Читать книгу Eine Prise Meersalz - Nanni Burba - Страница 7
Das Fass läuft über
Оглавление»Was ist denn mit den Hunden los?« Schlaftrunken richte ich mich auf. Neben mir brummt Harald im Halbschlaf irgendetwas Unverständliches.
Es ist stockdunkel und kalt, und ich habe das Gefühl, aus reinem Blei zu bestehen. Habe ich überhaupt schon richtig geschlafen? Auf jeden Fall nicht annähernd genug.
Neben mir atmet Harald schon wieder tief und gleichmäßig. Die Versuchung, mich ebenfalls wieder in die Kissen sinken zu lassen, ist übermächtig. Es war mal wieder einer dieser langen Winterabende im Lokal, und ich fühle mich wie gerädert. Aber dass die Hunde so unruhig sind, lässt meine Alarmglocken schrillen. Ganz hinten in meinem Kopf und sehr unangenehm: Sind die schon seit Langem gefürchteten Einbrecher da? Wir wohnen direkt über dem Restaurant und haben uns schon oft vorgestellt, was wäre, wenn dort jemand einstiege. Nun ja, ganz ehrlich: Ich habe es mir vorgestellt. Mein Mann schiebt so was ja gern weg, wie die meisten seiner Geschlechtsgenossen. Lieber nicht an Unangenehmes denken, dann passiert es schon nicht, ist sein Motto. Auf gut Deutsch: Decke übern Kopf ziehen und sich tot stellen.
Und genau das tut mein Liebster jetzt auch, als ich ihn erneut anspreche und dazu an ihm rüttle: »Harald! Einbrecher!«
Er schnaubt genervt und murmelt: »Ist sicher nur Vollmond. Oder der Nachbar geht wieder mitten in der Nacht Gassi.« Und zieht sich tatsächlich die Decke über den Kopf.
Aber eine Sekunde später fährt auch er hoch. Aura, unsere Hovawart-Hündin, bellt nun so energisch und alarmiert, dass auch dem verschlafensten Gastwirt klar werden muss: Hier stimmt was nicht!
Harald greift sich den Baseballschläger, der für solche Situationen bereitliegt (Ha! Er hat also doch darüber nachgedacht!), und wir schleichen die Treppe hinunter.
Die Hunde stehen vor der Brandschutztür, die die Treppe zu unserer Wohnung vom Lokal trennt, und bellen wie wild. Wir horchen mit klopfendem Herzen an der Tür – nichts. Aber dafür bemerken wir etwas anderes: Es riecht. Und zwar nach Rauch. Panisch öffnen wir die Tür – und stehen in dichtem Qualm.
Und was macht Nanni, die gerade vor vier Monaten ihre dritte Brandschutzübung absolviert hat? Sie stürzt schreiend zum Fenster und reißt es auf. Als ich bemerke, wie blöd das war, und mir der Satz des Brandschutz-Fuzzis »Feuer liebt Frischluft« wieder einfällt, ist es schon zu spät: Aus dem Schwelen und Kokeln wird ein munteres Feuerchen.
Zum Glück hat Harald geistesgegenwärtig den Feuerlöscher geholt und die Stelle gelöscht, wo die Flammen den Gasflaschen am nächsten kamen, die hinter dem Tresen stehen. Offenbar war Glut aus dem Kamin gefallen und hatte die Teppiche davor entzündet.
Als die Feuerwehr da ist, haben wir die Lage schon weitgehend im Griff. Aber das gilt ganz sicher nur für die akute Bedrohung durch das Feuer. Ansonsten hat die Misere uns im Griff, und zwar fester denn je.
Am nächsten Tag in diesem Januar 2006 sitzen wir völlig übermüdet und verzweifelt vor zwei Pötten mit lauwarmem Kaffee. Draußen wird es schon wieder dunkel. Unsere ganze Wohnung stinkt nach Qualm – die Klamotten, die Bücher, das Bettzeug, unsere Haare und sogar die Hunde. Einfach alles. Aber das ist bei Weitem nicht das Schlimmste. Beide Räume des Liliom sind unbenutzbar – um das festzustellen, brauchen wir gar nicht auf den Gutachter der Versicherung zu warten. Also Umsatz ade. Und dabei brauchen wir jeden einzelnen Tag, um wirtschaftlich zu überleben.
Geheult habe ich schon den ganzen Tag. Und zwischendurch telefoniert und dabei weitergeheult. Mit unseren beiden Töchtern, mit meinen Eltern, mit Freunden, mit der Versicherung. Und mit der Bank. Das war das Schlimmste. Denn wir waren schon vor dem Feuer nicht besonders gut aufeinander zu sprechen.
Aber jetzt durchfährt mich plötzlich ein Energiestoß. Der Kaffee kann es nicht sein, der schmeckt nur bitter und eklig. Aber mit einem Mal richte ich mich auf, schaue meinem Mann in die Augen und sage sehr laut und deutlich: »Harald, das war ein Zeichen! Wir müssen hier weg!«
Ich sehe, wie mein Mann sich mühsam aus seiner Lethargie tastet wie aus einem dunklen Tunnel. Ganz hinten in seinen Augen entdecke ich ein schwaches Leuchten. Er schaut mich an und fragt unsicher: »Du meinst … weg? So richtig?« Ich nicke. Und muss schon wieder heulen.
