekommen waren – war zu unserer gemeinsamen Heimat geworden.
„Der Glanz deiner Augen wird nie vergehen. Sie werden mich immer faszinieren. Darin werde ich dich immer so sehen, wie du jetzt bist. Eine Seele kann nicht altern, ihr Herz wird immer schlagen. Also, mach dir keine Sorgen. Ich liebe dich, wie du bist. Immer!“, waren seine Worte gewesen.
Ich öffnete mein Fenster, setzte mich auf die Fensterbank und atmete, meinen Gedanken weiter nachhängend, die würzig riechende Luft des Meeres ein. Ein sanfter Wind spielte mit meinem langen Haar. Am Horizont küsste die Sonne bereits den Saum des Meeres, und wieder einmal kam es mir vor, als würde ich dabei ein leises Zischen hören.
Ich saß nach wie vor gerne hier und schaute aufs Meer hinaus. Hier war ich all dem nahe, nach dem sich mein Herz sehnte. Meinen Eltern, Jamie, den Avarthos, all den anderen guten Seelen, dem Meer, das ich wieder zu lieben gelernt hatte, und nicht zu vergessen, den liebevollen und knuffigen Merbies. Ich lauschte und wünschte mir ihren Gesang herbei.
Bald müsste es wieder so weit sein. Ihre Stimmen waren für alle hörbar, die von dem Geheimnis wussten und ihr Herz öffneten. Seit damals waren ihre Lieder hell und fröhlich, was uns alle glücklich stimmte, denn es sagte uns, dass unter der Oberfläche des Meeres der neue Frieden anhielt und alles in Ordnung war.
Meine Gedanken hatten ihren eigenen Kopf und schweiften wieder in die Zukunft, ohne dass ich es wollte, denn eigentlich wäre es besser gewesen, wenn ich mich auf das Hier und Jetzt konzentriert hätte. Diesen Vorschlag von Dr. Morton hätte ich auch liebend gerne öfter umgesetzt. Aber diese eine Frage löste immer wieder einen Tornado in meinem Kopf aus, der alles durcheinanderwirbelte.
Was würde nach meinem Tod mit mir, meiner Seele geschehen, wo würde sie hingehen? Würde es mich in das Jenseits ziehen, in dem Haley weilte, oder aber durfte ich entscheiden und bei Jamie und meinen Eltern bleiben? Warum sie das Meer nicht verlassen konnten, wussten sie selbst nicht, empfanden es aber keineswegs mehr als unangenehm, jetzt, da wieder Frieden unter den Wellen herrschte.
„Emma? Komm doch mal bitte runter“, rief Tante Mathilda. In ihrer Stimme lag ein genervter Unterton. Ich warf dem Meer eine Kusshand zu und schloss das Fenster, bevor ich nach unten eilte. Von der Veranda aus hörte ich ein Hämmern. Georg flickte den Bretterboden, der durch die Flut einige Blessuren abbekommen hatte. Tilli war gerade dabei eine Fischsuppe aus Georgs frisch gefischtem Aal zu kochen, und der würzige Geruch waberte zu mir. Georg liebte ihre Fischsuppe.
Wir waren heilfroh, dass es dem Seebären wieder gut ging. Er war ganz bei Kräften, und auch Sören war wohlauf, was uns alle mehr als glücklich machte. Es war ein Wunder, dass das Koma bei ihm keine Spuren hinterlassen hatte.
„Sörens Leber wird ihm die Ruhewochen danken. Und es ist wohl auch das erste Mal in Georgs Leben gewesen, dass dessen Bärentatzen Zeit zum Erholen hatten. Sie sind geschmeidiger geworden“, hatte Tilli nach dem ersten Wachbesuch bei den beiden gesagt.
„Heißt das etwa, du und Georg, ihr habt Händchen gehalten?“, hatte ich sofort gefragt, was Tilli zuerst die Sprache verschlug. Sie wandte ihr Gesicht ab, dennoch hatte ich gesehen, dass ihre Wangen leicht erröteten. Also stimmte es, und das freute mich. Die beiden gehörten einfach zusammen, genau wie Jamie und ich.
Schon jetzt konnte ich unser Wiedersehen kaum erwarten. Ich wollte ihn ganz nah bei mir spüren. Seine weichen Lippen auf meinen, seine Hände, die mich zärtlich berührten, seinen Herzschlag an meiner Brust, vor allem die Wärme, die von ihm ausging und mich immer einhüllte wie eine warme Decke, wenn wir uns umarmten.
