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2.

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Fielmann ist von Anfang an dabei. Für die ersten Proben dieser Band hat er mir seine Gitarre geliehen, weil ich keine eigene hatte. Nach einem halben Jahr hat er mir eröffnet, dass er unsere Band super findet, wir aber nie Erfolg haben werden, weil wir »Musik für Mädchen« machen. Später ist er ab und zu mit zu Konzerten gefahren, um unsere ersten Merchandiseprodukte zu verkaufen (ein Demotape, eine Platte, irgendwann sogar ein T-Shirt). Außerdem ist er als Straight Edger meist gefahren, weil wir die ganze Zeit rotzbesoffen waren. Später hat er nicht nur angefangen zu saufen, er war auch den Merchjob leid. Es kam aber nicht in Frage, ohne ihn loszufahren, also brauchten wir eine neue Aufgabe für ihn. Schließlich kam er als gute Seele mit, die sich um alles kümmert. Den Begriff »Tourmanager« kannten wir damals noch nicht. Aber kaum hatten wir ihn das erste Mal vernommen, beschlossen wir, dass Fielmann ab sofort unser Tourmanager ist.

Sobald wir den Bus besteigen, schlüpft er in seine Rolle und wird fortan kaum noch mit seinem Namen, sondern nur noch mit seinem Titel angesprochen: »Die Tourneeleitung«. Er ist mittlerweile ein Profi, verdient seinen Lebensunterhalt damit. Durch Freundschaft und Loyalität in einen Rockberuf geschlittert. Wie herrlich romantisch das ist, und dabei auch noch die Wahrheit!

Als wir vorgestern Abend den Bus einluden, rief er mich an:

»Hey, ich schaffs leider nicht, mitzuhelfen, aber denkt unbedingt dran, den Stahlhelm einzupacken!«

Diesen Helm – keine Ahnung wie der überhaupt in den Proberaum gekommen ist – setzt er nun immer bei Bandbesprechungen auf. Für die Tour hat er sich zusätzlich einen Vollbart stehen lassen, weil er meint, dass dieser ihm bei Gagen- und sonstigen Verhandlungen mehr Autorität verleiht. Er sagt sowas immer halb im Scherz, aber ich werde das Gefühl nicht los, dass er wirklich daran glaubt. Er hat einen großen alten Koffer dabei, in dem sich sein Laptop, ein Aktenordner und eine Flasche Jack Daniels befinden. Dieser Koffer ist der Grund dafür, dass ich im Sprinter nicht die Beine ausstrecken kann, denn der Koffer muss immer in greifbarer Nähe sein. Wenn er damit im Produktionsbüro auftaucht (vorausgesetzt, es gibt ein Produktionsbüro, das aus mehr als zwei Stühlen im Backstageraum besteht), plus Bart, hm, das könnte tatsächlich Eindruck schinden. In welche Richtung auch immer.

Nie will die Tourneeleitung während der Fahrt woanders sitzen als auf ihrem Stammplatz, dem Beifahrersitz. Da sitzt der Chef und checkert und plant und dirigiert, das Ziel vor und den Fahrer neben sich, und hinten die Kids, die sich balgen und streiten und lachen und herumalbern und singen und schreien und fragen, wie weit es noch ist und wann wir endlich da sind.

Soviel zur Theorie. Die Realität sieht etwas anders aus: Kurz nach Abfahrt schläft die Tourneeleitung auf ihrem Tourneeleitungssitz ein. Ein amüsanter Anblick, wie der Kopf langsam nach unten sinkt, dann mit einer ruckartigen Bewegung wieder nach oben schnellt, um gleich wieder nach unten zu sinken, wo er in einer Position rumbaumelt, bei der man vom bloßen Hinsehen Nackenschmerzen bekommt. Beim nächsten Halt fragen wir ihn, ob er denn nicht mal hinten sitzen will, da kann man sich anlehnen, und es gibt hier sogar Kissen! Aber nein, die Tourneeleitung sitzt vorne, und wenn sie sich dabei die Wirbelsäule zu einem »S« wie »Schleudertrauma« verknotet, basta.

