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3.

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Wir halten bei McDonald’s. Die Tourneeleitung findet das gut, weil es schnell geht und überall gleich schmeckt. »Überall gleich scheiße«, füge ich hinzu. Die Auswahl an vegetarischem Essen ist hier extrem begrenzt. Design und Geräuschkulisse sind unerträglich. Ich fühle mich jedes Mal wie ausgekotzt, wenn ich da rauskomme. Als hätte ich mich total gehen lassen. Eklig, aufgeschwemmt, übersatt und trotzdem noch immer hungrig. Ich würde lieber eine halbe Stunde eher losfahren und dafür an einer vernünftigen Pizzeria halten, wo man sich in Ruhe hinsetzen und einen Wein zum Essen bestellen kann. Ist das denn zu viel verlangt? Ist das etwa spießig, oder was?

Burger-Restaurants sind der reine Terror. Für die Gesundheit, für die Nerven. Ich beschließe, da nicht mehr reinzugehen, auch wenn ich das Wort »Boykott« nicht ausstehen kann. Zum ersten Mal habe ich es im Geschichtsunterricht in Verbindung mit dem 9. November 1938 gehört und seitdem ein gespaltenes Verhältnis dazu. Boykott erinnert mich außerdem an pubertären Aktionismus und gutmenschlerische Onanie. Aber egal wie man es nennt, ich versuche, es zu vermeiden, hier zu essen. Sollen die anderen sich doch ihren Scheißfraß holen, sind ja eh kaum noch Vegetarier an Bord. Alle eingeknickt, erst heimlich, dann ab und zu mal Fisch essen, und schließlich so richtig loslegen. Wie alle ehemaligen Vegetarier scheinen sie sich jetzt ausschließlich von Fleisch zu ernähren. Haben wohl einiges nachzuholen.

Sollen sie sich doch ihre schmierigen Fish- und Bigmäcs reinschieben, den pulvrigen Brei mit dickflüssigen Milkshakes runterspülen und sich als Dessert noch ein nur aus Zucker und Kälte bestehendes Eis hinterherzwängen. Ich gehe lieber mit Mario zur Tanke und kaufe mir eine Tüte Erdnussflips. Das ist nicht geil, kostet aber ein Zehntel, bei doppelter Nahrhaftigkeit.

Du willst euer neues Lied hören, das du bei der letzten Bandprobe auf Mini-Disc aufgenommen hast. Du musst es unbedingt laut hören, aber es ist schon spät. Aus Rücksicht gegenüber deiner Mitbewohnerin, die einen sozialen Beruf ausübt und morgen früh raus muss, hörst du es nicht über die Stereoanlage, sondern stopfst dir den MD-Player in die hintere Pyjamatasche und die Stöpsel in die Ohren. Ein guter Song, noch ohne Gesang, aber schon sehr mitreißend. Noch vorm ersten Refrain hast du deine Gitarre umhängen und stehst vor dem Spiegel. Je öfter und lauter du es hörst, desto besser siehst du dabei aus. Die Massen jubeln dir zu, du bewegst dich unheimlich cool und hast einen aggressiven Gesichtsausdruck drauf. In der Bridge, kurz vorm letzten Refrain, lächelst du einmal ganz leicht, das wirkt in diesem Zusammenhang ein bisschen irre, aber irgendwie auch süß. Auf einer Empore neben der Bühne entdeckst du vier oder fünf Mädchen, die du heiß findest, und bist dir sicher, dass keine von ihnen diesem Blick widerstehen kann!

Am Ende gibt es einen richtigen Showdown, eine derbe Steigerung, bei der die Gitarren heulen und kreischen, während Schlagzeug und Bass einen monotonen, lauter werdenden Beat spielen. Du wirbelst einmal um deine eigene Achse und denkst: »Boah, ich bin ein freshes Biest! Ich bin ganz schön …«

Du hast nicht bemerkt, wie der MD-Player aus der Hosentasche gerutscht ist, plötzlich reißt es dir die Stöpsel aus den Ohren und du hörst nur noch den Aufprall: ein großes BAZONG! Mit vielen kleinen SCHATENG!s hinterher. Die Batterieklappe ist aufgesprungen, die Batterie rausgekullert. Du willst sie wieder einlegen, aber die Klappe lässt sich nicht mehr schließen.

