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4.

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Werner fährt schon wieder seit Stunden. Er setzt sich einfach morgens ans Steuer und fährt los, hält ab und zu zum Rauchen an und fährt danach weiter. Ich glaube nicht, dass es immer gut für ihn ist, denn er braucht viel Schlaf. Abends ist er oft müde und verspannt. Aber wenn er mal nicht fährt, langweilt er sich sofort. Er kann während der Autofahrt nicht schlafen, also liest er ein bisschen. Dann kriegt er Bierdurst und sitzt angeödet herum, vollends damit beschäftigt, sich das Saufen zu verkneifen. Ich kann mich ohnehin nicht beschweren, ich profitiere wie alle anderen davon, dass er uns die ganze Zeit durch die Gegend kutschiert. Meistens würde ich mich gar nicht trauen, selbst zu fahren, aus Angst vor dem Restalkohol in meinem Blut.

Die Heimfahrt von der Grillparty ist nicht lang, maximal zehn Minuten. Du hast eine Flasche Wein und mehrere Schnäpse getrunken, fährst aber ganz normal. Zumindest bis du kurz vor deiner Wohnung an einer roten Ampel einen Blick in den Rückspiegel wirfst: Ein Polizeiwagen ist hinter dir. Absoluter Zufall zwar, aber er macht dich nervös. Als die Ampel auf grün umspringt, drückst du panisch aufs Gaspedal. In einer Kurve gerätst du kurz auf die Fahrbahn neben dir und ziehst ruckartig wieder rüber. Mein Gott, so eine Ente hat aber auch wirklich eine komische Lenkung. Vielleicht ist es ja auch ein bisschen windig, stürmisch gar, in dieser lauen Sommernacht Mitte Juni …

Es ist Benjas Ente, sie sitzt neben dir und sieht dich entgeistert an. Du wirfst einen Blick auf den Tacho und bemerkst, dass du bei siebzig km/h bist. Das nächste, woran du dich erinnern kannst, ist die »Bitte folgen«-Anzeige auf dem Dach des Polizeiwagens, der euch überholt. Sie fahren rechts ran, du hinterher. Langsam steigen die Beamten aus. Du weißt später nicht mehr, was dir durch den Kopf ging. Totaler Blackout.

»Haben Sie was getrunken?«

»Nein. Na ja, ein Glas Wein.«

»Steigen Sie bitte mal aus.«

Du steigst aus, hauchst dem Kerl vorsichtig ins Gesicht, worauf der das Pustegerät holt. Es sagt »1,0 Promille«. Auch Benja muss pusten. Sie hat genau wie du eine Flasche Wein und ein paar Schnäpse getrunken, ist einen Kopf kleiner und mindestens zwanzig Kilo leichter als du, und das Gerät zeigt bei ihr nur 0,2 Promille an. Sie hat sich nicht mehr fahrtauglich gefühlt, wollte aber auch nicht nach Hause laufen, und als Zeichen deiner Liebe, na ja, vielleicht eher als Beweis deiner Tollkühnheit, hast du gesagt: »Okay, ich fahre«, womit du ausdrücken wolltest: Baby, mach dir keine Sorgen, wenn ich bei dir bin, musst du niemals laufen, ich bin ein tougher Typ und hab alles im Griff, lehn du dich nur an meine starke Schulter und schlummere sanft dahin, während ich dich durch die dunkle Nacht geleite!

»So, dann setzen Sie sich mal ans Steuer und fahren hinter uns her zur Wache«, sagt der Bulle zu Benja. Verdattert schaut sie erst ihn, dann dich, dann wieder ihn an, setzt sich aber schließlich hinters Steuer.

»Scheiße, ich bin total breit, ich kann doch jetzt nicht fahren!«, flucht sie im Wagen. »Und ich krieg bestimmt voll einen an ’n Arsch, weil ich Fahrzeughalterin bin und einen Betrunkenen habe fahren lassen!«

Dass das unwahrscheinlich ist und du außerdem weitaus beschissener dran bist, sagst du ihr nicht. Du sitzt nur schweigend da und hoffst, deinen Alkoholspiegel auf der fünfminütigen Fahrt durch bloßen eisernen Willen auf unter 0,5 Promille senken zu können.

Was dir nicht gelingt. Ihr verbringt eine halbe Ewigkeit auf der Wache. Nachdem deine Personalien aufgenommen und einige Lauf- und Koordinationstests gemacht sind, wartet ihr auf den Arzt, der dir Blut abnimmt. Es stellt sich später heraus, dass du genau 1,06 Promille hast. 0,04 Promille mehr, und es wäre eine Straftat gewesen. Gut, dass du das letzte Glas nur halb ausgetrunken hast. Das nennt man Glück im Unglück, worüber du dich aber nicht wirklich freuen kannst, denn du hast den Führerschein erst seit einem halben Jahr, bist also noch in der Probezeit, und jetzt ist er weg. Erst nach neun Monaten, der Bezahlung einer Geldbuße und dem Absolvieren eines idiotischen Kurses mit zehn anderen Verkehrssündern und einer Psychologin wirst du ihn wiederbekommen.

