Читать книгу Eine Prise Meersalz - Nanni Burba - Страница 8
Rölleken
Оглавление»Ist nun mal so. Sie hatten keine zwei Einzelzimmer mehr. Komm, ist doch schön, mal wieder in einem Bett. Ist sicher ein gutes Omen.« Harald versucht, gute Stimmung zu machen. Er weiß, dass mir eine extreme Nacht bevorsteht.
Wir sind gerade gelandet und mit dem Mietwagen – Kategorie »Kleinwagen« – kurz in unser Billighotel an der Playa de Palma gefahren, um die Koffer abzuwerfen. In unserem Doppelzimmer. Dabei nehmen wir seit vielen Jahren zwei Einzelzimmer, weil Harald nachts ein mittelgroßes Sägewerk betreibt. Er kann ja nichts für sein Schnarchen – aber ich kann auch nichts dafür, dass es mich in den Wahnsinn treibt. Immerhin haben wir das Zimmer noch wechseln können – zuerst wollten sie uns im Erdgeschoss einquartieren. Da, wo die ganze Nacht das Partyvolk am Fenster vorbeitorkelt und herumgrölt. Wobei ich immer sage: »Lasst sie doch ballern. Muss ja niemand mitmachen.«
Nun haben wir ein Zimmer im 3. Stock. Mit Balkon. Falls Harald den heute Nacht nicht absägt.
Ich versuche, mir meine schlechte Laune nicht anmerken zu lassen, und verschwinde unter die Dusche. Wie im Juli zu erwarten, ist es unfassbar heiß. Aber wenn wir uns von der Sommerhitze abhalten ließen, eine Bleibe für unser neues Leben auf Mallorca zu suchen, hätten wir uns definitiv das falsche Auswanderungsziel ausgesucht. Dann hätte es eher Island sein müssen.
Zum Glück aber lieben wir beide die Sonne, den Sommer und das Meer. Im Münsterland sind alle drei leider Mangelware.
Ich ziehe mir das Luftigste an, was sich unter meinen Businessklamotten findet. Für unsere Treffen mit Maklern und Vermietern will ich seriös aussehen. Die mögliche Frage nach Sicherheiten macht mich schon nervös genug, da will ich mich nicht auch noch underdressed fühlen.
Harald ist da unbekümmerter: helle, leichte Sommerhose, kurzärmliges Hemd und Slipper. Immerhin trägt er keine Sandalen. Wir wollen schließlich nicht mit der Sorte von Kurzzeittouristen verwechselt werden, die mit nacktem Oberkörper in Restaurants oder gar in Kirchen spazieren und diese schöne Insel »Malle« nennen. Für uns ist und bleibt der Name unserer neuen Heimat »Mallorca«.
Ich steuere unseren Mietwagen durch die Mittagshitze in den Südosten der Insel. Dass wir dort wohnen wollen, haben wir schon entschieden. Weil wir uns gleich bei unserem ersten Mallorca-Urlaub in das Städtchen Santanyí verliebt haben.
Auf der Autobahn MA-19 frage ich Harald, ob er noch wisse, wann wir das erste Mal auf der Insel waren.
»Ich weiß nur noch, dass wir die totalen Spätstarter waren. Alle, die wir kennen, haben Mallorca schon lange vor uns entdeckt. Wieso waren wir eigentlich so lange Mallorca-Muffel?«
Ich grüble. »Na ja, wegen der Hunde war Fliegen nicht so das Ideale. Und meine Eltern haben ja keine Urlaubsreisen mit uns Kindern gemacht. Höchstens mal Ausflüge. Einen Tag ins Sauerland. Oder mal an die Nordsee. Kennst ja die Westfalen. Abenteuer ist nicht so ihr Ding. Meine Eltern wollten sich lieber um ihren Garten und die Geranien kümmern. Palmen hab ich das erste Mal nach meinem Abi gesehen, während der Interrail-Tour, in Portugal.«
Harald stöhnt: »Scheißhitze! Und das schon morgens!« Die Sonne knallt direkt von vorn aufs Auto.