Auf allgemeinen Wunsch hat die Tourneeleitung für diese Tour wieder Tourregeln aufgestellt. Heute Morgen wurden sie ausgedruckt und während der Fahrt an alle verteilt.

1.Wir sind nicht zum Spaß hier. Dies ist euer Job (Hättet ja was Vernünftiges lernen können).

2.Also reißt euch zusammen.

3.Es wird täglich mindestens fünf Stunden gepennt.

4.Es werden täglich mindestens drei Mal die Hände gewaschen (mit Seife).

5.Es wird täglich mehr Obst als Junkfood gegessen (A Kiwi a day keeps the doctor away).

6.Es wird täglich mehr Wasser als Alkohol getrunken.

7.Es ist verboten, der Tourneeleitung während der Fahrt auf die Schulter zu tippen.

8.Verpedert wird später.

9.Schnauze.

Unnötig zu erwähnen, dass kaum eine der Regeln jemals eingehalten wird. Trotzdem ein gutes Gefühl, sie zu haben. Man kann außerdem wunderbar Veranstalter und andere Bands irritieren, wenn man sie gleich nach Ankunft für alle sichtbar im Backstageraum und neben der Bühne aufhängt.

Vor allem Punkt sieben sorgt für allgemeine Erheiterung. Dabei ist es durchaus verständlich, dass er hier aufgeführt wird. Wer würde nicht wahnsinnig, wenn einem während einer sechsstündigen Autofahrt alle zwei Minuten jemand auf die Schulter tippt, um Dinge zu fragen wie: »Duuu, was gibts denn heute zu essen?«, oder »Ey Tourneeleitung, ham die da Internet im Backstage und ist die Freundin vom Veranstalter eigentlich hübsch?«

Punkt acht ist ein bisschen universaler, denn »verpedern« kann alles mögliche bedeuten. Man kann nach dem Konzert die Taschen in den Bus »verpedern«, oder vor dem Auftritt die Kabel mit Gaffatape am Boden fest-»pedern«. Manchmal wacht auch jemand mit einer höllischen »Nackenverpederung« auf (z.B. auf dem Beifahrersitz). Aber meistens heißt es »saufen, picheln, verhaften, schütten, sich wegballern«, und so ist es hier auch hauptsächlich gemeint.

Die Regeln wurden auf der letzten Tour zum ersten Mal aufgestellt, aber die einzige verbliebene und wichtigste ist die neunte. Werner, der alte Trucker, bemängelt, dass der ursprüngliche fünfte Punkt nicht mehr auftaucht: »Kritik am Fahrer ist außer in Notfällen nicht gestattet.« Als wir das bemerken, freuen wir uns diebisch. In den nächsten Stunden wird aufs Niederträchtigste Werners Fahrstil kommentiert, bis auch das zu langweilig wird.

Wir würden gerne eine DVD gucken, haben aber kaum welche dabei. »Ich hab meine Filme zu Hause gelassen, weil ich die alle schon gesehen hab!«, ist die gängige Ausrede. Wir beschließen, dass jeder mindestens eine DVD kaufen muss, und befehlen Werner, er soll verdammt nochmal nicht so schleichen, sondern ein bisschen aufs Gaspedal treten, damit wir Zeit rausschlagen für den nächsten auffindbaren Media Markt.

»Punkt fünf!«, ruft er.

»Gibts nicht mehr, also heiz ein!«, schallt es aus dem Fond zurück.

Wunschlos unglücklich vegetierst du tagelang vor dich hin. Tagsüber bringt das gute Wetter dir Schuldgefühle, weil du deine Tage so sinnlos verschwendest. Hast du als junger Mensch nicht die Pflicht, dich zu amüsieren, etwas zu erleben, etwas zu leisten? Der Saft der Jugend, er verdorrt dir in den Adern. Nachts macht der Mond dich ganz komisch. Du hast Fernweh, von der Sorte, die so seltsam nach Heimweh schmeckt. Für den Heimatlosen ist Heimweh der Motor für die Flucht nach vorn. Aber dein Motor hat einen Getriebeschaden. Du versuchst, nicht aus dem Fenster zu sehen. Du blickst nicht mehr gen Himmel, weil du dich gegenüber Sonne und Mond so klein und elend fühlst. Außerdem willst du es um jeden Preis vermeiden, eine Sternschnuppe zu sehen, die dich doch nur daran erinnern würde, dass du nicht weißt, was du dir wünschen sollst. Dir fällt einfach nichts ein, was dich aus diesem Loch ziehen könnte.