Irgendjemand traut sich, den Satz zu sagen: »Können wir mal anhalten, ich muss pissen!«

Vier oder fünf Leute denken: Jaaaa, rauchen, rauchen, rauchen!

Zur Antwort gibt es nur das alte Zitat aus »Superstau« – »Nix da, im Fernsehen wird auch nicht gepinkelt!«

Schließlich steuert Werner eine Raststätte an. Wir müssen tanken. Vier oder fünf Leute denken: Jaaaa, rauchen, rauchen, rauchen!

Werner tankt den Wagen voll, die Tourneeleitung stellt sich schon mal zum Bezahlen an. Das habe ich früher gern gemacht. Es war immer super, mit der verbeulten Bandkasse dazustehen, aus der die Scheine nur so hervorquollen, wenn man sie öffnete. Manchmal fielen welche heraus, und man musste sie zwischen Schokoriegeln und Flachmännern wieder einsammeln. Die Tankwarte wussten nicht, dass kaum etwas davon uns gehörte. Sie hatten ja keine Ahnung, dass wir alles wieder abdrücken mussten, für Busmiete, Gitarrensaiten und Sprit. Sie sahen nur den etwas dreckigen, verpennten oder restbetrunkenen Hallodri mit dem großen Haufen Bargeld und dachten: Warum stehe ich hier für einen Hungerlohn, und diesem Bunken fällt die Knete bündelweise aus der Kasse! Oft waren sie merklich irritiert. Drogendealer? Zuhälter? Dieb? Einmal, noch vor der Einführung des Euros, hatte ich einen Fünfhundert-Mark-Schein, und obwohl die Kasse voll war mit Kleingeld vom Merchverkauf, konnte ich es mir nicht verkneifen, mit dem großen Schein zu bezahlen. Die Augen des Tankwarts funkelten vor Hass und Sozialneid.

Seit wir nur noch per Karte zahlen, macht es keinen Spaß mehr, und ich überlasse das Bezahlen gerne der bankkartenverwaltenden Tourneeleitung.

Auf dem Klo trifft man sich und tauscht sich aus: »Na, hast du die ganze Zeit gepennt? Ach, was liest du denn? Wir könnten auch mal wieder einen Film gucken, mal Simon fragen, ob er noch irgendwas Gutes dabei hat. Wie weit ist es eigentlich noch?«

Und: »Ach Mist, ich hab mein Geld vergessen, kannst du mir fünfzig Cent für die Klofrau leihen?«

Ich fühle mich mies, wenn ich an dem Tischchen der Klofrau vorbeigehe und ihrem Blick ausweichen muss, vom schlechten Gewissen geplagt, weil ich kein Geld in die Untertasse lege. Vor einer halben Ewigkeit sind wir mal von Prag nach Wien gefahren, und als wir kurz vor der österreichischen Grenze zum Pissen anhielten, hatte ich keine Münzen dabei. Die Klofrau rannte hinter mir her, hielt mich am Ärmel fest und schrie hysterisch: »Dee-Mark! Dee-Mark!!!« Ich geriet in Panik und rief flehend Mario um Hilfe: »Mario, hast du Geld dabei!« Mario saß auf dem Scheißhaus und schob mir sein Portemonnaie unter der Tür durch. Ich fand ein Zwei-Mark-Stück darin und gab es der keifenden Dame, erst dann ließ sie meinen Ärmel los. Seitdem bin ich etwas traumatisiert und gebe immer was. Seit Neuestem gibt es an immer mehr Raststätten dieses Sanifair-Dingens, wo man fünfzig Cent in einen Automaten werfen muss, bevor die Schranke sich öffnet. Für die fünfzig Cent gibt es einen Gutschein, den man auf den Kopf hauen kann. Pissen für ein Hanuta. Geil. Seit Einführung dieser demütigenden Konstruktion freue ich mich jedes Mal über den Anblick einer guten alten Klofrau.

Und dann: Hunger. Er kommt zur falschen Zeit. So ist das eben, man will immer was, wenn es nichts gibt. Das ist nachts, nach dem Konzert, wenn das Catering längst weggeräumt wurde und die Imbissbuden schon geschlossen haben. Oder eben nachmittags, während der Fahrt, wenn man als Vegetarier zwischen pappigen Raststätten-Pommes und belegten Tankstellen-Brötchen entscheiden kann, beides zu happigen Preisen, beides serviert von unfreundlichen, biestigen Rastplatzangestellten. Sepp bunkert jeden Tag beim Catering Schokoriegel in seiner Tasche und bietet mir während der Fahrt welche an, aber ich kann das Scheißzeug nicht mehr sehen. Also entscheide ich mich für das Brötchen, an dem der Käse dunkelgelb und steinhart raushängt. Es ist eiskalt und schmeckt nach gar nichts. Genausogut könnte ich die Plastikverpackung essen.

