Читать книгу Aurora Sea - Nadine Stenglein - Страница 8

Mel

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Ich ging noch eine ganze Weile spazieren. Zwischen den Dünenhügeln wiegte der Wind die Halme der Gräser zu seinem rauschenden Gesang leicht hin und her. Jamie hatte sich noch einmal gemeldet.

Wie war das Treffen am Strand? Zu gerne wäre ich dabei gewesen. Aber sie brauchten mich leider hier. Miss you, Emma!

„Ich dich auch, sehr“, hauchte ich dem Wind entgegen.

Ich sehne mich nach deiner Wärme! Du bist mein Herz, Jamie, schrieb ich mit einem Gefühl, bei dem sich Vorfreude und Trauer vermischten.

Es war so schade, dass wir uns zwar gegenseitig Nachrichten schreiben, aber noch immer nicht miteinander telefonieren und auch keine Sprachnachrichten senden konnten. Es funktionierte einfach nicht, und wir hatten keine Ahnung, warum das so war. Vielleicht sollte es nicht sein.

Obwohl es ziemlich frisch war, legte ich mich zwischen zwei Dünenhügeln rücklings in den Sand und schloss die Augen, um einen Augenblick zu träumen. Ich sah Jamie direkt vor mir. Zusammen mit ein paar Avarthos hatte er vorgearbeitet und auf unserer Koralleninsel, wo sich vorher das gespenstische Labyrinth befand, palmenartige Gewächse und wunderschöne bunte Korallenblumen gepflanzt. In den Stunden, in denen ich bei ihm war, half ich immer mit. Es machte nicht nur mir großen Spaß, und wir waren jedes Mal stolz auf jeden Fortschritt. Nach einer Weile ließen uns die Avarthos allein, wohl ahnend, wie wichtig uns die Zweisamkeit war.

Mein Körper begann zu kribbeln, als würde das Blut in den Adern zu köcheln beginnen, wenn ich daran dachte, wie Jamie und ich im weichen Sand gelegen und unser erstes Mal erlebt hatten. Ganz langsam hatten wir uns gegenseitig unserer Kleidung entledigt und dabei immer wieder kurz verlegen auflachen müssen. Wir schmiegten unsere Körper eng umschlugen aneinander und küssten uns, wieder und wieder. Ich spürte die Wärme seines Körpers, obwohl das eigentlich unmöglich war.

„Du gibst mir das Gefühl, wieder lebendig zu sein. Ich spüre dich, jede Bewegung von dir, deine samtweiche Haut, deine Hitze, deinen rasenden Herzschlag. Es ist ein unsagbar schönes Geschenk, und es ist ein Wunder“, flüsterte er mir ins Ohr.

Wir lösten uns ein wenig voneinander und begannen uns zu streicheln. Jamie liebkoste meine Haut, auf der sich ein Feuerwerk entzündete, dessen Funken jeden Millimeter an mir prickeln ließen. Wir waren zwei Seelen, die sich bedingungslos liebten. Ich konnte mir nichts Schöneres vorstellen. Ich wollte ihn und er mich. So gaben wir uns hin und verschmolzen miteinander. Der Strand unter uns schien zu beben.

Selbst das Meer war aufgewühlt. Seine Wellen wurden langsam intensiver und drangen bis zu uns vor. Zärtlich umspülten sie unsere erhitzten Körper, während ich sie nicht nur äußerlich, sondern auch innerlich spüren konnte. Ich ließ mich treiben, bis mir die Ekstase beinahe den Atem nahm. Am Ende küsste mich Jamie noch einmal lange. Danach lagen wir einfach da und hielten uns fest, ohne etwas zu sagen.

Neben dem Gesang des Meeres gab es nur Jamies Atem, als wäre er wirklich am Leben. Solange seine Seele das war, war er das für mich auch. Eindeutig war das das wahre Wunder. Wir hatten die Grenze des Todes durch unsere Liebe überschritten. Ich hatte das Gefühl, dass er uns überhaupt nichts anhaben konnte.

Das Surren meines Handys holte mich aus meinen Träumen, ich öffnete die Augen. Eine neue Nachricht von Jamie. Jedes geschriebene Wort von ihm war gleich einer warmen Berührung, die mich sofort wieder mit Sehnsucht nach ihm erfüllte.

Genießt du den Frühling auf der Insel, meine Emma? Ich zähle die Sekunden bis morgen Nacht. Kuss, Kuss, Kuss. So viele, wie es Sterne am Himmel gibt. Ach ja. Ich habe noch eine kleine Überraschung für dich. Jetzt musst du kommen. Ich weiß doch, wie neugierig du bist. Ich hole dich ab.

