Читать книгу Eine Prise Meersalz - Nanni Burba - Страница 10
Es war richtig! (Sagt die Yuccapalme)
ОглавлениеClaudia kriegt sich gar nicht mehr ein: »Das glaub ich jetzt nicht, dass die blüht! Ist das wirklich die alte aus Gronau?« Ungläubig starrt sie auf unsere Yuccapalme, aus der sich meterhoch eine üppige weiße Traube aus kleinen Blüten erhebt. Dann geht sie hin und betrachtet die Pracht aus der Nähe.
»Ich hab so was noch nie gesehen. Sieht aus wie lauter kleine Maiglöckchen. Total süß. Aber …«, sie geht ein Stück zurück, »… die riecht ganz schön intensiv. Gut, dass die im Zimmer nie blüht.«
Als Claudia gestern spätabends ankam, war es schon dunkel, und so sieht sie unser kleines Reich jetzt zum ersten Mal.
Wir sitzen bei weit geöffneten Fenstern am Tisch und genießen ein gemütliches Sonntagsfrühstück mit duftenden Croissants und frisch gepresstem Orangensaft mit schön viel Fruchtfleisch.
»Traumhaft, so ein Wintergarten«, seufzt sie.
Ich muss kichern. »Weißt du, wie das mallorquinische Wort dafür klingt?«
»Keine Ahnung. Wieso? Ist es was Unanständiges?«
»Nee, eher was zum Angeben. Es schreibt sich P O R C H E, aber gesprochen klingt es fast wie ›Porsche‹. Und zu Rollläden sagen sie ›Persiana‹. Wir haben schon ein paarmal unsere Familien angerufen und erzählt, dass wir gerade mit offenem Persianer im Porsche sitzen …«
Ich bin so glücklich, dass meine beste Freundin uns besucht. Obwohl wir uns fast ein Jahr lang nicht gesehen haben, sind wir sofort wieder so vertraut miteinander, als hätten wir uns erst letzte Woche getroffen. Wir sind nur am Quatschen und Rumalbern. Das hat mir so gefehlt.
Claudia starrt noch einmal kopfschüttelnd auf die Blüte. »Ich hab letztes Jahr beim Packen ja nichts gesagt, aber dass ihr den kostbaren Platz im Container für eine olle Zimmerpflanze verschwendet habt, konnte ich überhaupt nicht fassen.« Sie lacht vergnügt und nippt an ihrem Café con leche. »Das ist ja ein richtiges botanisches Wunder.«
»Ja, vor allem wenn du weißt, was wir den Pflanzen hier anfangs angetan haben …«, sage ich.
Claudia guckt fragend. »Habt ihr nicht genügend gegossen oder was?«
»Doch, schon – aber das war genau das Problem. Wir haben am Anfang ganz naiv das Wasser aus der Leitung genommen. Bis der Nachbar uns völlig entgeistert ansprach. Er hatte ein paar verkümmerte Pflanzen bei uns gesehen und zufällig beobachtet, wie wir Lillis und Auras Trinknapf mit dem Leitungswasser füllten. ›No! Noooo!‹, rief er über den Zaun, weißt du noch, Harald?«
Harald nickt. Man sieht ihm an, wie peinlich ihm unsere Ahnungslosigkeit heute ist.
»Er hat uns dann erklärt, dass wir nur das Wasser aus der Zisterne nehmen dürfen. Das ist im Winter Regenwasser; im Sommer kommt regelmäßig ein Tankwagen und füllt die Zisterne mit Brunnenwasser. Das geht ganz schön ins Geld.«
»Aber was ist denn mit dem Leitungswasser los? Was trinkt ihr? Und womit kocht ihr?«
Man merkt, dass Claudia – wie wir ja auch – den hohen Standard aus Deutschland gewohnt ist. Aber auf einer vom Tourismus überfluteten Mittelmeerinsel, wo es im Sommer monatelang keinen Tropfen regnet, kann man diese Maßstäbe nicht anlegen.
»Wir müssen immer Mineralwasser kaufen. Und leider immer in Einwegflaschen aus Plastik. Ein Pfandsystem kennen sie hier nicht. Das Leitungswasser enthält viel zu viel Salz; außerdem ist es extrem gechlort«, erklärt Harald.