Die anderen stehen draußen um einen Coca-Cola-Schirm und saugen schweigend an ihren Zigaretten. Dr. Menke raucht direkt zwei nacheinander. Er ist Anhänger der Theorie, dass man im Voraus rauchen kann. Wenn er jetzt zwei hintereinander wegdampft, überlistet er damit seine Lunge und schlägt mindestens fünfzig Kilometer Fahrt mehr raus, bis sie sich wieder meldet. Wenn er weiß, dass wir in Kürze anhalten, holt er den Tabakbeutel raus und dreht schon mal vor. Während er die Erste raucht, dreht er schon die Nächste.

»Erst mal schön ’nen Böller aufn Zahn rollen!«, raunt er leise, und ich weiß, dass er gerade sehr glücklich ist.

Mit gehörigem Mauldampf wachst du in der Transe auf, eurem eigenen Bandbus, ein zwanzig Jahre alter Ford Transit, der fünfzehn Liter Super mit Bleizusatz schluckt und euer ganzer Stolz ist. Werner liegt neben dir. Ihr wart in der Nacht vorher auf einer Bootsparty, mit der eine befreundete Band ihren neuen Tonträger feierte. Eine schöne Fete. Zweihundert Gäste sind in schicker Abendgarderobe erschienen, das Boot tuckerte ein paar Stunden den Rhein entlang, und es gab einiges zu trinken. Nachher spielte die Band auf dem Boot, und als die ersten Töne ihres derben Hardcoregebretters erklangen, fing eine Bedienstete am Tresen vor Schreck an zu weinen.

Auch ihr seid mit einer stattlichen Anzahl an Leuten angereist. Die meisten nahmen heute Morgen den ersten Zug zurück in die Heimat. Werner und du hattet den Kanal allerdings noch nicht voll und begabt euch auf eine Kneipentour. Irgendwer muss ja schließlich auch die Transe nach Hause fahren, also seid ihr dageblieben und spät nachts zum Bulli gewankt. Im Kofferraum gibt es immer einen großen Vorrat an Schlafsäcken und Decken, die so gammelig sind, dass niemand sie nach einer Tour mit nach Hause nehmen will. Es ist also gar nicht so ungemütlich da hinten.

Es muss gegen Mittag sein. An eurem Parkplatz am Straßenrand rauscht der Verkehr vorbei. Du kannst nicht mehr schlafen. Unterm Rücksitz findest du eine Flasche Cola ohne Kohlensäure, egal, besser als nichts, und sitzt eine Weile da, beschäftigt mit dem Versuch, die letzte Nacht zu rekapitulieren, bis du schließlich Werner aufweckst.

»Ey Alter, wach auf, ich kann nicht mehr pennen!«

»Wass los …?«, murmelt Werner.

»Ich kann nicht mehr pennen. Ist schon zwölf durch, lass uns abhauen hier!«

Nach kurzer Aufweckphase ist Werner zwar prinzipiell einverstanden, sagt aber, dass er noch total besoffen sei und auf keinen Fall fahren könne. Du bist dir deines restalkoholisierten Zustandes durchaus bewusst, aber ein ungeduldiger Typ.

»Na gut, dann fahr ich.«

»Meinst du, dass das so ’ne gute Idee ist?«, fragt Werner. Aber du sitzt schon am Steuer und spulst dein Lieblingsmixtape zurecht. »Little Light« von Jets to Brazil läuft. »Flip the tape, hit rewind …«

Es geschieht hundertfünfzig Meter weiter an einer Kreuzung. Vor dem Verkehrsschild steht ein Baum, sodass du zu spät entdeckst, dass es rechts Richtung Autobahn geht. Die Ampel ist rot, du wirfst einen Blick in den Rückspiegel. Hinter dir scheint niemand zu sein, also setzt du zurück auf die Rechtsabbiegerspur. Du hast nur den Golf übersehen, der dort steht. Toter Winkel, weißt du noch?

Blake Schwarzenbach singt gerade die Zeile »… it’s my turn to drive«, als deine Stossstange krachend auf dem Kotflügel des Golf zum Stoppen kommt. Kein großer Schaden, war ja nur Schrittgeschwindigkeit. Aber als du aussteigst, um den Schaden zu begutachten, hat der Fahrer schon sein Mobiltelefon am Ohr.