Fast unbewusst musste ich lächeln und antwortete: Du weißt, du kriegst mich immer. Ich komme zum Strand, sobald ich das Nordlicht sehe. Bei Gott, ich bete, dass die Zeit bis dahin schnell vergeht. Am liebsten würde ich ja gleich und sofort zu dir kommen.

Sobald ich die Nachricht abgeschickt hatte, merkte ich, dass der Akku nicht mehr lange halten würde und schrieb meiner Tante, dass ich noch kurz bei Mel vorbeischauen würde. Es war zwar schon wirklich spät, aber Mel hatte mich vor dem Treffen angerufen und gefragt, ob ich nachher Zeit für sie hätte und bei ihr zu Hause vorbeikommen könnte. Sobald sie die Tür aufgezogen hatte, breitete sie die Arme aus und zog mich in eine Umarmung, als hätten wir uns schon seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen. Sie duftete nach Zuckerwatte, und ihr Haar schimmerte seidig und kitzelte mich im Gesicht.

„Schön, dass du kommst. Wie war es?“, fragte sie, ließ mich los und winkte mich nach drinnen.

Während ich ihr in die Küche folgte, erzählte ich ihr vom Treffen mit den Seelen und dem Gespräch mit Sören. Gespannt lauschte sie jedem meiner Worte. Sie nahm zwei Gläser aus einem der blauen Küchenschränke und schielte zu mir rüber.

„Vielleicht hat er sich das nur eingebildet. Alkohol kann Halluzinationen auslösen. Offensichtlich verfällt er dem wieder.“

Dass der Avarthos, den er gesehen hatte, nur Einbildung war, das hoffte ich allerdings auch.

Mel mixte uns einen Schokoshake und reichte mir ein Glas mit einer Haube aus Sahne, die sie zur Krönung noch mit bunten Streuseln bestreute. Wie sie sagte, trank sie abends gerne mal einen solchen Shake, wenn sie runterkommen wollte. Nervennahrung sozusagen. In ihrem Zimmer angekommen, setzten wir uns auf ihr schwarzes Metallbett, dessen Bettwäsche so giftgrün war wie Georgs frisch gestrichener Kutter. Der Fußboden war belagert mit Schminkartikeln, Klamotten und Büchern, was mich verwunderte. Nicht das Durcheinander, das war ich bereits von ihr gewohnt, vielmehr waren es die Bücher, denn Mel las selten in einem.

Auf dem Spiegel ihrer kleinen weißen Kommode stand mit rotem Lippenstift „Forever yours“ geschrieben. Mel folgte meinem Blick und lachte. „Björn!?“, sagten wir beinahe gleichzeitig. Mels Wangen färbten sich rot, und ein Glänzen schlich sich in ihre Augen, als würde sich ein Diamant darin spiegeln.

„Er war vorhin da. Meine Eltern sind unterwegs, Freunde besuchen“, erklärte sie und zupfte an ihrem pinken Shirt.

„Ach“, sagte ich lediglich.

Melanie verdrehte schmunzelnd die Augen, dann kicherten wir wie Kleinkinder. Vor etwas mehr als einem Monat hatte sie Björns Balzen endlich nachgegeben. Seitdem waren sie ein Paar und trotz manch kleiner Streitigkeit glücklich miteinander, was mich sehr für die beiden freute. Sie passten zusammen wie Deckel auf Eimer. Oder hieß es Deckel auf Topf? Egal.

„Verstehe. Ihr wart also so richtig eng miteinander“, neckte ich sie.

Mel rückte näher. „Ich sag dir, es war viel besser, als ich es mir vorgestellt habe. Björn war so einfühlsam. Er hat sogar ein bisschen gezittert. Er sagte, er hat Angst, dass er mir wehtun könnte. Süß, oder?“

Erstaunt blickte ich sie an. „Heißt das, es war dein erstes Mal?“ Damit hatte ich nicht gerechnet. Nicht, dass Mel mit jedem Typ, der ihr schöne Augen machte, ins Bett springen würde. So eine war sie nicht, aber eben schon mit etlichen Jungs zusammen gewesen. Und so wie sie sich immer angehört hatte, hatte sie mit diesen auch schon mehr als nur Küsschen getauscht. Ihr Blick verriet, dass sie sich ertappt fühlte.