Mein Mann wischt sich mit einem Taschentuch den Schweiß von der Stirn. Mit der anderen Hand hält er die ganze Zeit seine Hosentasche umklammert. Denn darin steckt DAS RÖLLEKEN. Auf Hochdeutsch: ein Bündel Geldscheine. Auf Mallorca bevorzugt man Bargeld – was dem Finanzamt ganz sicher nicht gefällt. Das Rölleken enthält unsere gesamten Ersparnisse. Sonderlich viel ist nicht mehr übrig, obwohl das Haus in Gronau bereits zwangsversteigert worden ist. Die Bank hat leider alles abgegriffen … Was wir noch haben, muss reichen für die Maklerprovision, die Kaution, die ersten Mieten und für unseren Lebensunterhalt, bis wir Arbeit gefunden haben.
Vielleicht schwitzt Harald also auch, weil er für das Rölleken und damit für unsere Zukunft verantwortlich ist.
»Wir sind ja nur mit Wohnwagen verreist, als ich klein war«, erinnert er sich. »Da war Mallorca auch nicht das ideale Ziel. Ich glaube, wir waren erst 2002 das erste Mal hier. Mit über vierzig. Musst du dir mal vorstellen!«
Ich weiß es natürlich besser: »2003 war es sogar erst. Vor drei Jahren. Da hast du doch deinen Segelschein gemacht – und am Tag vor deiner Prüfung hat Natalie sich den Arm gebrochen, deswegen weiß ich das Jahr noch. Kurz vor ihren letzten Abi-Prüfungen war das. Und als du deinen Schein hattest, hat dein Segellehrer – wie hieß der noch mal? Karsten, oder? – uns angeboten, von Mallorca aus auf einem Boot mitzufahren, auf dem er Leute auf ihre Mittelmeerprüfung vorbereitete.«
Harald nickt versonnen: »Da sind wir beide das erste Mal in unserem Leben geflogen. Und haben den ersten Segeltörn unseres Lebens gemacht!«
»Und wir haben unser künftiges Zuhause kennengelernt«, füge ich hinzu. »Das hat damals zwar keiner von uns gesagt. Aber ich glaube, wir wussten es beide schon. Die Jüngste machte ihr Abi, die Situation im Liliom war schwierig, wir hatten irgendwie genug von Gronau …«
Harald grinst: »Und dann muss uns erst fast die Bude abbrennen, bis du es kapierst …«
Ich boxe ihn in die Seite. Aber dann gehen wieder beide Hände ans Steuer, denn wir müssen runter von der Autobahn und ein Haus besichtigen. El Palmer heißt der Ort.
Eine halbe Stunde später sitzen wir wieder im Auto. Reichlich ernüchtert. El Palmer ist kein Ort, sondern eine Ansammlung von verstreuten Fincas. Das erste Haus war ziemlich heruntergekommen, und die nächsten Nachbarn wären Hunderte Meter weit weg gewesen. Außerdem standen nur ein paar fast verdorrte Pflanzen herum. Das hat uns so abgetörnt, dass wir die anderen beiden Häuser in El Palmer gar nicht mehr anschauten.
Jetzt haben wir nur noch einen Schuss frei – das Haus in Es Llombards.
»Komischer Name, oder? Hoffentlich sieht es da nicht genauso aus«, unke ich.
Harald seufzt: »Ja, in Santanyí selbst wäre es natürlich am tollsten gewesen, aber das wäre …« – »… unbezahlbar gewesen. Ich weiß, Schatz. Apropos: Ist das Rölleken noch da?«
Unsere Gedanken kreisen seit Monaten fast nur um Geld. Die Finanzen sind schon seit Jahren ein schwieriges Thema, aber jetzt kommen sie mir vor wie eines dieser Flugzeuge aus einem Actionfilm, das scheinbar unaufhaltsam der Erde entgegentrudelt, weil der Pilot bewusstlos ist. Man ahnt zwar, dass der Superheld im letzten Moment aufwachen und die Kiste knapp vor dem Crash wieder hochziehen wird, aber sicher sein kann man eben nicht.