»Kein Problem!«, sagt er, »die Polizei ist gleich da!«

»Äh, können wir das nicht auch ohne regeln«, stammelst du, »ich äh, ich habe nämlich getrunken.«

Du wirst dich noch lange fragen, was dich zu dieser Aussage bewogen hat. Vielleicht erschien dir kompromisslose Ehrlichkeit angesichts deiner desaströsen Lage als letzte Möglichkeit, das drohende Unheil abzuwenden. Der Fahrer allerdings setzt sich sofort wieder in seinen Wagen, kurbelt das Fenster hoch und verriegelt die Tür. Du hast gerade Werner losgeschickt, um dir irgendwo Kaugummis zu besorgen – »Oder irgendwas anderes für den Atem!« –, da biegt auch schon der Streifenwagen um die Ecke. Die Polizistin stellt dir eine Frage zum Tathergang, und als du antwortest, rümpft sie die Nase und holt sogleich den Alkometer. Du pustest so sanft wie möglich in das Röhrchen. Es nützt nichts. Sie will dir das Ergebnis nicht mitteilen, hebt aber erstaunt die Augenbrauen und sagt, dass du zum Bluttest mit auf die Wache kommen musst. Wieder einmal.

Ihr sollt im Streifenwagen mitfahren, aber weil die Transe noch halb auf der Straße steht, muss sie weggefahren werden. Zu diesem Zweck wird auch Werner gebeten, einmal zu pusten, und anders als dir wird ihm das Ergebnis sofort mitgeteilt: 0,0 Promille. Du kannst es nicht fassen – erst Benja, jetzt Werner, dazu die dutzenden Geschichten von Bekannten, die volltrunken pusten mussten und anschließend weiterfahren durften – funktionieren diese Dinger denn nur bei dir? Werner erzählt dir später, dass er noch nie so breit am Steuer gesessen hat. Trotzdem schafft er es, den Bulli ohne Auffälligkeiten auf einen nahen Parkplatz zu bugsieren.

Die Prozedur auf der Wache ist dir bereits bekannt.

Du kommst dir vor wie ein alter Hase, ein Ex-Knacki, ein Profiverbrecher. Dein Führerschein wird dabehalten, nach der Blutabnahme könnt ihr gehen. Das heißt, zum Auto gehen, wo ihr eine Weile warten müsst, bis Werner sich nüchtern genug zum Fahren fühlt.

Ungeduldig wartest du in den folgenden Tagen auf das Ergebnis des Bluttests. Mehrmals rufst du bei der Polizeiwache an, bekommst aber nie eine eindeutige Aussage. Nach mehr als einer Woche erreichst du schließlich den zuständigen Beamten.

»0,6 Promille, da haben Sie gerade nochmal Glück gehabt! Der Führerschein ist schon in der Post, unterwegs zu Ihnen!«, bellt er dir freundlich ins Ohr. Du verstehst die Welt nicht mehr. Die Kombination Unfall-unter-Alkoholeinfluss / Immer-noch-Probezeit / Schon-mal-mit-Alkohol-aufgefallen ist doch eigentlich eindeutig: Der Lappen muss mal wieder abgegeben werden.

»Aber das verstehe ich nicht!«, flüsterst du, doch du hast Glück, der Polizist ist offensichtlich in Eile und geht nicht weiter darauf ein. So kommt es, dass du einerseits den Führerschein zurückgeschickt bekommst und somit weiterhin Auto fahren kannst, andererseits aber zu einer saftigen Geldbuße und einer MPU verdonnert wirst.

Die Tourneeleitung kommt vom Bezahlen zurück und ruft: »Dienstbesprechung!«

Fast jeden Tag gibt es kurz vor der Ankunft eine Besprechung, in Businesssprache: ein Briefing, damit zumindest theoretisch jeder auf dem gleichen Wissensstand ist und niemand sich beschweren kann, dass ihm Informationen vorenthalten würden.

»Wenn wir ankommen: sofort ausladen. Der Club ist in einer Fußgängerzone, wir packen die Backline raus und fahren gleich darauf den Bus weg. Nehmt auch eure Taschen mit, der Pennplatz ist um die Ecke. Zwei Viererzimmer, einmal Raucher, einmal Nichtraucher. Ich geh ins Nichtraucher. Verpedert wird woanders. Dann Soundcheck bis um sieben, danach Essen. Zocken ist um zehn, Curfew um zwölf. Nach dem Konzert ist angeblich noch Indie-Disco.«

»Yeah, Disco!«, ruft Kowalski und fängt an, den Moonwalk zu tanzen. Der Rest der Band applaudiert.

»Ey, Punkt neun!«, brüllt die Tourneeleitung. »Ich hab noch zwei Interviews, eins macht Mario, für das andere brauche ich noch ’nen Freiwilligen.«

»Was mache ich?«, fragt Mario.