„Na ja … Eigentlich … Nun ja. Ich hab dir ja mal von Tim Jacobs erzählt.“

„Ja, ich erinnere mich, dass du jedes Mal fast in Ohnmacht gefallen bist, wenn du ihn gesehen hast.“

„Idiotisch, nicht wahr? So kann man sich in jemandem täuschen. Mit ihm hätte ich … Du weißt schon. Also, es ist nicht so, dass ich nicht schon Gelegenheiten gehabt hätte. Nur das Problem an der Sache war, er wollte nichts außer das! Das hat er mir unmissverständlich klargemacht und dann auch noch gefragt: Deal or no Deal? Hallo!“

„Was? Deal or no Deal? Wie blöd ist das denn?“ Ich tippte mir an die Stirn. Da hätte er ja gleich auch einen Vertrag aufsetzen können.

„Eben. Gut, es war verlockend. Aber danach hätte er mich gegen irgendeine andere Tussi eingetauscht, wie er es bei Babs kürzlich getan hat, der Mistkerl. Ne, dafür bin ich mir zu schade. Die anderen waren auch nicht anders. Also … ja! Ich … ich wollte mich eben aufheben, für … den Richtigen.“

Wow! Mel dachte da also genauso wie ich. Nie im Leben hätte ich gedacht, dass sie noch Jungfrau war, geschweige denn, dass sie meine, für die meisten meines Alters altmodische Ansicht, teilte. Sie hatte immer nur ein bisschen geschmunzelt, wenn ich von dem Thema anfing.

„Sprich ruhig weiter. Für den Richtigen. Und bei Björn hast du das Gefühl?“

Sie stellte ihr Glas weg und schlug die Hände vors Gesicht. „Oh Mann, wie peinlich. Ja!“

„Wieso denn? Ich finde es toll. Ich sehe das doch genauso wie du. Du musst nicht immer Miss Cool spielen. He, ich bin es. Emma!“

Langsam ließ Mel ihre Hände vom Gesicht gleiten und umarmte mich stürmisch, als hätte ich ihr gerade ein Riesengeschenk gemacht.

„Tut mir leid, dass ich manchmal so eine Idiotin bin. Ich danke dir. Dafür, dass ich bei dir sein kann, wie ich wirklich bin. Das tut verdammt gut. Bei Björn geht das auch immer besser.“ Sie ließ sich rücklings aufs Bett sinken, und ich setzte mich neben sie. Ihr Brustkorb hob und senkte sich schnell, was mir zeigte, wie aufgewühlt sie innerlich war.

„Du bist und bleibst ein verrücktes Huhn, Melanie.“

Mel blies sich eine rote Strähne aus der Stirn und blickte mich mit leuchtenden Augen an.

„Bin froh, dass ich dich und Björn hab“, sagte sie ernst und lächelte dieses Lächeln, bei dem sich eine kleine Mulde in ihrer rechten Wange bildete, die ich so liebte.

„Das kann ich nur zurückgeben.“

„Wann siehst du Jamie wieder?“

Ich atmete tief durch, um das aufsteigende Kribbeln ein wenig unter Kontrolle zu halten. Es überfiel mich sogar, wenn jemand seinen Namen sagte. „Morgen Nacht. Auf unserer Insel. Ich kann es kaum abwarten.“

Mel seufzte. „Traumhaft und verrückt. Genau mein Ding. Meinst du, Björn und ich können mal mitkommen?“

Der Gedanke gefiel mir. Von mir aus jederzeit. „Ich kann ihn mal fragen.“

Melanie klatschte in die Hände. „Das wäre prima. Was sage ich - das wäre der Obermegahammer.“

Mein Blick fiel auf das Chaos in Mels Zimmer. „Sag bloß, deine neue Chefin hat dich mit ihrem Bücherfieber angesteckt?“, fragte ich und hob einen dicken Liebesroman auf, der griffbereit neben dem Bett lag.

Seit einer Weile arbeitete Mel in einem Buchladen in Tinnum, nachdem ihr kurz vor der Flut der Job als Verkäuferin in einem Warenladen gekündigt worden war. Wir glaubten noch immer, dass der Rauswurf an unserer Freundschaft lag, und daran, dass sie zudem öffentlich zu mir hielt. Nach der Katastrophe, die durch die Avarthos auf die Stadt und ihre unmittelbare Umgebung hereingebrochen war, wollte man die Kündigung allerdings wieder rückgängig machen. Etwas, das Mel jedoch sofort ablehnte. Der Knick, den ihr Stolz dadurch abbekam, war zu groß und saß zu tief, was ich verstehen konnte.