In Pyjamahose und T-Shirt sitzt du auf deinem Bett, die Gitarre auf den Knien, das Plektrum im Mund, und drückst und schiebst, aber die Klappe will einfach nicht einrasten. Du bist sehr ungeschickt in diesen Fummelarbeiten. Genau genommen bist du ungeschickt in allen Dingen, für die man Hände braucht. Aber schließlich erkennst sogar du das Problem. Ein kleiner Nippel vom Verschluss ist abgebrochen. Wird mit Batterie nicht mehr funktionieren, das Gerät.

Du könntest das Netzteil benutzen, dann allerdings nicht mehr dazu vor dem Spiegel rumposen. Du könntest das Lied über die Stereoanlage weiterhören, aber es ist spät, und die Dame nebenan hat doch diesen sozialen Beruf. Du könntest auch einfach ins Bett gehen.

Zum Einschlafen hörst du Pinback und ziehst dir die Decke ans Kinn. Nachdem alle zwölf Lieder durch sind und du die Augen noch keine Minute am Stück geschlossen hattest, stehst du auf, drückst auf Play, und hörst die CD nochmal. »I wish that you were here, we’d have a tea party to celebrate, drive a cop car into the lake, hold our breath for two long boring days«.

Zwischen Soundcheck und Auftritt ist noch Zeit, im Hotel einzuchecken und dort ein wenig abzuhängen. Wir wussten vorher nicht, dass das vermeintliche Hotel ein ehemaliges Studentenwohnheim ist. Es ist bereits dunkel, als wir dort ankommen. Ein riesiges Gelände, auf dem kaum noch Menschen wohnen. Eine Geisterstadt. Unheimlich. Überall werden hier im Osten jetzt Viertel wie dieses abgerissen. Ich habe heute in einer Tageszeitung, die im Bus rumflog, gelesen, dass zum Beispiel Hoyerswerda seit der Wende mehr als ein Drittel seiner Einwohner verloren hat. Ganze Vororte werden da abgerissen. Was muss das für ein deprimierendes Wohn- und Lebensgefühl sein, wenn um einen rum alles zusammenbricht, ausdörrt, den Bach runtergeht. Wenn alle nur weg wollen. Mir tun die Leute leid, die aus beruflichen oder familiären Gründen dort bleiben müssen. Sie haben vielleicht einen Job, den sie hassen, müssen aber im gleichen Moment froh sein, überhaupt einen zu haben. Müssen froh sein, sich morgens aus dem Bett zu quälen und etwas zu tun, das sie nicht tun möchten. Wie absurd. Wie schrecklich. Und ich weiß ja selbst, wie es ist, in einer Stadt zu wohnen, aus der alle abhauen, sobald sie können. Ich habe so viel Zeit dort verbracht, komplette Freundeskreise verloren, weil ich immer der Jüngste war, während meine älteren Freunde irgendwann wegzogen. Die, die blieben, versanken in Lethargie, Drogensucht oder bürgerlicher Zweisamkeit.