»Ein Interview. Dieses Radioding, haben wir gestern drüber geredet.«

»Aha, wirklich? Wie heißt das Radio?«

»Radio Schieß-mich-tot, was weiß ich. Die Interviewerin heißt Sonja Hufschmied. Klang nett am Telefon. Ist um halb acht.«

»Okay.«

»Das andere ist um neun.«

»Da muss ich anfangen, mich warmzusingem!«, sage ich erleichtert.

Ich habe nichts gegen Interviews, im Gegenteil, ich begrüße es, dass Menschen an unserer Band interessiert sind und versuche immer, mir viel Mühe dabei zu geben. Aber ich habe im Vorfeld der Tour schon sauviele Interviews gegeben und bin froh, wenn ich als Sänger mich auch mal drücken kann.

»Okay. Also Kowalski und Werner.«

»Also, ich sag eh nix«, nuschelt Kowalski kaum hörbar in seinen Dreitagebart. Er hat diesen Spruch schon so oft gebracht, dass wir wissen, was er gesagt hat, auch ohne ihn akustisch verstanden zu haben.

Werner verdreht die Augen und sagt: »Jaja, ich mach das sowieso lieber alleine.«

»Also Werner. Das wars. Sonst noch Fragen?«

»Haben die einen Raum zum Warmsingen?«

»Weiß ich noch nicht.«

»Spielt die andere Band über unsere Backline?«

»Keine Ahnung.«

»Wo ist der nächste Massagesalon?«

»Es ist nicht meine Aufgabe, das zu wissen.«

»Weißt du überhaupt irgendwas?«

»Leck mich am Arsch. Weiterfahren!«

Wir trotten zum Bus und fahren weiter.

MPU, das heißt »Medizinisch-Psychologische Untersuchung«, eine Untersuchung, die beim TÜV durchgeführt wird und besser unter dem Begriff »Idiotentest« bekannt ist. Der Idiotentest muss vom Teilnehmer selbst bezahlt werden, er kostet über tausend Mark und genießt keinen guten Ruf. »Da fallen fast alle durch«, hört man immer wieder, »beinahe unmöglich, den zu schaffen!«

Tja, und hier sitzt du nun und wartest, dass du dran bist. Der Wartesaal ist voll. Du warst einer der Ersten heute Morgen, und du bist mit Sicherheit der Einzige, der selbst mit dem Auto hierhergefahren ist. Während der letzten zehn Monate ist keiner Behörde aufgefallen, dass dir irrtümlicherweise dein Führerschein zurückgeschickt wurde.

Nett von Kowalski, dass er dir seinen Kadett geliehen hat. Egal wie das heute ausgehen wird, die Fahrt hierher wird dir noch lange in Erinnerung bleiben: entweder als der Weg zum Schlachtfeld, auf dem du tapfer und erfolgreich um deine Unabhängigkeit und Ehre gekämpft hast, oder aber als die letzte Autofahrt deines Lebens.

Du bist wild entschlossen, die MPU zu schaffen. Du hast dir eine gute Story zurechtgelegt, nach der du die Schnauze voll hast vom Alkohol und außerdem dein Leben jetzt voll unter Kontrolle. Du hast den Kontakt zu deinen alten Freunden abgebrochen, bist deswegen mit deiner Freundin in eine andere Stadt gezogen und hast auch dein Studium wieder aufgenommen, das du in der Zeit vor der alkoholisierten Unfallfahrt eher hast schleifen lassen. Bis auf den Umzug, allerdings aus anderen Gründen, ist nichts davon wahr. Alles erstunken und erlogen. Na ja, eine Kleinigkeit noch, die der Wahrheit entspricht: Du willst kein Idiot sein. Du willst es beweisen, dem TÜV-Psychologen, den Polizisten, deinen Freunden und Eltern, der ganzen Welt, vor allem aber dir selbst: »Ich bin kein Idiot!«

Das Gespräch mit dem Psychologen wird ein Balanceakt zwischen »keine Lust mehr auf Saufen« und »trockener Alkoholiker« werden. Immerhin hast du zwei Monate lang keinen Alkohol getrunken, um heute deine Leberwerte in Ordnung zu haben. Von einem Rückfall mit Benja in Prag mal abgesehen, als du es nicht mehr aushalten konntest. Du warst nicht mehr in Übung, und dummerweise habt ihr noch ein paar Gläser Absinth auf die Wodka-Os gegossen. Vielleicht warst du in deinem ganzen Leben noch nie so betrunken. Als du am nächsten Tag aufwachtest, bekamst du es umgehend mit der Angst zu tun. Seitdem hast du keinen Tropfen mehr angerührt und sogar eine sechstägige Tour mit deiner Band trocken überstanden.

Als erstes wurde dir heute Morgen Blut abgenommen, das genauestens auf eventuelle Kurz- und Langzeitspuren von Alkohol untersucht wird. Dann hast du wieder die üblichen Koordinationstests über dich ergehen lassen. Mit geschlossenen Augen eine gerade Linie laufen, den Finger an die Nasenspitze führen und so weiter.