„Was ist?“, fragte ich meine Tante und lehnte mich, in Gedanken noch bei Jamie, gegen den Türrahmen. Tilli seufzte, zog den Holzlöffel aus dem Topf und zeigte damit Richtung Veranda.
„Der Holzkopf übernimmt sich schon wieder. Er keucht und hustet wie eine alte Robbe. Sag ihm bitte, dass es genug für heute ist und er sich noch schonen sollte. Meine Ratschläge diesbezüglich stoßen bei ihm auf taube Ohren.“
Ich fand es süß, dass sie sich so um Georg sorgte, wenngleich sie noch immer nicht zugeben wollte, dass sie mehr für ihn empfand. Irgendwie hatte ich das Gefühl, sie befürchtete nach wie vor, ihre Freiheit zu verlieren, die sie so liebte, wenn sie einen Mann gänzlich in ihr Leben ließ. Dabei wohnte Georg im Grunde schon so gut wie bei uns, und vor allem in ihrem Herzen.
„Aye, aye, Captain!“, erwiderte ich.
Georg kniete auf der Veranda und hämmerte gerade einen Nagel in ein Brett, als ich nach draußen trat. Frischer Wind blies mir entgegen und umtanzte ein wenig zischend Tillis Haus. Ich verschränkte die Arme vor der Brust und lehnte mich gegen das Geländer. Georg blickte auf und nickte mir lächelnd zu. Seine harten Gesichtszüge wurden weicher. „Na, Deern. Hat Tilli dich geschickt?“, fragte er. Er zog ein Stofftaschentuch aus seiner Kutte und schnäuzte sich geräuschvoll.
„Ich glaube, sie hat recht, du solltest dich noch schonen. Wir machen uns nur Sorgen, Georg“, bemerkte ich. Der raue Nordwind blies mir ein paar Haarsträhnen vor die Augen und ließ sie tänzeln. Ich schüttelte den Kopf und manövrierte sie so wieder hinter meine Schultern. Dabei sah ich, dass Sören auf dem Weg zu uns war.
„Ich brauche das, Deern. Ich war zu lange weg. Das ist Medizin für mich. Glaube mir und begrab deine Sorgen ruhig“, entgegnete Georg auf meine Worte hin. Das hätte ich zu gern.
„Sören kommt“, sagte ich, was ihn sofort innehalten ließ. Er stand auf, kniff die Augen zusammen und blickte mit mir zusammen in dessen Richtung. Seinem schnellen Schritt nach brannte Sören etwas auf dem Herzen. Georg gesellte sich neben mich und legte einen Arm um meine Schultern.
„Ich dachte, er wollte ein paar Tage wegfahren“, brummte er und winkte seinem Fischerkumpel. Sören erwiderte den Gruß nickend und legte noch einen Zahn zu. „Du hättest dir eine Jacke überziehen sollen, Emma. So ist es viel zu kalt. Es scheint bald Regen zu geben. Das sind berechtigte Sorgen“, bemerkte Georg, der seine Jacke jedoch selbst ausgezogen und über das Geländer der Veranda geworfen hatte. Trotz der Kälte perlte Schweiß auf seiner Stirn.
Als hätte Tilli ihn gehört, kam sie heraus und reichte mir ihre weiße Strickweste. Meine Mutter hatte sie vor Jahren gestrickt und ihr geschenkt.
„Wollt ihr beide krank werden?“, fragte Tilli mit liebevoller Strenge.
Zeitgleich mussten Georg und ich lachen, was sie mit einem Stirnrunzeln quittierte.
„Kannst du Gedanken lesen, Mathilda? Geradeeben habe ich ihr gesagt, sie soll sich eine Jacke holen“, sagte Georg.
„Nein! Aber ich habe einen klar denkenden Kopf auf den Schultern sitzen. Deiner scheint ja wieder der alte zu sein, voller Flausen. Du wirst unvernünftig, obwohl du genau weißt, dass der Arzt dir noch Ruhe verordnet hat. Eine halbe Stunde Arbeit pro Tag vorerst, mehr nicht. Schon wieder vergessen?“
Georg ging zu ihr und gab ihr einen Kuss auf die Wange, was sie augenblicklich ein Stück weit zurückweichen ließ. „Jetzt, wo du es sagst, erinnere ich mich vage, Tilli-Schatz. Danke für deine Fürsorglichkeit. Du bist die Beste“, erwiderte er.
Ich unterdrückte ein Kichern. Zwar war Georg früher auch schon keck, aber in Sachen Tilli nie so freizügig gewesen wie derzeit. Sie wirkte kurz verlegen, wollte etwas erwidern, aber Sören kam ihr zuvor.