Und ich ergänze: »Das Chlor hast du wahrscheinlich beim Duschen gerochen, oder?«
Claudia nickt vorsichtig. Ich sehe ihr an, dass sie Scheu hatte, es von sich aus anzusprechen, obwohl ihr ein paar praktische Fragen auf den Nägeln brennen. Als wir vorhin vom Bäcker zurückkamen, habe ich gesehen, wie ihr Blick an unserer Hauswand hochging. Und jetzt fragt sie unsicher: »Hattet ihr nicht erzählt, dass die Fassade frisch verputzt war, als ihr das Haus gemietet habt?«
Ich zucke mit den Schultern. »Ja, das mussten wir auch lernen, dass so etwas hier nicht lange hält. Wir sind eben auf einer Insel im Meer. Das heißt, dass ständig ein leichter Wind geht – und der bringt Feuchtigkeit und Salz mit. Das macht kein Putz lange mit. Siehst du hier an praktisch allen Häusern.«
»Oft nehmen sie zum Bauen auch den Sand vom Strand«, erklärt Harald. »Der ist natürlich auch salzhaltig, und das Salz wächst dann in Kristallform aus den Hausfassaden raus. Ich hab ja heute frei. Nachher, wenn Nanni arbeiten geht, zeig ich dir mal ein paar solcher Häuser. Sieht echt kurios aus.«
»Arbeiten« – das Stichwort ist gefallen. Ich kann förmlich dabei zusehen, wie Claudia in den »Ernst des Lebens«-Modus schaltet. Sie setzt sich gerade hin, legt kurz die Stirn in Falten und sieht uns beide einen Moment prüfend an, bevor sie fragt: »Wie sieht es denn aus mit Arbeit und Lebensunterhalt? Also mit Geld?«
Ich kann meiner besten Freundin auch in diesem Punkt nichts vormachen. Sie ist Steuerberaterin von Beruf (nicht unsere) und hat unsere finanzielle Misere in Gronau hautnah mitbekommen und uns oft gute Tipps gegeben. Trotzdem beginne ich mit dem Mutmach-Text: »Das Gute ist: Wenn man hier einen Job sucht, dann findet man auch einen. In der Saison jedenfalls. Wir hatten noch nie das Gefühl, dass wir plötzlich mittellos dastehen würden und als geschlagene Verlierer nach Deutschland zurückmüssten. Aber …«
Harald übernimmt: »Eigentlich hatten wir uns geschworen, nie wieder in der Gastronomie zu arbeiten, nach dem ganzen Mist in den letzten Jahren. Doch das sind nun mal die häufigsten Jobs hier. Bis wir das Richtige gefunden haben, müssen wir wohl oder übel nehmen, was sich anbietet. Übergangsweise. Wir hatten ja praktisch keine Rücklagen. Und im Winter ist beim Geldverdienen Flaute auf der Insel.«
»Also seid ihr wieder in der Gastronomie?«, fragt Claudia.
»Ich ja. Teilweise zumindest.« Ich taste mich voran. »Bei meiner Erfahrung in der Branche sind das dann auch keine schlecht bezahlten Aushilfsstellen. Aber unser Plan, eine Ferienhausverwaltung aufzumachen, steht weiterhin. Parallel zu unseren Jobs suchen wir nach dem richtigen Einstieg. Mein Gefühl ist: Irgendwann, hoffentlich sehr bald, wird sich was ergeben.«
»Wir sind öfters in einer tollen Kneipe in Santanyí, im Sa Cova, und haben da direkt viele Leute kennengelernt. Das sind echte Überlebenskünstler. Ist eine ansteckende und motivierende Atmosphäre da. Und irgendwann ergibt sich aus so einer Bekanntschaft auch mal was Berufliches. Das scheint hier oft so zu laufen«, flicht Harald ein.
Doch Claudia bleibt skeptisch: »Und was genau machst du jetzt?«, fragt sie mich.
»Heute kellnere ich in einem Lokal in Santanyí. Und morgen helfe ich in der Boutique einer Freundin aus. Außerdem hab ich auch einen …«, ich zögere kurz, »… einen Putzjob.«
Claudia schaut einen Moment richtiggehend geschockt und fast verächtlich, die Stimmung droht zu kippen.