»Komm, lass uns mal optimistisch sein. Wo ist das genau? Was sagt das Navi?«
Ich folge Haralds Anweisungen, und wir erreichen schnell Es Llombards. Immerhin scheint es ein richtiger Ort zu sein. Keine idyllische Altstadt zwar, aber eine Bar, ein Restaurant, eine Bäckerei, eine Kirche und ein Sportplatz. Hier wohnen offenbar Menschen. Und zwar Einheimische.
Als wir in die Straße einbiegen, die die Maklerin uns genannt hat, sind wir sehr nervös. Wir haben kein weiteres Ass im Ärmel. Und wenn wir ehrlich sind, nicht mal eine Piksieben. Wenn das hier nicht passt, müssen wir unseren Umzug verschieben.
Vor dem Grundstück steht eine strahlende Frau, die uns sehr freundlich begrüßt. Radebrechend stellen wir uns auf Englisch vor. Unser Spanisch ist praktisch nicht existent, und noch viel weniger können wir eine der beiden Sprachen, die im Alltag auf Mallorca gesprochen werden: Mallorquín und Catalán. Was das angeht, sind wir leider genau die Sorte Auswanderer, die man manchmal im Fernsehen sieht …
Und dann kommt der Schock. Das Haus ist modern, aber kühl, steril und ohne jeden Charme. Wir brauchen nur wenige Minuten, und ich weiß: Hier werde ich nicht glücklich.
Ich bedeute der Maklerin »Bitte fünf Minuten« und ziehe Harald ein Stück weg. Ich sehe ihm an, dass er sich notfalls arrangieren würde – und er sieht mir an, dass alles in mir NEIN! schreit.
»Aber was heißt das dann?«, fragt er direkt heraus. »Dann haben wir nichts.«
Sein deprimierter Blick erzählt mir überdeutlich, welcher Film gerade in seinem Kopf abläuft: Wir verschieben die Auswanderung, dann kommt der Winter, dann müssen wir uns in Gronau einen Job suchen und eine Wohnung, und dann ist der Moment verpufft, in dem wir unser Leben noch mal neu hätten beginnen können. Sehe ich da sogar ein verdächtiges Glitzern in seinen Augen?
Ich bin hin- und hergerissen und weiß, was von den nächsten Minuten abhängt. Verzweifelt drehe ich mich wieder in Richtung des Hauses und suche in diesem Kasten nach Ansatzpunkten, um ein Zuhause daraus zu machen. Aber mein Blick rutscht immer wieder ab am glatten, weiß verputzten Beton.
Die Maklerin scheint zu spüren, dass es hier gerade um eine Lebensentscheidung geht. Sie kommt auf uns zu und redet in einem Sprachengemisch auf uns ein. Ich verstehe »otra casa« und »my road«. Offenbar will sie uns zu sich nach Hause einladen, damit wir uns sammeln und in Ruhe überlegen können.
Wie die begossenen Pudel trotten wir hinter ihr her zu den Autos und fahren ein paar Minuten durch den kleinen Ort. Sie macht vor einem Haus halt, das nicht so wirkt, als sei es ihres. Denn sie ist elegant und sieht nach Geld aus, nicht nur wegen des BMW, den sie fährt. Und das Haus, vor dem wir stehen, ist eher eine Art Villa Kunterbunt. Und vor allem ist es offenbar unbewohnt.
Der Bürgersteig vor der Haustür ist mit Grün zugewuchert, und die Fenster sind staubig. Nach mehreren Anläufen verstehen wir: Auch dieses Haus ist zu vermieten. Und die Maklerin wohnt in derselben Straße. Deshalb »my road«.
Als wir zuerst das Haus und dann den Garten dahinter betreten, spüre ich, wie Harald ganz kurz meine Hand nimmt und zudrückt. Ich weiß, was das bedeutet, nämlich: »Das ist es!«
Ich bin ganz sicher: Die meisten hätten sofort kehrtgemacht beim Anblick dieser alten Bude. Die abblätternde Farbe an den Wänden, die aus der Zeit gefallenen, teilweise zerbrochenen Fliesen in Bad und Küche, die an der Wetterseite arg ramponierten Fensterrahmen … alles nicht sehr einladend. Aber wir sehen sofort das Potenzial. Wir haben beide ein Faible für Altes und verwandeln Schmuddelcharme gern in echten Charme. Und das Wesentliche stimmt: Die Elektrik ist neu, die weiße Fassade ist frisch getüncht, und die Miete liegt im Rahmen dessen, was wir uns überlegt haben. Es gibt einen Porche, also einen Wintergarten, den man öffnen kann zum Patio hin; das ist ein gepflasterter Innenhof beziehungsweise eine Terrasse. Und dahinter ist ein kleiner Garten – für die Hunde absolut perfekt.
