Читать книгу Wo die wilden Maden graben - Nagel - Страница 12
5.
ОглавлениеIch erkenne ihn nicht gleich, er fällt mir eher wegen seiner komischen Haltung auf. Etwas unbeteiligt und verloren, als warte er auf irgendwas, lehnt er neben unserem Merchandisestand, ohne sich Platten, Shirts oder Buttons anzugucken oder mit irgendwem zu reden. Ein paar Mal kreuzen sich unsere Blicke, aber auch da erkenne ich ihn noch nicht. Dabei hatte die Tourneeleitung ihn schon angekündigt:
»Ey, da draußen am Merch steht dieser eine Typ, den kennst du, der, der aussieht wie ’ne Frau, die wie ein Mann aussieht!«
Ich hatte keine Ahnung, wovon er redete. Erst, als ich mich aus meiner Unterhaltung mit einem Typen von der anderen Band gelöst habe, bemerke ich, dass mich jemand direkt anguckt, und als ich den Blick erwidere, hebt dieser Jemand grüßend seine Bierflasche. Ach was, Mäse!, denke ich. Beim Auftauchen seines Namens in meinem Kopf durchzuckt es mich leicht, und als er auf mich zukommt, begrüße ich ihn lieber mit einem unverfänglichen: »Moin Alter, was machst du denn hier!«
Matthias Schneider war eigentlich ein unauffälliger Kleinstadtjunge. Er spielte zunächst mit Matchboxautos, dann mit Playmobil- und Actionfiguren, und schließlich mit seinem Penis. Ungefähr zu dieser Zeit fing er an, nach der Schule mit anderen Jungs aus der Klasse auf dem Spielplatz hinterm Freibad rumzuhängen, wo sie durch das Reißen möglichst schweinischer Witze, das Fachsimpeln über die Brüste ihrer Mitschülerinnen oder das heimliche Rauchen von Zigaretten in der Seilbahnhütte ihre Pubertät auslebten. Fast alle hatten Spitznamen, die sich entweder von ihren Vor- oder Nachnamen ableiteten. Johannes wurde zu Jojo, Kampmann zu Kampo, Schlüter zu Schlüti, Jan zu Janni usw.
Matthias Schneider hatte nun das Pech, dass es außer ihm noch einen anderen Matthias in der Clique gab, der von allen »Matze« gerufen wurde. Dieser Matze war ein halbes Jahr älter und schon länger in der Gang, hatte also so was wie ein Erstgeborenenrecht auf diesen Namen. Matze hatte mal Kampos großem Bruder, also dem richtigen Kampo (Der Junge in der Clique war eigentlich nur »Klein-Kampo«, wurde aber nur zu Unterscheidungszwecken so genannt und intern zu seiner großen Erleichterung auch mit »Kampo« angeredet) mal so deftig in die Eier getreten, dass dieser angefangen hatte zu heulen und geschlagen von dannen ziehen musste. Außerdem erzählte man sich, er sei Lisa Hülsböhmer schon mal unter den Pulli gegangen und habe auch sonst einiges los bei den Weibern.
Der Name Matze war also schon vergeben, und Matze war eine Autoritätsperson, er stand ganz weit oben in der hierarchischen Gliederung der Jungsbande. So einem macht man nicht den Spitznamen abspenstig. Man legt sich am besten gar nicht erst mit ihm an, denn ein Disput mit ihm, und man ist bei allen unten durch. Und dann hat man auf ewig die Arschkarte gezogen, wie der Verlierer Uwe Jankowsky, der alleinstehende Alkoholiker aus dem Dachgeschoss, der manchmal betrunken auf der Wiese im Park lag und von den Kindern mit Abfall und Dreck beworfen wurde.
Weil es in einer coolen Gang aber unmöglich zwei Jungs mit demselben Namen geben konnte, und weil »Matze eins« und »Matze zwei« auf gar keinen Fall in Frage kam (zu lang, zu kompliziert, zu bescheuert), wurde Matthias Schneider von den anderen »Mäse« getauft. Mäse ist ein nicht direkt vulgärer, aber doch etwas grobschlächtiger Ausdruck aus dem Plattdeutschen und heißt: Popo, bzw. Hintern, bzw. Arsch.
Anfangs fand er es noch ganz lustig, so angeredet zu werden. Er sah das Ganze mehr als einen vorübergehenden Scherz. Außerdem war es der mit Abstand originellste aller Spitznamen, origineller jedenfalls als Jojo, Kampo oder Fleckmanns Björn, den alle nur »Flecki« nannten. Dann aber verselbstständigte sich die Sache: Er wurde anderen Jungs als »Mäse« vorgestellt, und schließlich, was noch schlimmer war, nannten ihn auch die ersten Mädchen so. Wenige Wochen später hieß er, außer bei seinen Eltern, Großeltern und Lehrern, überall Mäse. In der Schule, im Fußballverein, sogar sein Nachhilfelehrer nannte ihn Mäse.
Als die ersten Veralberungen seines ohnehin schon albernen Namens aufkamen, machte er noch ein paar halbgare Anläufe, stattdessen mit seinem Nachnamen gerufen zu werden. Aber es war zu spät, der Zug war abgefahren. Vorbei. Basta. Finito. Die letzte Chance auf einen halbwegs würdevollen Spitznamen: Futschikato.