Der Warteraum ist voller Leute, die alle ihre eigene Version haben, warum sie hier gelandet sind.

»Für mich ist das keine Demokratie mehr!«, empört sich ein rotgesichtiger Mann Mitte fünfzig, Typ Landwirt. »Eine Diktatur ist das! 0,5-Promille-Grenze, und wem haben wir das zu verdanken: Schröder und seiner rot-grünen Bande!«

»Völlig richtig«, sagt die Frau neben ihm. »Und wissense watt: Ich hab denen einen Denkzettel verpasst!«

»Einen Denkzettel?«

»Ja. Ich hab Protest gewählt! NPD! Um denen da oben mal zu zeigen, dass wir nicht alles mit uns machen lassen!«

»Ja richtig, ich stand auch kurz davor.«

Etwa zehn weitere Leute sitzen im Raum. Einige geben hier und da einen Kommentar ab, andere starren wortlos ins Leere. Du gehörst zur letzteren Sorte. Es ist nicht einfach für dich, unter dieser Ansammlung von Vollidioten zu sitzen und dein Maul zu halten. Aber was solltest du diesen Leuten auch sagen. Du kannst sie nicht belehren oder erziehen. Eine Pumpgun wäre das einzig Richtige. Du hoffst inständig, dass alle von ihnen beim Psychologengespräch durchfallen und/oder auf der Stelle tot umfallen.

»Die Frau da am Empfang kann uns auch nicht leiden, wie die guckt!«, bemerkt die Protestwählerin.

»Ach, die ist doch nett!«, entgegnet der Saufbauer.

Die Protestwählerin ist anscheinend sofort umgestimmt: »Stimmt, die ist nett.«

Endlich wirst du zum Reaktionstest aufgerufen. Er verläuft wie in der Fahrschule, nur viel härter. Du sitzt vor einem Bildschirm und sollst auf Kästchen und Bälle in unterschiedlichen Farben und Formen reagieren. Für jedes Symbol gibt es einen eigenen Knopf. Zusätzlich bekommst du über einen Kopfhörer hohe und tiefe Tonsignale, bei deren Ertönen du mit dem linken oder rechten Fuß ein Pedal treten sollst. Im Fachjargon nennt sich diese foltergeeignete Übung »Test für reaktive Stresstoleranz«. Das Ganze dauert mehrere Minuten, die Signale werden immer schneller. Ganz besonders die Geräusche auf den Ohren machen dich wahnsinnig. Neben dir sitzt ein älterer Herr, der schnauft und schwitzt und nach zwei Minuten weinend zusammenbricht.

»Ich pack das nicht! Ich pack das einfach nicht!«, brüllt er und bricht ab. Du versuchst, dich nicht von seinem Gejaule ablenken zu lassen. Für kurze Zeit bist du komplett weggetreten, ohne Gefühl für Raum und Zeit versuchst du nur noch, korrekt zu reagieren und nicht durchzudrehen. Der Test kommt dir endlos vor, aber irgendwie bringst du ihn hinter dich. Ohne Umwege wirst du danach zur letzten Station geschickt, dem Gespräch mit Dr. Hansen.

Der Psychologe sitzt hinter seinem Schreibtisch und liest in deiner Akte. Er ist Mitte bis Ende dreißig, trägt einen Oberlippenbart und schaut nicht mal auf, als du dich ihm gegenübersetzt. Im Kopf versuchst du nochmal deine jüngste Lebenswandlung durchzugehen, bist aber noch viel zu durcheinander von dem gerade absolvierten Test. Dr. Hansen schaut dich skeptisch an und zieht dich ohne irgendeine Begrüßung in den Ring.

»Na, dann legen Sie mal los!«

Du krempelst innerlich die Ärmel hoch und stammelst ein paar einleitende Sätze zu der Situation, in der du mit Alkohol am Steuer erwischt wurdest. Du versuchst, zu dem überzuleiten, was sich seitdem alles verändert hat in deinem Leben. Er will nichts davon hören. Er sitzt nur zurückgelehnt in seinem Chefsessel und eröffnet dir, dass du ja ganz offensichtlich ein kompletter Versager seist, dem man gar nichts glauben könne.