Aber Harald fängt sie lächelnd auf: »Du weißt doch, Claudia: die alte Tellerwäscher-Geschichte. Mit solchen Jobs fängt jede Erfolgsstory an.«
Claudia spürt, dass sie etwas zu weit gegangen ist, und kriegt die Kurve. »Respekt! Ihr seid euch für nichts zu schade, wenn es um euren Traum geht. Und ich hab ja schon vor anderthalb Jahren gesagt: Wenn es jemand schafft, dann ihr beide. Dabei bleibe ich.«
Ich atme erleichtert durch und traue mich, noch etwas zu meinem Putzjob zu sagen: »Ich putze einen Tag in der Woche auf einer Finca hier in der Nähe, die ein Architekt aus Dresden für ein Jahr gepachtet hat. Er ist zum Glück sehr, sehr nett. Und großzügig. Er kennt unsere Situation und hat mir schon in Aussicht gestellt, dass ich einiges geschenkt bekomme, wenn sein Jahr hier vorbei ist. Wir bekommen demnächst zwei Fahrräder von ihm. Und Handtücher. Und Geschirr und Gläser. Sogar den übrig bleibenden Wein will er mir schenken. Er ist so ein großzügiger Mensch!«
Claudia nickt. Ihr Gesichtsausdruck ist unentschieden – irgendwo zwischen »Oh Gott, du Arme, hältst dich mit Gelegenheitsjobs über Wasser und bist auf geschenkte Handtücher angewiesen!« und »Das Richtige wird schon noch kommen«.
Dann wendet sie sich mit gespielter Strenge Harald zu: »Und was machst du?«
»Ich war gerade einen Monat lang bei einer Immobilienfirma. Und studiere jetzt mal wieder täglich die Jobangebote. Stell dir vor, es gibt gleich zwei deutschsprachige Zeitungen auf Mallorca, beide erscheinen wöchentlich. Da steht einiges Interessantes drin.«
Ich seufze: »Aber die Situation im Winter ist schon hart für die Leute hier. Ich hatte letzten Herbst, nach unserer Auswanderung, direkt einen Kellnerjob in einem Lokal in Cala Santanyí. Aber Anfang November wurde mir dann, wie allen Saisonkräften, gekündigt. Im Winter muss man von den Ersparnissen leben. Man sollte also in der Saison doppelt so viel verdienen, wie man eigentlich braucht. Als Wintervorrat. Wie bei den Eichhörnchen. Aber jetzt ist ja Sommer. Es wird sich sicher noch was ergeben dieses Jahr. Ich spüre das.«
Claudia fächelt sich Luft zu. »Apropos Sommer: ganz schön heiß hier.«
Harald und ich schauen uns an und prusten dann los. »Das nennst du heiß? Es ist gerade mal zehn Uhr. Und wir haben erst Anfang Juli. Heiß wird es nachmittags. Und im August. Was wir jetzt haben, ist ein frischer Morgen.«
Claudias Augen werden kugelrund. »Und wie kommt ihr damit klar? Ich bin jetzt schon schweißgebadet.«
»Na ja«, antworte ich, nachdem ich den letzten Bissen Brioche mit Aprikosenmarmelade runtergeschluckt habe, »den August kennen wir ja bisher selbst fast nur vom Hörensagen. Als wir letztes Jahr hier ankamen, waren zwar anfangs noch spätabends über dreißig Grad, da kann man dann echt nicht gut schlafen, aber bald danach begannen schon die ersten Regenfälle des Herbstes, und es war nicht mehr so heiß. Und hier im Haus ist es meistens angenehm kühl. Der leichte Seewind kühlt ja auch ein bisschen. Im Winter dagegen …« Ich wechsle einen Blick mit Harald, weil ich weiß, dass er die negativen Seiten unseres neuen Lebens nicht so gern anspricht. So als würden sie unsere Entscheidung grundsätzlich infrage stellen. Aber er zuckt nur mit den Achseln, was ich als »Erzähl ruhig! Wir sind doch Freunde« interpretiere.
»Claudia, du kannst dir nicht vorstellen, wie kalt das Haus im Winter ist! Ich habe noch nie in meinem Leben so gefroren wie letzte Ostern. Das muss man sich mal vorstellen! Man lebt auf Mallorca – und das größte Problem ist Kälte. Feuchte Kälte.«
Claudia schaut verunsichert – sie weiß nicht, ob sie gerade mal wieder Opfer einer unserer Ironieanfälle geworden ist. Aber Harald bestätigt mich, und die Eindringlichkeit, mit der er das Frösteln im Spätwinter beschreibt, macht klar, dass es hier nicht um einen Scherz geht. »Die Gasöfen, die wir hier haben, schaffen es nicht, das Haus warm zu bekommen. Die Wände fühlen sich immer kalt an. Aber das Schlimmste ist die Feuchtigkeit.«
»Und die Gasöfen stinken dazu noch«, ergänze ich.