Morgens liegst du im Bett, wirst immer wieder wach, ausgeschlafen, und bleibst liegen. Es gibt nichts, wofür es sich aufzustehen lohnt. Erst wenn Muskeln und Gelenke zu schmerzen beginnen, schälst du dich aus deinem Laken und stellst den Computer an.

Tagsüber rufst du mindestens dreißig bis vierzig Mal E-Mails ab. Manchmal im Minutentakt. Meistens hast du keine Post oder nur Werbung. »Penis«, »Business«, »Finance«, »Viagra«. Die Betreffzeilen der Hölle. Wenn dir jemand schreibt, freust du dich. Du schreibst sofort zurück und hast zwei Minuten drauf wieder nichts zu tun.

Du onanierst mehrmals täglich, aber selbst das macht keinen Spaß. Es dient lediglich dem Druckablassen, wird zu einer reinen Beschäftigungsmaßnahme. Wenn du ejakuliert hast, fühlst du dich einen Moment lang angenehm erschöpft, leer und müde. Das hält aber nur ein paar Minuten an. Manchmal liegst du zum dritten, vierten oder fünften Mal am Tag auf dem Bett, drückst verzweifelt an dir rum und musst schließlich einsehen, dass du völlig ausgepumpt bist und nicht mehr kommen kannst.

Heute ist das komplette Gegenteil von gestern. In diesem Jugendzentrum gibt es vielleicht ein oder zwei Musikveranstaltungen im Monat, während der Laden gestern so gut wie jeden Tag in der Woche eine Band da hat. Dieser Ort zählt ca. fünzigtausend Einwohner, die Stadt in der wir gestern waren, hat mehr als das Fünfundzwanzigfache davon. Das Durchschnittsalter lag bei Anfang bis Mitte zwanzig, heute liegt es ein paar Jahre drunter. Die Leute gestern trugen lässige Klamotten und hatten einen guten Musikgeschmack. Es waren hauptsächlich Studenten anwesend. Studenten, die aussahen wie Studenten und Studenten, die aussahen wie Studenten, die auf keinen Fall wie Studenten aussehen wollen. Sie trugen coole Jeansjacken, Tattoos und Dreitagebärte, standen lässig herum, rauchten wie die Blöden und waren allgemein ziemlich übersättigt. Einige hatten kleine Papierbriefchen mit weißem Pulver in den Hosentaschen, das sie hinter mit Bandstickern übersäten Klotüren wegsnieften.

Heute sind sie alle da: die Muckertypen, die Dorfpunker, die Aktivistinnen von der örtlichen Attac-Gruppe, die Kids in den viel zu großen, mit frechen Sprüchen bedruckten T-Shirts. »Wir sind das OB-Team, in der Regel sind wir voll« und ähnliche Klopper. Fremdschämen ist angesagt, und gleichzeitig muss ich über diesen T-Shirt-Aufdruck lachen. Ich muss an die Sexminister denken. Der von China: Schwingdeinding, und von Schweden: Lasse Samenström. Ich kichere in mich hinein und komme mir ziemlich pubertär dabei vor. Auf dem Jungsklo steht in Krakelschrift: »Achmed B. ist schwuhl.« Draußen am Ende des Parkplatzes sitzen Jungs mit per Sicherheitsnadeln befestigten Anarchie-Aufnähern auf dem Parka und teilen sich eine Bong mit Bretter-piece. Am Merchandisestand versucht die eine Hälfte, drei CDs auf den Preis von einer runterzuhandeln, während die andere fragt, warum wir keine signierten Autogrammkarten haben.

Was alle Besucher heute Abend vereint: Sie sind nicht cool, aber sie haben Bock. Sie sind laut, enthusiastisch und hungrig. Sie wollen was erleben. Ich kenne ihr Leben, ich habe es auch gelebt. Ich weiß, woher sie kommen. Die erdrückende Enge der Kleinstadt, die Beklemmung, das Gefühl, dass man jeden Straßenzug in- und auswendig kennt, dass es nichts zu entdecken gibt außer Alkohol und Zigaretten. Langeweile und Tristesse lauern hinter jedem Vorhang. Und wenn dann doch mal was los ist, sind sie alle da.

