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Dies war meine zwölfte oder fünfzehnte, je nachdem wie man zählt vielleicht sogar zwanzigste Tour mit einer, meist meiner, Punkrockband. Hunderte von Einzelkonzerten und Festivals nicht mitgerechnet. Ich war in PKW auf Tour, manchmal zu fünft mit den Gitarren auf den Knien, in klapprigen Bussen mit Löchern in den Türen, in nicht mehr so klapprigen Bussen mit 220-Volt-Stromanschluss, DVD-Player und Fernseher, in Bullis, Sprintern, Zügen und Nightlinern. Man könnte meinen, ich sei nicht nur im Losfahren, sondern auch im Heimkommen ein alter Hase, aber ich stürze jedes Mal wieder völlig unvorbereitet in den Alltag zu Hause. In einen Alltag, der in meinem Fall die Ausnahmesituation ist, denn Alltag, das ist Tour: siebzehn Uhr Soundcheck, neunzehn Uhr Essen, zwanzig Uhr Türen auf, einundzwanzig Uhr Warmsingen, zweiundzwanzig Uhr auf die Bühne, halb zwölf Saufen, hier der Plan zum Hotel, du hast ein Zimmer mit Mario, Frühstück gibt’s bis um zehn, Abfahrt um elf.

Gestern sind wir zurückgekommen. Vier Wochen Deutschland, Österreich, Schweiz. Auf der Rückfahrt gab es noch die üblichen Scherze:

»Mist, ab morgen müssen wir fürs Bier wieder bezahlen!«

»Wo sind denn all die nach Zugaben schreienden Mädchen plötzlich hin!«

»Scheiße, wie soll ich mich nur zurechtfinden ohne den Zeitplan der Tourneeleitung: siebzehn Uhr Soundcheck, neunzehn Uhr Essen, zwanzig Uhr Türen auf, einundzwanzig Uhr Warmsingen, zweiundzwanzig Uhr auf die Bühne, halb zwölf Saufen …«

Auf jede dieser Bemerkungen folgte raues Gelächter, aber jeder, der schon mal auf einer längeren Tournee war, weiß, wie viel Wahrheit hinter diesen nur scheinbar scherzhaften Sätzen steckt. Und so geisterte auf der Fahrt nach Hause eine seltsame, unartikulierte Melancholie durch den Tourbus.

Oft streitet man sich auch plötzlich, farzt sich an, meist wegen Kleinigkeiten.

»Und was mir schon die ganze Zeit auf den Sack geht – dass du immer so laut gähnen musst!«

»Und du stellst ständig deine scheiß Tasche auf Stühle oder Sofas, damit sich da bloß niemand mehr hinsetzen kann!«

Alle sind nervös und aufgewühlt, gleichzeitig ausgepowert, und jeder geht anders damit um.

Manchmal sind Menschen dabei, die noch nie länger mit einer Band unterwegs waren. Meist sind es Freunde, die Merchandise verkauft oder gefilmt haben, oder nur so mal ein paar Tage mit waren, weil es noch einen freien Platz gab. Sie sagen nachher Sätze wie:

»Oh Mann, wie durchorganisiert das alles ist, ich dachte, es wird die ganze Zeit nur gefeiert und gesoffen, aber das ist ja richtige Arbeit!«

Oder auch, je nach physischer und psychischer Kondition:

»Wahnsinn, wie viel gefeiert und gesoffen wird, ich war nur drei Tage mit und war anschließend eine komplette Woche lang total platt, und ihr seid einfach weitergefahren und habt noch vierzehn Tage so weitergemacht?!«

Unterwegs zu sein ist eine Tretmühle. Es ist stumpf, monoton, kräftezehrend, und gleichzeitig ist es aufregend, glamourös, aufputschend. Man verliert nicht nur schnell den Boden unter den Füßen, sondern auch das klare Urteilsvermögen.

Es gibt einen Satz von Kettcar, die ihn wiederum bei Selim Özdogan ausgeborgt haben, und der auf mich hundertprozentig zutrifft:

»Zu erkennen, dass man glücklich war, ist leicht,

zu erkennen, dass man glücklich ist, ist Kunst.«

Ich habe mir eine Eselsbrücke gebaut, um im richtigen Augenblick zu erkennen, dass es mir gut geht, dass ich ein tolles Leben habe, dass ich tue, was ich will, dass ich selbstbestimmt lebe, dass ich die Guten an meiner Seite habe und dass das alles verdammt noch mal keine Selbstverständlichkeit ist. Eine Eselsbrücke, um den Moment genießen zu können: Ich stelle mir vor, was ich stattdessen machen würde, was ich gemacht habe, machen musste, was mir passiert ist, was hätte passieren können. Erinnerung als Relativierung der subjektiven Wahrnehmung. Fantasie als Sehhilfe. Regelmäßiges Zurückschauen, um sich zu ordnen und wieder nach vorne blicken zu können.

Wo die wilden Maden graben

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