Harald schiebt nach: »Ich glaube, dass die meisten Mallorquiner im Winter frieren. Die Häuser mit ihren Steinfußböden sind vor allem darauf ausgerichtet, dass man die Sommerhitze übersteht. Und sie sind nicht sehr gut gedämmt. Den Winter betrachten sie wohl einfach als Schicksal. Oder sie verreisen dann nach Asien oder Südafrika – wenn sie es sich leisten können. Richtig schlimm ist es ja auch nur einige Wochen.«
Claudia schaut mitleidig: »Stell ich mir ungemütlich vor, Weihnachten so zu verbringen. Da lob ich mir unsere gemütlichen westfälischen Häuser, wo man bei plus ein Grad und waagerechtem Regen schön eingemummelt beim Adventskaffee sitzt und …«
»Oh, nein, das hast du falsch verstanden«, unterbreche ich sie. »Um Weihnachten herum ist es traumhaft hier. Anders als von Februar bis April ist das Mittelmeer dann noch recht warm, und das Klima ist ein Traum. Die Mallorquiner nennen diese Zeit den ›kleinen Sommer‹. Der geht so bis Mitte Januar. Du kannst dir gar nicht vorstellen, was dann hier alles blüht. Der Klee, die Gänseblümchen, die ersten Mandelblüten kommen … Das ist wie bei uns … also bei euch in Deutschland im April und Mai. Die Natur explodiert geradezu, bei sommerlichen Temperaturen. Mitte Januar zwanzig Grad in der Sonne, und wir gehen im T-Shirt mit den Hunden spazieren. Herrlich! Statt eines Weihnachtsbaums haben wir uns eine Agavenblüte nach Hause geholt und geschmückt. Agaven gehen ja kaputt, nachdem sie einmal geblüht haben. Harald hat die blühende Pflanze wie bei einer Prozession durch ganz Es Llombards nach Hause getragen – ein Anblick für die Götter. Und anders als jetzt ist es dann extrem grün überall, weil es genügend regnet. Am zweiten Weihnachtstag haben wir bei strahlendem Wetter einen Spaziergang am leeren Strand gemacht. Und den Heiligabend-Schock verdaut.«
Claudia schaut fragend. »Welchen Schock?«
Ich erhöhe die Spannung ein wenig: »Harald-Schatz, für die Geschichte bräuchten wir eigentlich einen Schnaps. Aber es ist Vormittag, und ich muss ja heute noch arbeiten, also muss ein zweiter Kaffee reichen. Machst du?«
Harald erhebt sich und brummt: »Ich kenn die Geschichte ja bestens …« Er scheint nicht allzu böse zu sein, dass er sie nicht noch mal in allen Details zu hören bekommt.
Ich wende mich wieder Claudia zu: »Unser erstes Weihnachten in der neuen Heimat sollte so richtig schön traditionell sein. Natalie und ihr Freund waren hier, und ich hatte einen schönen deutschen Rinderbraten im Ofen. Vorher waren wir in Palma zum Einkaufen und haben die total entspannte, gemütliche Atmosphäre da genossen. Es gab nur ganz wenig Lichterschmuck, keine Tannenbäume und vor allem keine Konsumorgie. Geschenke machen die Spanier sich nämlich erst zu Dreikönig. Es wirkte alles völlig ungestresst und ruhig. Ein Traum, wenn man den Trubel kennt, der sonst in Palma herrscht. Jedenfalls saßen wir nachmittags bei einem Weinchen hier am Tisch, als Natalie plötzlich schnupperte. ›Mama, kann es sein, dass mit dem Braten was nicht stimmt? Es riecht gerade sehr merkwürdig.‹ Dann hab ich es auch gerochen. Aber es roch nicht verbrannt, sondern eindeutig nach Sch…«
Claudia verzieht das Gesicht: »Oh Gott! Und? Was war mit dem Fleisch?«
Harald balanciert drei gefüllte Kaffeebecher auf einem Tablett herein und serviert sie uns formvollendet. Er lässt sich in seinen Korbsessel fallen und sagt trocken: »Mit dem Fleisch war alles in Ordnung.«
Ich schaue auf Claudias Teller und frage: »Bist du fertig mit Essen? Wird ein bisschen unappetitlich jetzt.«
Claudia wedelt meine Rücksicht mit einer Geste weg: »Los! Erzähl endlich!«
»Normalerweise«, beginne ich, »geht man als Deutscher ja davon aus, dass ein Haus, in das man einzieht, an die Kanalisation angeschlossen ist. Beziehungsweise denkt man über so was gar nicht nach.«
»Wir jedenfalls nicht«, wirft Harald grimmig ein.