So wie heute. Schon bei der Vorband ist der Konzertraum gerammelt voll. Die Hälfte des Publikums heute Abend wird sich in zwei Wochen beim Stadtfest wieder über den Weg laufen. Wer nach dem Abitur nicht abhaut, hat gute Chancen, sein ganzes Leben hier zu verbringen.

Schon beim ersten Song bricht die Hölle los. Während unseres Auftritts muss unser Backliner Dr. Menke nach jedem Song meine Monitorboxen wieder auf ihre Position rücken, weil die Testosteron verballernde Jugend nicht mehr an sich halten kann. Welcome to the Kleinstadt-Jungle. Ständig fliegt der Mikroständer um, ein paarmal bekomme ich ihn genau in die Fresse. Dinge fliegen durch die Gegend. Ein Turnschuh landet auf der Bühne, und unaufhörlich wird ein Ritual zelebriert, das bei unter Energie-Überschuss leidenden Dorfjungs als Zeichen von Lebenswut und Hedonismus gilt: die Bierdusche. Sepp hat Mühe, das Mischpult trocken zu halten. Ein paar Kids versuchen zu stagediven, sind aber zu blöd dazu und reißen mit ihren tollpatschigen Bewegungen die Kabel aus unseren Effektgeräten. Der einsame Ordner vor der Bühne kriegt Anweisung von Dr. Menke, die Leute von der Bühne fernzuhalten. Er hat damit alle Hände voll zu tun. In der ersten Reihe neben den Boxen stehen zwei betrunkene Teenager, die das ganze Konzert über abwechselnd tanzen und knutschen. Gegen Ende des Auftritts zieht Dr. Menke ein Mädchen aus der ersten Reihe auf die Seite der Bühne, weil sie offenbar kurz vorm Kollaps steht. Hell on earth.

Der Backstageraum befindet sich nicht hinter der Bühne, sondern am anderen Ende des Raums, und die Leute lassen uns nach Ende der Playlist nicht von der Bühne. Sie bilden in den ersten drei Reihen eine Mauer und singen Sprechchöre zur Melodie von »Brown Girl in the Ring«:

»So einfach geht das nicht, scha-la-la-lala!«

Also bleiben wir oben und gehen direkt in die Zugabe über. Das Pärchen ist immer noch zugange. Ich sehe wie das Mädchen dem Jungen beim Küssen die Hand in die Hose schiebt. Seine Hand wandert unter ihr T-Shirt. Mario und ich tauschen Oh-Gott-wo-sind-wir-denn-hier-gelandet-Blicke aus. Nach drei Liedern ist die Zugabe vorbei. Ich bin klatschnass und fertig. Ich bräuchte dringend was zu trinken, etwas mit Zucker drin, aber das Publikum will uns immer noch nicht gehen lassen. Wir beratschlagen uns kurz vorm Schlagzeug und entscheiden, zwei weitere Songs zu spielen und dann aber wirklich aufzuhören. Während des letzten Songs liegen die beiden Teenies zwischen meinen und Marios Monitoren auf der Bühne. Er liegt auf dem Rücken, sie sitzt halb auf ihm drauf und reibt ihren Unterleib an der Beule in seiner Hose. Dabei lecken sie sich ab als gäbe es kein Morgen. Dr. Menke kniet am Rand der Bühne und sieht leicht überfordert aus. Er weiß nicht so recht, ob er eingreifen soll, entscheidet sich dann aber dagegen und lässt die beiden einfach machen. Mario und ich können vor Lachen kaum singen. Normalerweise hasse ich es wie die Pest, wenn Leute auf der Bühne sitzen oder liegen, oder wenn sie stundenlang vorne herumstehen, um dann mit den Füßen voraus in die Menge zu springen, und es mit ihrer Hampelei nicht nur an jeglichem Gespür für Stil mangeln lassen, sondern auch unschuldige Musikliebhaber terrorisieren und mich daran hindern, vernünftig zu spielen. Aber hier ist alles so grotesk und übertrieben, dass mir nichts anderes übrig bleibt, als es mit Humor zu nehmen. Wir sind hier zwar die Feldherren, aber wie das Feld bestellt ist, darauf haben wir keinen Einfluss. Entweder aufhören oder durchziehen. Dies ist nicht der Moment für reading between the frontlines.