Die Zimmer sind karg, hässlich und gammelig. »Funktional« nennt man das auch verklärend. Der Teppichboden ist abgewetzt und staubig, eine nackte Glühbirne baumelt von der Decke. Die Nachttischlampe ist gelb von zu viel Rauch und zu viel Zeit. Die Vorhänge sind schwer, speckig und braun. Es gibt keinen Fernseher und kein Radio. Keine Ahnung, wer auf die Idee gekommen ist, hierher zu fahren. Ich würde lieber bis zum Konzert im Club abhängen, ein paar Leute treffen oder lesen oder schreiben. Ich hänge meine Bühnenklamotten auf die Heizung, Hose, T-Shirt, Unterhose. Sie sind noch klamm, ich habe sie nicht trocken bekommen, weil der Heizkörper im Hotel letzte Nacht schon mit Marios Sachen belegt war. Ich drehe die Heizung auf volle Kanne, aber nichts passiert. Duschen wäre eine Idee, aber es kommt kein heißes Wasser. Nach der langen Fahrt wäre es ein gutes Gefühl, mal die Socken auszuziehen. Der schuppige, dreckige Boden sagt mir: Lass es lieber bleiben. Ich lege mich aufs Bett. Mario liegt auf seinem und döst. Ich lese ein paar Seiten in meinem Buch. »Fräulein Smillas Gespür für Schnee«. Smilla ist ein genauso eigenwilliges, toughes und beeindruckendes Frollein, wie ihr geheimnisvoller, wunderschöner Name andeutet. Aber bereits nach wenigen Seiten fallen auch mir die Augen zu.

Ich befinde mich gerade in einem nicht wirklich entspannenden Halbschlafzustand, als neben mir mein Handy piept. Eine SMS von der Tourneeleitung aus dem Zimmer nebenan. »Heißwasser lange laufen lassen!«, steht drin. Süß, wie er sich um uns kümmert. Ich probiere es. Nach ein paar Minuten wird das Wasser endlich warm. Danke, Tourneeleitung.

Am nächsten Morgen hasst du die Welt, als du siehst, dass du das Gerät vor genau einem Jahr und zwei Wochen gekauft hast. Dein Mitbewohner sagt dir allerdings, dass es dank irgendeiner neuen EU-Verordnung jetzt zwei Jahre Garantie auf technische Geräte gibt. Geil, danke, EU! Du hasst die Welt jetzt nur noch ein bisschen, und zwar, weil du zur Reklamation ein Karstadthaus betreten musst. Die Abteilung ist groß, überfüllt und unterbesetzt. Während du auf einen freien Verkäufer wartest und dich dabei anscheinend als Einziger nicht dreist vordrängelst, schlenderst du durch die Gänge und bist erstaunt über all die Geräte, von denen du noch nie gehört hast. MD-Player sind kaum noch im Angebot, dafür diese MP3-Player. Wahnsinn, in wie vielen verschiedenen Größen es die gibt. Du fragst dich, wer das alles kauft, und wer sich die Mühe macht, all die kleinen Unterschiede zwischen den diversen Ausführungen, Marken und Preisklassen herauszufinden. Große Auswahl schüchtert dich ein. Du willst haben, was du brauchst, und das dann für immer behalten. Deine Jeanshose ebenso wie deinen Verstärker, deine Gitarre wie deine Kaffeemaschine, deine Schuhe wie dein Minidiscdingens. Und dann all die neuen Geräte – wirst du langsam alt, wenn du nicht weißt, was das alles ist und es dich auch gar nicht interessiert?

»Müssen wir einschicken«, sagt der Verkäufer, »kann aber dauern, drei Wochen oder vier, ist bei Sharp normal, was soll ich tun, kann ich ja auch nichts dran machen.«

Als hättest du nach dieser Entschuldigung verlangt, als du ihm das Ding mit den Worten »Ist mir runtergefallen, müsste noch Garantie drauf sein«, in die Hand gedrückt hast. Du scheinst irgendetwas an dir zu haben, das Menschen das Gefühl gibt, du willst ihnen was. Dabei pocht in dir doch ein großes Herz für arme Leute wie Karstadtverkäufer, Pommesbudenfrauen oder Aldikassiererinnen, die sich Tag für Tag rabiate, boshafte »Kunde-ist-König«-Mentalitäten gefallen lassen und dabei dann noch freundlich und geduldig bleiben müssen.

Drei Wochen ohne Musik auf den Ohren. Das heißt drei Wochen ohne Schutzschild in den Supermarkt. Es macht dir Angst.

Wo die wilden Maden graben

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