»Führerscheinentzug wegen Fahrens unter Alkoholeinfluss in der Probezeit! Und dann, kaum ist die Fahrerlaubnis zurück, das Gleiche noch mal! Da muss man sich doch fragen, ob Sie noch ganz richtig im Kopf sind! Wenn das zweimal passiert, und die Dunkelziffer lasse ich mal unerwähnt, warum dann nicht noch öfter?!«

Eine berechtigte Frage, musst du gestehen. Eins zu Null für ihn. Du bist wie gelähmt. Nach gerade mal zwei Minuten hat er dich bereits in eine Ecke gedrängt und beobachtet nun, ob und wie du da wieder rauskommen willst. Du beginnst zu schwitzen. Es ist ein schmaler Grat. Du weißt, dass du ihm einerseits nicht Recht geben kannst, denn dadurch würdest du dich selbst als Deppen darstellen, zu dumm zum Scheißen und zum Autofahren sowieso. Andererseits kannst du aber auch nicht reagieren, wie du es normalerweise tun würdest, wenn dich jemand so blöd anmacht, denn dann müsstest du diesem Arschloch sofort einen guten Schwinger verpassen, wenigstens verbal. Nein, du musst dich beherrschen, ruhig bleiben. Er will ja nur testen, wie du in Extremsituationen reagierst, ob du dich unter Kontrolle hast oder aber gleich völlig ausrastest. Und du hast dich doch unter Kontrolle, oder?

Oder?

Es zieht sich endlos hin. Du redest und redest und weißt selbst nicht so richtig, was.

»Aha, elftes Semester und noch nicht mal das Grundstudium beendet, von der Sorte sind Sie also!«

»Das ist richtig, ich habe es schleifen lassen, aber ich habe selbst die Schnauze voll davon, ich will jetzt vorankommen im Leben, deshalb ja auch mein Umzug in die andere Stadt, denn so geht es nicht weiter!«

Hast du das gerade gesagt? Nicht schlecht! Damit kannst du zum ersten Mal einen Aspekt deiner vorher zurechtgelegten Geschichte anbringen. Er hat ja keine Ahnung, dass du von Anfang an nur an dem Semesterticket und der Sozialversicherung interessiert warst und in den fünfeinhalb Jahren keine einzige Vorlesung besucht hast. Natürlich könntest du von deiner Musik erzählen, wie wichtig sie dir ist, und damit leicht seine Einschätzung widerlegen, dass du jemand bist, der nichts im Leben durchzieht. Schließlich hast du seit etlichen Jahren diese Band, sie bedeutet dir sehr viel, und du spielst nicht nur Gitarre und singst, nein, du bist auch das Booking, Management und die Plattenfirma der Band, alles in einer Person! Aber du hast dich entschlossen, die Band nicht zu erwähnen, zu groß ist deine Angst, dass der bloße Begriff »Rockmusik« Assoziationen zu Alkohol und Drogen in ihm wachruft. Bon Scott, Keith Moon, Sid Vicious, Jimi Hendrix, Kurt Cobain …: Namen, von denen sogar er schon mal gehört haben könnte.

Nachdem du ihn davon überzeugen konntest, dass du ein aktives Interesse an einem Dasein als vollwertiges Mitglied der Gesellschaft hast (nimm dies, Hansen!), wird er etwas milder. Ihr redet darüber, wie du vermeiden kannst, dass so etwas noch mal passiert. Du sagst, dass du außer einem Glühwein auf dem Weihnachtsmarkt seit einem Jahr nichts mehr getrunken hast, und wenn du jemals wieder einen Tropfen trinken würdest – das »wenn« und das »würdest« betonst du in diesem Satz besonders –, dann würdest du das Auto von Anfang an stehen lassen. Das hat gesessen. Du spürst, wie Dr. Hansen einknickt.

»Jaja, immer dran denken: Taxis sind auch Autos, nech!«, lacht er. Heiser lachst du mit ihm. Die Stimmung hat sich jetzt deutlich entspannt, und bis hierher hast du dich wirklich gut geschlagen, doch doch, da kann man nichts sagen. Du glaubst schon fast, dass du es geschafft hast, als er nochmal einen Blick in seine Papiere wirft.

»Sagen Sie mal, das sieht hier aus, als ob Sie Ihren Führerschein noch hätten!«

»Ja«, antwortest du, dir wird plötzlich schwindelig, »der wurde mir wohl irrtümlicherweise zurückgeschickt.«

»Also, das kann doch nicht wahr sein, das geht doch nicht, wie geht das denn?«, schnaubt er.

»Ich habe mich natürlich auch gewundert, wollte mich aber nicht selbst anschwärzen. Ich liebe das Autofahren, und ich fahre seitdem täglich, nüchtern übrigens.«

Dr. Hansen ist verblüfft. Er sagt, so was hätte er noch nie erlebt. »Ich kann Sie ja durchaus verstehen, aber wenn ich das weitergebe, wenn die Kollegen das sehen, die lassen Sie sofort durchfallen!«

Du glaubst ihm nicht. Der kann dir doch nicht weismachen, dass nicht er allein darüber entscheidet, ob du den Fläppen behältst oder nicht! Zumindest, solange deine Blutwerte in Ordnung sind, liegt das Schicksal deines Führerscheins einzig und allein in der Hand dieses Menschen, das weißt du genau. Du hast das Gefühl, dass er sich nur noch ein bisschen am süßen Duft seiner Macht laben und dich auf die Folter spannen will. Nach kurzem Grübeln setzt er zu seinem Lucky Punch an und macht dir einen Vorschlag: Er lässt dich bestehen, wenn du einer »Nachschulungsmaßnahme für alkoholauffällige Kraftfahrer« zustimmst.