Beim allerletzten Ton schmeißen wir unsere Instrumente in die Ecke, bedanken uns für den außerordentlichen Abend und springen von der Bühne. Während die Leute schreien, johlen und an unseren T-Shirts zerren, bahnen wir uns mit Gewalt einen Weg durch die Menge. Hier ist man schon rockstarverdächtig, wenn man eine Gitarre halten kann. Die Tourneeleitung steht am Backstageraum, lässt uns rein und postiert sich dann draußen vor der Tür, um uns wahnsinnige Teenage-Werwölfe vom Leib zu halten.

Wir lassen uns in die Sofas fallen und sind fix und fertig.

Ich trinke einen halben Liter Fanta auf ex. Kowalski zündet sich eine Fluppe an und hilft dann Werner aus seinem T-Shirt, der es nicht alleine schafft. Seine Augen sind von Anstrengung und Schweiß rot geschwollen. Wieder wringt er sein T-Shirt aus, diesmal immerhin über dem Waschbecken. Er sagt, wir hätten eigentlich noch einen weiteren Song spielen müssen, dann hätten wir und alle anderen den beiden Teenagern noch beim Vögeln zugucken können.

Derweil tobt draußen Krieg. Die After-Show-CD von Sepp fliegt nach nur einem Song raus, denn die Lemonheads sind hier nicht gefragt. Der DJ legt in ohrenbetäubender Lautstärke Turbonegro auf. »Get it on«. Jetzt gehts los, volle Kanne Dorfdisco. Dr. Menke muss derweil auf der Bühne unser Equipment vor durchdrehenden Kids beschützen. Er gibt Setlisten raus, Plecs und ausnahmsweise sogar alte Drumsticks, die Werner normalerweise für Proben und Soundchecks behält. Aber er hat nicht genug für alle und winkt panisch zwei ihm unbekannte, aber halbwegs seriös wirkende Typen von der Vorband ran, die ihm beim schnellen Verstauen von Fußschaltern, Gitarren, Kabeln und Mikros helfen. Alles, was nicht niet- und nagelfest ist, wird auf kurzem Wege in irgendwelche Koffer geworfen. Kabel aufrollen, Mikros sortieren, das kann man später immer noch machen. Jetzt ist es oberste Priorität, unseren Kram zu retten, bevor hier alle total ausrasten.

Der Alkohol fließt in Strömen. Minderjährige pissen, scheißen und kotzen die Klos zu. Ein Nachwuchspunker legt sich beim Pogen aufs Maul und verliert auf dem gekachelten Boden einen Zahn. Wild aus dem Mund blutend wird er von seinen Freunden aus dem Saal geschleppt. Schreiend versucht er sich von ihnen zu befreien: »Lasst mich, ich will pogen, ich hab nichts, lasst mich los, ihr Schweine!«

Mein Mitgefühl gilt Simon, dem Mann an der Front. Ich möchte mir gar nicht ausmalen, mit was für Gestalten er es gerade am Merchandisestand zu tun hat. Die arme Sau.

Als wir kurze Zeit später unser Equipment mitten durch die tanzende, stolpernde, schlafende, lallende und kotzende Meute tragen, beobachte ich den Zivildienstleistenden des Ladens, wie er versucht, einen Altrocker zu wecken, der im Stehen mit dem Gesicht auf der Theke eingeschlafen ist. Seine fettigen langen Haare liegen in einer Bierpfütze, seine Arme hängen schlaff an ihm herunter. Als er endlich aufwacht, taumelt er wirr mit sich selbst redend durch den Raum und sucht den Ausgang am falschen Ende des Gebäudes. Dann kommt er zurück, stellt sich vor mir auf und schreit mich an, dass er wieder kommen und meinen ganzen Laden anzünden wird. Speichel läuft aus seinem Mund.