Ich fahre fort: »Als Natalies Freund dann mal auf die Idee kam, im Bad nachzuschauen, kam ihm alles schon entgegen. Aus dem Klo raus.«
Claudia schaut mich tapfer an, obwohl sie sich gerade zu Tode ekelt. Ich kenne sie ja.
»Wir also zum Nachbarn – am Heiligabend nachmittags! Unser Klo sei verstopft, wo wir ganz schnell einen Klempner herbekämen?! Und er so: ›Verstopfung? Ich schätze eher, dass die Grube voll ist.‹ Und wir: ›Welche Grube denn?‹ Das war unsere Maximalblamage bisher auf der Insel. Es stellte sich heraus, dass unser Haus – wie alle hier – einen ›Pozo negro‹ hat, also eine Sickergrube. Die Maklerin hatte das nicht erwähnt, weil es für sie genauso selbstverständlich war wie für uns die Kanalisation. Was sie aber (angeblich) nicht wusste: Der Vermieter hatte uns das Haus mit dreiviertel voller Grube vermietet, statt sie, wie üblich, leeren zu lassen. Und nun war sie eben voll und lief über.«
Claudia ist völlig entgeistert: »Wie haltet ihr so etwas nur aus? Ich wäre stante pede nach Deutschland zurückgeflogen nach so einer Bescherung.«
»Bescherung ist gut!« Harald lacht auf. »War ja schließlich Weihnachten.«
Ich erzähle weiter: »Der Nachbar war sehr nett. Er rief Carlos an, den Grubenentleerer. Und der sagte zu, gleich am nächsten Tag – am ersten Weihnachtstag! – zu kommen. Versuch das mal in Deutschland. Bis dahin durften wir beim Nachbarn aufs Klo. Aber auf den Braten hatte dann niemand mehr Lust, nachdem wir das Bad wieder sauber hatten …«
Harald schüttelt sich bei der Erinnerung und kappt meinen Bericht über die unappetitlichen Details: »Am nächsten Morgen um acht war Carlos dann da und erlöste uns.«
Claudia denkt gleich wieder ans Praktische: »Ist so was eigentlich teuer?«
Harald nickt. »Normalerweise hundert Euro. An dem Feiertag kostete es Zuschlag. Aber nachdem wir mit der Maklerin gesprochen hatten, kam die Nachricht, dass wir die gesamte Rechnung an den Vermieter schicken durften. Weil er verpennt hatte, die Grube vor unserem Einzug leeren zu lassen. Aber ich kann dir sagen: Von jetzt an schreibe ich an jedem Neujahrstag in ROT und GROSSBUCHSTABEN in den neuen Kalender: ›GRUBE LEEREN.‹ Immer im November. Rechtzeitig vor Weihnachten. Damit uns das nie wieder passiert. So – haben wir auch noch schönere Themen?«
Claudia nickt: »Eure Straße heißt doch Calle de la Estación, oder? Ein bisschen Spanisch kann ich ja. Aber wo soll denn hier ein Bahnhof sein?«
Ich muss schmunzeln: »Das hier ist Mallorca, Schätzchen, nicht Spanien. Deshalb heißt die Straße Carrer de s’Estació. Frag mich nicht, wieso die alles ein bisschen anders machen, aber es ist eben Mallorquín – nicht nur ein Dialekt, sondern eine eigene Sprache, auf die die Inselbewohner stolz sind.«
Harald nickt Claudia anerkennend zu: »Du hast dir sofort eine Frage gestellt, die uns erst nach Monaten in den Sinn kam: Wieso heißt das Ding hier ›Bahnhofstraße‹? Der Nachbar kennt sich zum Glück nicht nur mit Gruben, sondern auch mit der Geschichte der Insel aus. Er hat mir erzählt, dass es bis Mitte der Sechziger tatsächlich eine Bahnlinie von Palma nach Santanyí gab. Seit dem Ersten Weltkrieg ungefähr. Und dann passierte das Gleiche wie in Deutschland: Straße statt Schiene. Beide Strecken zu uns in den Südosten sind leider längst stillgelegt. Wir sind vorhin wahrscheinlich vom Flughafen ziemlich genau auf der alten Bahntrasse hierhergefahren. Heute ist das die MA-19. Bahnlinien gibt es noch von … warte … ich könnte schnell einen Plan holen …«
Ich räuspere mich und signalisiere Harald, dass sein Vortrag gerade etwas ausufert. Denn ich sehe Claudia an, dass sie es so genau gar nicht wissen wollte. Ihr geht schon seit einer Weile die nächste Frage durch den Kopf, sie löchert uns jetzt richtiggehend.