Die Lage am Rand von Es Llombards ist ruhig und eher dörflich. Und: Die Maklerin stellt keinerlei Fragen, wie man sie aus Deutschland kennt: woher wir kommen, was wir machen, was wir verdienen, welche Sicherheiten wir haben und so weiter. Auch »Schufa« scheint hier ein Fremdwort zu sein, was uns ziemlich erleichtert. Man weiß ja nie, was die so melden.
Ich muss mich gar nicht mehr absprechen mit Harald. Ich sehe ihm an, dass er schon plant, woran er als Erstes basteln wird nach unserem Einzug. Wir sind uns ohne Worte einig.
Ich wende mich der Maklerin zu, strahle sie an und sage immer abwechselnd »Sí!« und »Gracias!« und wieder »Sí!« und »Gracias!« und immer so weiter. Bis sie lauthals zu lachen beginnt und den Hausbesitzer anruft.
Die Verabredung für den nächsten Tag ist schnell gemacht, dann soll der Vertrag unterschrieben werden. Mietbeginn: 15. August 2006. In vier Wochen. Wir können es selbst kaum glauben.
Später, als wir uns von der Maklerin verabschiedet haben, fallen wir uns in die Arme. In mir tobt eine verrückte Mischung aus Erleichterung, ungläubiger Freude und Angst vor dem Kommenden. Wir haben beide wacklige Beine und müssen uns aneinander festhalten.
Während wir zurück nach Palma fahren, reden wir wenig. Jeder hängt seinen Gedanken nach. Und wir sind müde. Die Sonne brennt erbarmungslos vom Himmel. Es ist erst unsere zweite Sommer-Erfahrung mit der Insel. Nach unserer Premiere 2003 waren wir ein paarmal während der Karnevalstage hier, weil dann im Restaurant in Gronau nicht so viel los war. Wer feiern wollte, fuhr dafür nach Köln oder Düsseldorf, alle anderen vergruben sich zu Hause oder verreisten. Und nun werden wir also den Mittelmeersommer jedes Jahr erleben, und zwar monatelang!
Allmählich dämmert uns, was wir Tolles vorhaben. Aber auch, welches Wagnis wir eingehen. Ich denke wieder an Claudias Maschinengewehr-Fragen. Fast keine davon ist bisher beantwortet.
In Palma kaufen wir uns ein Weißbrot, etwas Käse, die typische Sobrasada-Rohwurst sowie Oliven. Und gönnen uns eine Flasche Wein für unser Abendessen im Hotelzimmer. Einen Restaurantbesuch können sich die ehemaligen Restaurantbesitzer leider nicht leisten.
Während des Essens – draußen wird es allmählich dunkel, aber leider kühlt es kaum ab – beginnen wir zu planen: Was kommt in welches Zimmer? Was wollen wir am Haus verändern? Was müssen wir anschaffen? Was können wir aus Gronau mitbringen? Die Planung endet aber irgendwann in hilflosem Gekicher, weil wir weder Fotos noch Pläne haben und uns völlig unterschiedlich an das Haus erinnern. Harald meint, ich hätte bereits mehrere nicht existente Zimmer frei erfunden und verplant … Wir nehmen uns vor, am folgenden Tag Fotos zu machen und die Zimmer zumindest grob auszumessen. Einen Zollstock hat mein schlauer Mann nämlich immer dabei.