»Das ist ein fünfwöchiger Kurs, pro Woche eine Sitzung.«

Genau der Kurs, den du schon einmal gemacht hast und den du wieder selbst bezahlen müsstest. Kostet mindestens achthundert Mark zusätzlich. Also noch mal so ein beschissener Stuhlkreis mit selbstmitleidigen Versagern und einer Laber-Rhabarber-Psychologin, die euch wie Schulkinder vorrechnen lässt, nach welcher Zeit der Alkoholgehalt von fünfzehn Gläsern Bier und dreiundzwanzig Kurzen im Körper abgebaut ist. Die Vorstellung, das noch mal über dich ergehen lassen zu müssen, macht dich fertig. Andererseits gibt es bei diesem Kurs keine Prüfung. Man fällt nur durch, wenn man gar nicht oder aber betrunken zu den Sitzungen erscheint. Wenn du das Angebot annimmst, hast du den Idiotentest also bestanden. Mit einem bitteren Beigeschmack im Mund willigst du ein.

Dr. Hansen hat nach Punkten gewonnen, dich aber immerhin nicht ausgeknockt.

Als du da raus bist, gehst du schnurstracks zum Wagen. Du hast das Tape schon zurechtgespult. »There’s a sign up ahead, says ›No signs for a while‹ …« »Little Light«, dein Autofahrlied Nummer Eins. Du setzt rückwärts raus und machst dich auf den Weg nach Hause.

Was hier an Catering aufgefahren wird, ist der helle Wahnsinn. Es gibt so ziemlich jedes vegetarische Essen, was man sich vorstellen kann. Gefüllte Paprika. Eingelegte Auberginen. Brotsalat. Couscous. Spaghetti. Reis. Gemüse, Soßen, Brot, Antipasti … Sie stehen zu zehnt in der Küche, alle machen was. Eine kümmert sich um die Salate, einer schneidet Gemüse, eine deckt den Tisch, zwei stehen am Herd … Sie haben einen Ghettoblaster in der Küche, mit dem sie selbstgebrannte Mix-CDs spielen.

Ich erstarre voller Ehrfurcht und weiß nicht, womit wir das verdient haben.

»Womit haben wir das verdient?«, frage ich den Veranstalter, der sich am Getränketischchen einen Kaffee einschenkt. Er lächelt nur.

»Ich meine, ist das Catering immer so reichhaltig bei euch?«

»Na ja«, sagt er, »in der Regel geben sich unsere Küchenleute schon große Mühe, aber heute ist es besonders besonders.«

»Warum das?«

»Weil sich so viele Freiwillige zum Kochen gemeldet haben.«

»Und warum?«, frage ich nochmal, begriffsstutzig, wie ich bin.

»Weil die Leute vom Juz sich seit Wochen auf das Konzert gefreut haben. Die sind alle große Fans von euch. Sie wollen, dass ihr euch an diesen Abend erinnert, und wenn es nur wegen des Caterings ist.«

Das ist ihnen gelungen. Ich habe seit langem nicht so gut gegessen. Ich schaffe es nicht mal, von allem zu probieren. Dann bringen zwei Mädels auch noch eine Schüssel Wackelpudding als Dessert. Mit Vanillesauce.

»Die ist noch warm. Guten Appetit!«

Ich habe ein schlechtes Gewissen, weil ich nicht mehr weiter essen kann. Ich bin gerührt. Alle von uns sind es.

Wir dürfen auf keinen Fall vergessen, diesen Leuten heute Abend ein Lied zu widmen. Früher, auf den Hardcore-Konzerten in den AJZs der Republik, war das gang und gäbe – jede einzelne Band hat sich mindestens einmal während des Auftritts artig für die zerkochte Nudelpampe bedankt. Ich fand das immer aufgesetzt und peinlich. Heute dagegen mache ich mir sogar eine Notiz auf der Playlist. »ESSEN: DANKE.« Ein Ansagen-Stichwort auf der Playlist ist zwar extrem uncool, aber ich kenne mich, im Eifer des Gefechts vergesse ich solche Dinge, und das will ich auf keinen Fall riskieren.

Wackelpudding mit Vanillesauce. Wahnsinn. Das habe ich zum letzten Mal gegen Mitte oder Ende des letzten Jahrzehnts von meiner Mutter serviert bekommen.

Wo die wilden Maden graben

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