„Ich habe eines gesehen!“, sagte er keuchend, stieg die Stufen zur Veranda hoch und stützte sich an einem der hölzernen Pfeiler ab. Sein Gesicht war bleich wie der Mond.
„Wen gesehen?“, fragten Tilli, Georg und ich gleichzeitig.
Sören sog scharf Luft ein und zeigte Richtung Meer. „Eines dieser Biester!“
Für einen Moment glaubte ich, jemand würde mir den Atem stehlen. „Du meinst … einen Avarthos?“, stammelte ich und riss die Augen auf, genau wie Tilli und Georg.
Sören nickte energisch. „Ich dachte, die haben versprochen, nicht mehr an Land aufzutauchen. Schon allein aus Selbstschutz. Ich sage euch was … denen ist nicht zu trauen. Das Ding war gestern am Strand.“ Er zeigte erneut zum Meer. „Seelenruhig hockte er dort. Es war zwar schon dämmrig, aber dennoch. Vielleicht verarschen sie uns nur und planen bereits den nächsten Angriff.“
Georg und ich tauschten verwunderte Blicke.
Die Avarthos waren sich untereinander einig, dass es besser war, in ihrer eigenen Welt zu bleiben, um keinerlei Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Aber natürlich gab es Jungspunde, die anderen und sich selbst etwas beweisen wollten und hin und wieder übermütig wurden. Das wusste ich von Jamie. Höchstwahrscheinlich war es einer von ihnen gewesen. Trotzdem, es war gefährlich. Was, wenn ihn jemand gesehen hätte, der nicht zu denen gehörte, die von den Avarthos wussten, und an den falschen Stellen plappern würde? Ich musste unbedingt mit Jamie darüber reden.
„Unsinn!“, entgegnete ich, und Georg stimmte mir zu. Tante Mathilda wirkte nachdenklich und sprach dann meine Gedanken aus.
„Das war sicher einer der jungen Avarthos. Die männliche Art ist da dann anscheinend nicht anders als unsere. Wollen die Mädels mit ihren Heldentaten beeindrucken. Aber du hast recht. Es ist gefährlich“, warf sie ein.
„Ich werde Jamie Bescheid geben, damit er mit den Avarthos redet und die Sache klärt“, versuchte ich vor allem Sören zu beruhigen.
Der schüttelte den Kopf. „Das ist kein Unsinn! Das sind hinterlistige Biester. Habt ihr schon vergessen, was sie unseren Kumpels angetan haben? Mann, der sah mich direkt an. Und ich könnte schwören, er zog eine Fratze. Das war nicht nett gemeint“, zischte er.
Georg stellte sich dicht zu Sören. „Bleib bei den Tatsachen, Jung.“
Sören zeigte sich weiterhin uneinsichtig und fixierte uns. „Ich sag euch, die führen uns an der Nase herum, und die armen Seelen da unten genauso. Ihr werdet schon sehen.“
Mathilda seufzte, als er kehrtmachte und davonging.
Georg rief ihm nach: „He, Kumpel, bleib doch! Lass uns noch ein bisschen schwatzen und …“
„Reisende soll man nicht aufhalten“, bemerkte Tilli laut und verschränkte die Arme. „Es ist sicher so, wie Emma sagt. Kommt rein! Sonst wird die Suppe kalt. Der beruhigt sich schon wieder.“
„Dieser Sturkopf … He, Tilli, nur noch das eine Brett“, bemerkte Georg, woraufhin meine Tante lediglich eine Braue hochzog. „Also gut, du hast gewonnen“, brummte er, was sie kurz grinsen ließ.
„Ihr seid beide Sturköpfe. Da lege ich lieber mal die Waffen nieder“, flüsterte Georg mir zu und zwinkerte.
Ich musste schmunzeln, obwohl mir danach gar nicht zumute war. Noch immer spukte mir im Kopf herum, was Sören gesagt hatte. Bevor ich ins Haus ging, warf ich noch einen Blick über die Schultern. Sören stand ein wenig gebeugt in der Nähe des Strandes und nahm ein paar Schlucke aus einer kleinen silbernen Flasche. Mich beschlich das Gefühl, dass er sie nicht mit Wasser oder Tee gefüllt hatte. Vielleicht hatte er sich den Avarthos auch nur eingebildet? Aus der Ferne konnten kleinere Felsen manchmal wie Menschen wirken, besonders, wenn man einen intus hatte. Am liebsten hätte ich noch einmal mit ihm geredet, aber an diesem Tag wäre der Versuch unter Garantie nach hinten losgegangen.