Wir verstauen unseren Kram und machen, dass wir da raus kommen.

Abends surfst du angeödet durchs Internet und bietest aus lauter Langeweile bei eBay auf ein paar Neunziger-Jahre-Gitarrenpop-CDs, über die du damals immer gelästert hast, wie es sich für einen coolen Punkrocker gehörte. In Online-Fanzines liest du Interviews mit Bands oder Künstlern, die du nicht kennst und die überhaupt nichts Interessantes zu erzählen haben. Dabei trinkst du Alkohol. Rotwein, Weißwein, Wodka-O, Whiskey mit Eis. Du trinkst und trinkst, wirst aber nicht besoffen. Deine Bewegungen werden unkoordinierter, deine Augen schummrig, aber der Rausch, dieser gute, befreiende, kreative große Bruder, er will sich einfach nicht einstellen.

In der Zwischenzeit werden die Menschen besser an ihren Instrumenten, probieren neue Sachen aus, lernen Dinge wie Fotografieren oder Tauchen, haben tolle Körper, machen Sport, ziehen in fremde Städte oder erforschen ferne Länder, sie studieren Geschichte oder Biologie, machen außerordentliche Erfahrungen mit synthetischen Drogen, sie verlieben sich oder werden Sexprofis, erhalten Unmengen an Geld, Befriedigung oder Fans, und du machst einfach nicht mit. Während die Welt sich in atemberaubender Geschwindigkeit weiterdreht, liegst du, von ein paar spastischen Zuckungen abgesehen, vollkommen regungslos in deinen paar Quadratmetern und suhlst dich in deiner Lethargie. Du fühlst dich nicht gut dabei, du bist alles andere als glücklich mit diesem Einsiedler-Dasein, aber du kannst dich nicht aufraffen, etwas Neues anzufangen. Die Welt ist so schnell und gut drauf, alle sind so gut in ihrer Abteilung, dass du dich in ihrer Gegenwart blöd, lächerlich und alt fühlst und jeglichen Elan verlierst, an deiner Situation etwas zu ändern.

Wenn du auf der Straße entfernten Bekannten begegnest, versuchst du, ihnen aus dem Weg zu gehen. Du schaust auf den Boden, tust so, als würdest du telefonieren, oder kramst in deiner Tasche, als würdest du etwas suchen. Manchmal biegst du sogar in eine Seitenstraße ein und nimmst einen Umweg, nur um nicht in die Verlegenheit zu kommen, mit jemandem reden zu müssen. In den Supermarkt gehst du nur mit dem MD-Player in der Tasche. Die Musik auf den Ohren gibt dir einen Schutzschild, ohne den du nur ungern das Haus verlässt. Du guckst dir bewusst Phrasen von anderen ab, kopierst ihren Plauderton, übernimmst ganze Sätze, damit du beim von Zeit zu Zeit unvermeidbaren Smalltalk nicht auffällst, damit du dein Gegenüber schnell wieder los wirst, ohne ihm ein mulmiges Gefühl zu geben. Niemand soll dich fragen, was mit dir los ist. Du weißt es doch selbst nicht.

Mindestens fünf Mal fängst du an, »Moby Dick« zu lesen. Immer hörst du nach wenigen Seiten wieder auf, weil du aus Zwang, nicht aus Lust liest. Nichts macht dir Spaß. Du bist so einsam und verzweifelt, dass du nicht mal schreibst, liest, Gitarre spielst, Freunde besuchst oder irgendwen anrufst. Du hältst dich für durch und durch unzumutbar und möchtest nicht, dass dich jemand so sieht. Du schwankst zwischen Selbsthass und Selbstmitleid, zwischen Weltschmerz und Verachtung, zwischen Hass und Gleichgültikeit. Du kotzt dich selber an.

Dann fängst du an, mit dir selbst zu reden. »Schnauze«, sagst du, wieder und wieder. Fernseher an, »Schnauze, Arschgeburt«, Fernseher aus. Du singst Melodien von bekannten Songs mit einem einzigen Wort nach: Schnauze. Schnauze Schnauze Schnauze.

Wo die wilden Maden graben

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