„Manche Geschichten sind ganz witzig, muss ich zugeben.“ Sie zwinkerte mir zu, und wir mussten beide lachen. „Und du? Wie läuft es im Blumenladen? Ich hab gehört, wie deine Chefin dich vor meiner Mutter gelobt hat. Deine Gestecke sind auch der Hit. Modern und zugleich voller poetischer Romantik. Das hat Mom gesagt. Mit einem Wort: Hip!“

Das freute mich. „Damit meint sie die kleinen Verse, welche ich auf alte Papierfetzen schreibe. Ich versenge die Spitzen immer ein wenig mit einem Feuerzeug. Das gibt einen interessanten Touch. Das Ganze binde ich in die Blumen mit ein. Es macht richtig Spaß. Ich hab mir das von Mom abgeschaut. Sie hat das immer total gerne gemacht.“ Ich dachte an ihre letzte Berührung und an den sanften Klang ihrer Stimme.

„Das ist toll, Emma.“ Mel legte eine Hand auf meine, wohl weil sie meinen wehmütigen Blick bemerkte. Schließlich verschränkten wir unsere Finger ineinander und starrten gemeinsam unseren Gedanken nachhängend Richtung Decke.

Manchmal braucht es keine Worte, manchmal sagt einem die Stille mehr. Man muss nur genau hinhören.

Das war der letzte Spruch, den ich inmitten eines Blumenherzens aus weißen Orchideen gesetzt hatte. Weiße Orchideen – meine absoluten Favoriten unter den Blumen. Ich liebte ihre Form und ihren Duft nach Honig, der sich in den Abendstunden intensivierte. Mel fand vor allem faszinierend, dass sie auf Männer aphrodisierend wirken konnten.

Was die Sprüche anging, so hatte ich das tatsächlich von Mom. Sie hatte sich früher gerne welche ausgedacht und in Blumenkränze eingeflochten. Eine Idee, die großen Anklang bei den Kunden fand. Als ich Kind war, war ich so gerne durch ihren kleinen Laden gerannt und hatte den Blumen Namen gegeben, was Mom oft zum Lachen brachte. Ich weiß noch, dass ich eine von ihnen Stinkstiefel getauft hatte. Sie roch echt streng, besaß aber wunderschöne, riesige violette Blüten, die mich an Schmetterlingsflügel erinnerten. Ich hatte dauernd das Gefühl, eine von ihnen würde sich gleich vom Stiel lösen und in die Lüfte schwingen. Mom bot diese Sorte einmal einer garstigen Nachbarin an, als diese sie hochnäsig nach einer Blume gefragt hatte, die „zu meinem Charakter passt“. Letztendlich hat Frau Watten sogar einen ganzen Strauß gekauft, weil ihr der Duft zusagte.

Es gab eigentlich keine Blumenart, die ich nicht mochte. Immer wenn ich an Moms Blumen zurückdachte, glaubte ich ihre Düfte, die sich mit dem süßlichen Parfüm vermischten, das Mom immer getragen hatte, in der Luft zu vernehmen.

Nach einer Weile verabschiedete ich mich von Mel und ging nach Hause. Es war bereits dunkel, als ich ankam. Bevor ich ins Haus ging, lauschte ich noch einmal den Wellen, aber die Merbies schwiegen. Zwischen bauschigen Wolken richtete der Mond seinen mächtigen Scheinwerfer aufs Meer, wo er beim Eintauchen Milliarden kleiner Diamanten gebar.

Tilli hatte mich vom Fenster aus gesehen. Sie gesellte sich zu mir und hängte mir eine Jacke um.

„Hi, Tante Tilli.“

Sie drückte mir einen Kuss auf den Scheitel und seufzte dann leise. „Georg hat Sören nach Hause gebracht.“

„Gut. Hat er noch was gesagt?“

„Er hat sich wieder betrunken, ließ sich einfach nicht davon abbringen. Georg erzählte, er hat geweint wie ein kleiner Junge. Das mit seinen Kumpels lässt ihn nicht ruhen. Ich fürchte, das wird ihn wohl das ganze Leben verfolgen. Ich wünschte, sie könnten wie die anderen mit ihm Kontakt aufnehmen. Ich denke, das würde ihm helfen.“

Ich nickte und legte einen Arm um Tilli. „Wenn ich nur einen Weg wüsste … Das Meer, es ist ruhig.“

Tilli bemerkte den sorgenvollen Unterton, der in meiner Stimme mitschwang, unsere Blicke trafen sich.

„Es geht ihnen gut, Kind. Es geht ihnen gut. Lass uns reingehen. Okay?“, flüsterte Tilli. Ich nickte leicht, und sie schenkte mir ein zuversichtliches Lächeln.

Aurora Sea

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