Aber sie löst die Situation einigermaßen charmant: »Ist schon gut, Harald. Meine Eisenbahnneugier hast du bereits perfekt gestillt. Danke!« Um sich dann direkt an mich zu wenden: »Ich will mir unbedingt was von diesem typisch mallorquinischen Stoff mitnehmen. Ich brauche neue Sofakissen.«
»Du meinst Llengües? Diesen gemusterten, meistens mit Blau und Weiß?«
»Ja, genau! Der ist so schön! Wie heißt der? Llengües?« Claudia grübelt und scrollt ihre Spanischkenntnisse durch, die besser sind als unsere. »Sprachenstoff?«
»Fast richtig. Zungenstoff.«
Claudia nickt: »Stimmt. Für ›Zunge‹ und ›Sprache‹ benutzen die romanischen Sprachen ja dasselbe Wort.«
»Schon in der Bibel heißt es: ›Sie redeten in Zungen‹, wenn Fremdsprachen gemeint sind. Warte mal, ich hole eben meine Vortragsunterlagen zu dem Thema«, wirft da Harald ein.
Ich liebe seinen Humor. Und amüsiere mich, weil Claudia kurz die Gesichtszüge entgleisen, bevor sie kapiert, dass Harald einen Scherz auf seine eigenen Kosten gemacht hat.
Sie grübelt weiter: »Aber wieso Zungen? Die Muster sehen doch gar nicht wie Zungen aus …«
Ich bin stolz, nun mit meinem Geheimwissen auftrumpfen zu können. »Das hat mir eine Bekannte erklärt, die schon länger hier lebt: Früher wurde der Stoff vor allem für Vorhänge verwendet. Und bei geöffneten Fenstern und Wind wehten die öfters fröhlich in der Gegend umher. Das sah dann für die Leute so aus, als strecke das Haus einem die Zunge raus. Deshalb Zungenstoff.«
Claudia schaut mich unsicher an: Wird sie schon wieder auf die Schippe genommen?
Ich zucke mit den Achseln. »So hat man es mir erklärt. Keine Ahnung, ob das stimmt. Aber wie heißt der italienische Spruch, den du immer anbringst?«
Claudia grinst. »Se non è vero, è ben trovato: Wenn es nicht wahr ist, ist es gut erfunden. Okay, damit kann ich leben.«
Dann hebt sie den Kopf: »Was ist das eigentlich für ein Geräusch? Dieses Klatschen?«
Ich schaue auf die Uhr. »Oh, Mist! Ich muss mich ja fertig machen! Wenn die anfangen, Padel-Tennis zu spielen, ist es schon zwölf durch. Harald erklärt dir, was das ist. Vielleicht könnt ihr ja auch ein bisschen zuschauen gehen, wenn ich arbeite.«
Während ich nach oben gehe, um zu duschen und mich für die Schicht umzuziehen, höre ich noch, wie Harald beginnt, diese aus Südamerika kommende und in Deutschland sehr unbekannte Mischung aus Tennis und Squash zu erklären. Hier auf Mallorca ist der Sport, wie in ganz Spanien, superpopulär, und es gibt Plätze sowohl bei uns in Es Llombards als auch in Santanyí.
Als ich wieder runterkomme, steht Claudia versonnen im Garten und blickt auf die blühende Yuccapalme: »Die ist jetzt da, wo sie hingehört.«
Und dann schaut sie mich mit einem Blick voller Liebe an: »Und ihr auch!«