»Wirklich ausgerechnet Mallorca?! Könnt ihr überhaupt Spanisch? Und wovon wollt ihr da leben?« Meine beste Freundin feuert ihre Fragen ab wie aus einem Maschinengewehr. Der Brand ist einige Tage her, und unsere Küche, in der wir bei der ersten Flasche Wein sitzen, stinkt noch immer nach Rauch, wie Claudia mir bestätigt hat. Ich atme tief durch und denke, dass es heute kaum bei einer Flasche bleiben wird.
Meine Freundin ist aufgewühlt. Sie hat sichtlich zu kauen am Schock der Neuigkeit. Auswanderung! Und während ich sie anschaue und nach Worten suche, die die Nachricht leichter verdaulich machen, wird mir erstmals so richtig klar, dass ein Neuanfang nicht ohne eine Menge schmerzlicher Abschiede zu haben ist. Man lässt so vieles zurück: Erinnerungen und Orte – und vor allem Menschen.
Claudia muss reden, und ich nehme mich erst mal zurück. Zum Glück ist sie nicht so nah am Wasser gebaut wie ich am Tag nach dem Brand, sonst wäre der Flüssigkeitsbedarf heute noch größer: Wein gegen das Weinen. Claudia ist aber eher der hemdsärmelige Typ. Sie will das Wie und Wann und Warum so genau wie möglich verstehen. Das ist ihre Art der Verarbeitung.
Das Problem ist, dass ich auf viele Fragen auch noch keine Antwort habe. Ganz im Gegenteil: Im Stillen hatte ich mir wohl Claudias Hilfe beim Ordnen meiner Gedanken erhofft, als ich sie heute spontan einlud. Ich hatte sie mit einem unwiderstehlichen Satz gelockt: »Es gibt heftige Neuigkeiten!« Hat natürlich funktioniert. Und jetzt sitzt sie hier, zupft hektisch an ihrem Pullover herum und sucht immer wieder meinen Blick. So als hoffe sie, darin den erlösenden Schalk zu entdecken, der ihr sagt: »War alles nur ein Scherz.«
Aber ich meine es ernst. Das beginnt sie jetzt nach und nach zu verstehen.
Die Gemüsesuppe steht unberührt vor ihr und wird kalt, während sie weiterfragt: »Ist das ein Spontanentschluss? Eine Kurzschlussentscheidung?«
Das kann man nun wirklich nicht sagen. Und wie aufs Stichwort kommt Harald rein. Er hatte Verständnis für den Bedarf nach einem Frauengespräch, aber nachdem er gerade mit einem befreundeten Handwerker das ausgeräucherte Liliom begutachtet hat, braucht er jetzt auch ein Glas Wein.
Ich schaue ihn fragend an, aber sein Blick sagt deutlich: Besprechen wir später, zu zweit. Und so kann ich mich, als er sich ins Wohnzimmer zurückgezogen hat, wieder Claudias Frage zuwenden.
»Harald denkt schon viel länger darüber nach als ich. Solange die Kinder noch im Haus lebten, war das ja nur Rumgespinne. Aber du kennst den Satz des größten Rockers, den unsere Stadt hervorgebracht hat, oder?«
Klar kennt Claudia Udo Lindenbergs Antwort auf die Frage, welche die schönste Straße in seiner Geburtsstadt Gronau sei: die, die da herausführe! Das haben ihm die Lokalpresse und die versammelten Provinzgrößen natürlich sehr übel genommen.
»Aber«, sage ich, »ich habe immer genau verstanden, was er meint. Schließlich wohne ich jetzt schon seit … oh Gott! … seit fast fünfzig Jahren in diesem Nest.«
Claudia seufzt. Ihrem Gesichtsausdruck ist zu entnehmen, dass auch sie manchmal leidet unter der Enge dieser Kleinstadt direkt an der holländischen Grenze. Doch ihr Platz ist und bleibt hier.
Nach einem kurzen Moment der Resignation und der Stille beugt sie sich wieder vor und fragt weiter: »Meint ihr wirklich, dass ihr euch dort jemals zu Hause fühlen könnt? Und was ist mit deinen Eltern, Nanni? Und meint ihr wirklich, dass man auf einer Insel, die alle nur mit Urlaub und Freizeit verbinden, eine vernünftige Arbeitseinstellung hinkriegt? Und was ist mit eurer Altersversorgung? Und wenn ihr mal krank werdet?« Claudia hat sich jetzt richtig in Rage geredet. Ihr Gesicht ist gerötet, und sie gestikuliert so heftig, dass ich sicherheitshalber ihr Glas aus der Wedelzone nehme. Dann aber sackt sie plötzlich regelrecht in sich zusammen. Mit dünner Stimme meint sie: »Ach, Nanni, ich will doch einfach nur nicht, dass du weggehst.«
Nun kommen uns doch beiden die Tränen. Und während wir uns in den Armen liegen, denke ich: Klar ist sie einfach nur traurig. Aber ihre Fragen waren leider trotzdem voll auf die Zwölf.