Irgendwann ist es Schlafenszeit – wir sind ja frühmorgens mit dem ersten Flieger aus Düsseldorf gekommen und entsprechend früh aufgestanden. Bevor wir das Licht ausmachen, steht Harald unschlüssig vor dem Bett, mit dem Rölleken in der Hand. Schließlich stopft er es unter sein Kopfkissen. Sicher ist sicher. Ich bekomme das aber nur halb mit.
»Ich weiß jetzt, warum die Wände hier aussehen wie ›Pommes rot-weiß‹«, sage ich genervt und füge mit einem gezielten Schlag eine weitere Ketchup-Spur hinzu. »Hier sind jede Menge Mücken!«
Harald zuckt mit den Schultern und tut dann, was mich seit Langem vor Neid fast platzen lässt: Er dreht sich um und schläft ein. Währenddessen liege ich – todmüde und hellwach – neben ihm und denke nach. Über das Haus und das Geld und unsere Zukunft und den Mietvertrag. Außerdem höre ich dem fiesen Sirren der Mücken zu, die sich sehr über das deutsche Nachtmahl zu freuen scheinen. Und in das Sirren mischen sich irgendwann unüberhörbar Haralds typische, kurze Atemaussetzer – die Vorboten des Schnarchens. Ich nicke zwar ab und zu kurz ein, schrecke aber immer wieder hoch. Und beginne, ihn anzutippen und wachzurütteln, damit er sich dreht. Aber er knurrt nur und schnappt dann weiter nach Atem. Das Schlimmste ist das Warten auf das nächste Schnapp- und Schnarchgeräusch. Weil ich genau weiß, dass es kommt.
Irgendwann schüttle ich ihn völlig entnervt und sage laut: »Das Geschnarche muss aufhören! Jetzt!« Woraufhin er wütend aufsteht, wortlos seine Matratze und sein Bettzeug auf den Balkon schmeißt und sich dort wieder hinpackt …
Aufmerksame Leserinnen fangen jetzt sicher schon an zu zählen: Einundzwanzig, zweiundzwanzig, dreiundzwanzig …
»Nanni! Das Rölleken! Ist es bei dir im Bett?!?«
Ich fahre hoch, mache das Licht an und suche mein Bett ab. Nichts!
Wir suchen das ganze Zimmer ab. Nichts. Wir suchen Haralds Bettzeug und den ganzen Balkon ab. Nichts.
Harald nähert sich bereits der Panik. Wenn das geschieht, werde ich zum Ausgleich immer ganz ruhig. »Verlier jetzt bitte nicht die Nerven!«, flehe ich und suche noch mal systematisch alles ab. In den Bettbezügen, in den Klamotten, in den Taschen, in den Schränken und Nachttischchen. Sogar in der Kloschüssel schaue ich nach. Nichts!
Offenbar ist das Rölleken vom Balkon gefallen. Liegt es im Pool? Hängt es in einer Palme? Oder freut sich längst ein Ballermann-Heimkehrer über den unverhofften Lottogewinn?
Harald macht sich schon bereit runterzulaufen und zu suchen. Er würde das notfalls auch splitternackt tun. Ich schaue auf die Uhr: 2.13.
»Harald, ich suche noch einmal alles ab. Komm bitte mal mit der Nachttischlampe auf den Balkon.« Und dann muss ich einen Freudenschrei unterdrücken, der das ganze Viertel geweckt hätte: Denn am äußersten Rand des Balkons liegt das Rölleken.
Es wirkt wie eine Szene aus einem Film. Einen Zentimeter weiter, und es wäre runtergefallen. Wir hätten auch beim Suchen und Herumtasten im Halbdunkel leicht dagegenstoßen und es runterwerfen können.
Zum zweiten Mal heute stehen wir mit weichen Knien da und halten einander fest. Und das Rölleken. An Schlaf ist nicht mehr zu denken. Den Rest der Nacht sitzen wir völlig durch den Wind auf dem Bett und reden wirres Zeug.
Irgendwann dreht sich Harald zu mir und schaut mir in die Augen. Mit zitternder Stimme sagt er: »Ist dir klar, dass …« Ich schneide ihm das Wort ab, weil ich es nicht hören will. »Ja, das ist mir absolut klar.«
Wäre das Rölleken weg gewesen, hätten wir die Auswanderung vergessen können.