Man nannte ihn beispielsweise gerne »Käse-Mäse« und fand das ungemein witzig. Der Belag seines Schulbrotes wurde im Gegenzug zu »Mäsenkäse«. Jeder Protest war sinnlos, vielmehr spornte er die anderen nur noch weiter an, gab ihnen Munition, provozierte sie zu weiteren Beschimpfungen. Eichelkäse wurde zu Eichelmäse wurde zu Speichelmäse …
Pubertierende Jungs sind erbarmungslose Bestien, die mit Vorliebe ihre salzigen Finger in die Wunden von Schwächeren legen. Also fügte Mäse sich zähneknirschend in sein Schicksal, von nun an und für alle Tage nach dem menschlichen Gesäß benannt zu sein. Selbst als er zwei Jahre später in die nächste Universitätsstadt zog, traf er dort hin und wieder auf Kommilitonen, die ihn und damit auch seinen Spitznamen von früher kannten.
Als du ihn dort zum ersten Mal auf einer Party triffst, wird er dir als Matthias Schneider vorgestellt, und irgendwer redet ihn sogar mit Matze an. Was muss das für ein schönes Gefühl sein, was für eine Erleichterung, was für eine späte Genugtuung! Als er aber schon längst gegangen ist, während du noch versuchst, die Mitbewohnerin des Gastgebers dazu zu bringen, dir ihr Bett und ihren Körper anzubieten, erzählt man dir am Küchentisch Mäses wahre Identität, sein stilles Geheimnis, die Geschichte seines Namens. Du musst sogleich an einen früheren Bekannten von dir denken, der ein ähnliches Problem hat, denn er bekam als Fünfzehnjähriger von seinen Heavy-Metal-Kumpels den Namen »Jesus« verpasst. Es soll da wohl eine gewisse Ähnlichkeit gegeben haben, was aber zweitrangig ist, denn wenn jemand einen Spitznamen hat, dann benutzt man ihn meist ungefragt. Auch Jesus versuchte nach einigen Jahren verzweifelt, seinen Namen wieder los zu werden. Er zog in eine fremde Stadt, wurde sogar Vater, doch immer wenn du ihn triffst, denkst du: »Da ist ja Jesus«, und dann rufst du ihn: »Moin Jesus, lange nicht gesehen!«, und er steht vor dir und schämt sich vor seiner Frau, die ihn fälschlicherweise für »Thomas« hält und schnell weitergehen möchte.
Du landest auf dieser Party tatsächlich im Bett der Mitbewohnerin. Ihr trinkt vorher allerdings all ihre Weinreste auf, hört dazu schlimme Musik und brabbelt lallend pseudophilosophischen Unsinn, der dir in dem Moment unheimlich schlau vorkommt. Als auch der Wein alle ist, findet ihr im Kühlschrank noch etwas Whiskey, Marke: St. Johnston’s Bourbon, Herkunft: Aldi, und mit einem leckeren Mix Whiskey/O-Saft auf dem Nachtschränkchen schlaft ihr schließlich halb angezogen beim Fummeln ein. Erst als du morgens wach wirst, bemerkst du das riesige Pearl-Jam-Poster über ihrem Bett. Du fühlst dich elend und schleichst dich leise davon. Du siehst sie nie wieder.
Mäse dagegen läuft dir in den folgenden Monaten und Jahren immer mal wieder über den Weg, und ihr entwickelt eine lose und unverbindliche, aber von gegenseitigem Wohlwollen geprägte Party-Freundschaft.
Der übliche »Du hier?«-»Ja, wohne jetzt hier!«-»Und was machste so?«-Smalltalk füllt gerade mal zwei oder drei Minuten. Ich bin ziemlich verkrampft, da ich die ganze Zeit an seinen Namen denken muss. Weil ich etwas über ihn weiß, von dem er nicht weiß, dass ich es weiß, ist er in meinem Kopf zu einer Art tragischen Figur geworden, die Mitleid verdient. Die Situation wird nicht gerade einfacher durch die Tatsache, dass wir uns nicht sonderlich viel zu sagen haben. Eine weitere zähe Minute vergeht damit, dass er mir für das gelungene Konzert gratuliert und sich erkundigt, wie lange wir schon und wie lange wir noch unterwegs sind. Ich antworte freundlich aber knapp, denn ich mag es nicht, nach einem Auftritt mit Nicht-Bandmitgliedern darüber zu reden, wie das Konzert war, es sei denn, sie haben spezielle Fragen. Mäse hat keine Fragen. Ich sowieso nicht. Also stehen wir rum und knibbeln an den Etiketten unserer Getränke, zünden uns Zigaretten an und lassen die Blicke durch den nur noch schwach gefüllten Raum schweifen.
»Wusstest du, dass Hans jetzt auch hier wohnt?«
»Jaja, neulich noch getroffen.«
»Aber er ist nicht mehr mit Anita …?«
»Nee, lange nicht, lange nicht …«
Mein Gott, sonst wird man am Merch doch immer von irgendwem angesprochen, und wenns nur für ein Autogramm ist. Warum ausgerechnet jetzt nicht! Eine scheinbare Ewigkeit vergeht, bis ich mich traue zu sagen, dass ich mal kurz aufs Klo muss und wir dann bestimmt auch schon bald die Backline einladen. Ich atme innerlich auf, als er sagt, er müsse sich auch verabschieden – »Ich mach dann auch mal ’nen Sittich!« – schließlich müsse er morgen früh raus (gerade hat er noch erzählt, er würde in seinem neuem Job immer erst mittags anfangen) und habe eh schon zuviel getrunken (auf mich macht er einen ziemlich nüchternen Eindruck, damals auf der Fete, da war er wirklich betrunken!) und seine Freunde seien auch gerade gegangen (nach meiner Einschätzung stand er mindestens fünfzehn Minuten alleine am Merch rum).
Wir klopfen uns auf die Schulter: »War schön dich zu sehen.« Das ist sogar ernst gemeint, und doch bin ich so unendlich erleichtert, als wir uns den Rücken zukehren, er zum Ausgang, ich zum Klo. Pinkeln musste ich nämlich wirklich. Und wie.