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Drittes Kapitel.

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So kam es Schritt um Schritt näher, das Elend.

Als der Amtsrichter am nächsten Abend erschien, um seine Partie „Schach“ mit dem Professor zu spielen, hob Margret das bleiche Antlitz voll herber Entschlossenheit und sagte zu Frau Agnes: „Entschuldigen Sie mich mit Krankheit, — ich mag nicht in die Stube gehen.“ —

Da gab es einen bösen Austritt.

Das junge Mädchen aber entfloh in ihr Stübchen, schloss sich ein und war selbst dem zornigsten Klopfen der Wirtschafterin gegenüber taub.

Herr Hettstädt wunderte sich, dass Fräulein von Uttenhofen weder vor noch nach dem Essen erschien, und auch der Professor fragte erstaunt, wo seine Nichte denn bleibe?

„Sie hat sich beim Kochen die Hand verbrüht!“ seufzte Frau Agnes. „Du liebe Zeit, das arme Seelchen will es immer so besonders gut machen, wenn der Herr Amtsrichter kommt, dass sie jede Vorsicht und Schonung hintenansetzt!“

„Oh! Oh!“ nickte der ältliche Freier voll wohlwollender Rührung. „Es ist schön, wenn ein Weib so selbstlos und wirtschaftlich veranlagt ist!“

„Ei, da muss ich doch mal nach ihr sehn —“, sagte der Professor und schob das Schachbrett zurück, die liebe, gute Agnes aber hielt ihn energisch am Ärmel fest und befahl: „Sie bleiben hier! Das Mädel ist jetzt besser allein! Aber ein neues Paketchen Tabak können Sie geben, Herr Professor, der Beutel ist leer, und der Pfeifenkopf unseres lieben Gastes dampft kaum noch!“

„O, ich bitte Sie ... das hat noch Zeit ...“ wollte der Amtsrichter bescheiden ablehnen, — Frau Agnes schob aber ihren Brotherrn bereits dem Nebenzimmer zu.

Als sie die Tür hinter ihm geschlossen, lehnte sie sich freundlich und gewichtig auf den Sessel des Amtsrichters. Na, wie hat das Kalbskopffrikassee heut abend geschmeckt?“

„Ah — grossartig! Delikat!“ schmunzelte Hettstädt und sah noch bei der Erinnerung ganz verklärt aus.

„Das ist eher zu kauen, als wie wilde Karnickel und Musbrot?“ kicherte die Alte, und dann nickte sie seufzend vor sich hin: „Hat die Margret so schön gekocht, — das arme Wurm das!“

„Armes Wurm, — ei so ... wegen der Hand ...“

„Ach was! Hand! — Die ist ja längst wieder gut, wegen solcher Kleinigkeit verzieht ein Mädchen wie unsere Kleine überhaupt keine Miene! Nein, nein, — dem armen Kind liegt ein anderer Kummer auf dem Herzen ...“

„Ei, ei! — Doch nicht etwa der Leutnant?“

„Narrheit! Wo denken Sie hin!“

„Hm, — wäre mir auch ärgerlich!“

„Nein, es ist was anderes!“ — und Frau Agnes seufzte noch tiefer.

„Können Sie es mir nicht anvertrauen, meine liebe Freundin? Sie wissen, das Mädchen interessiert mich!“

„Je nun — wenn Sie es denn durchaus wollen — es betrifft nämlich auch Sie ...“

„Auch mich? — Ei, das wäre ja! —“

„Sie wissen ja, wie die Leute hier sind — —“

„Und ob ich das weiss!“

„Na, sehen Sie, da haben so ein paar giftige Zungen dem kleinen Unschuldslamm zu hören gegeben, sie angele nach Ihnen und wolle Sie dem alten Reff, der Doktorslina, abspenstig machen! Als ob Sie je an die gedacht hätten ... die mit den Salzheringen und dem wilden Karnickel ...“

„Ich denke nicht daran! Kein Pferd denkt daran!“ fuhr Herr Hettstädt entrüstet auf.

„Sag’ ich’s nicht! Und nun machen Sie schon wieder die Margret und Sie zum Stadtklatsch! Na, das mag ja kein anständiges Mädchen leiden, noch dazu, wenn ihr Herz dabei getroffen wird ...“

„Ihr Herz?!“

„Na, na, Sie Schäker, das haben Sie doch längst gemerkt, dass das Mädel bis über die Ohren in Sie vernarrt ist? Den Leutnant, trotz aller Schönheit und Schneidigkeit, haben Sie glänzend aus dem Sattel gehoben!“ —

„Was der Tausend!!“ Der Amtsrichter machte ein etwas sauersüsses Gesicht, teils geschmeichelt, teils etwas ängstlich besorgt um seine so viel begehrte Hand.

„Und weil dem nun mal so ist, kann die Margret das Geklatsch erst recht nicht aushalten!“ fuhr Frau Agnes fort und stemmte die Arme resolut in die Seiten. „Und darin hat sie recht, denn ein feines Fräulein darf nicht in den Mund der Leute kommen, und unsere Margret am wenigsten. Wenn Sie nicht Ernst machen und um sie anhalten, schadet ihr das Gerede furchtbar, und wenn der Berliner Anbeter davon hört, dann zieht er sich womöglich zurück. Das geht aber nicht, denn er ist reich und kann heiraten. Die Margret ist aber eine arme Waise — freilich beerbt sie später mal den Professor — und das ist ein tüchtig Stück Geld — vorläufig aber muss sie noch sehen, wie und wo sie unterkommt. Und da wird sie eben den Husar nehmen müssen, falls eben ein anderer nicht zuvorkommt —“

„Na, so eilig ist die Sache doch nicht —“

„Doch sie ist eilig! Der Berliner kommt noch im Laufe des Monats her — und da darf kein Geklatsch mehr sein, bis dahin müssen Sie wieder zu Doktors gehn —“

„Ich? Fällt mir gar nicht ein!“ Der Amtsrichter rückte sehr unbehaglich auf dem Sessel hin und her, während Frau Agnes ihm seufzend das Glas voll Wein schenkte.

„Was hilft’s? Sie müssen, lieber Freund, denn hierher können und dürfen Sie nicht mehr kommen —“

„Wa — was da?!“

„Nein, es geht nicht. Sie bringen dadurch unser armes Mädel ins Gerede. Entweder verloben mit ihr — — oder wegbleiben! — Schade, schade! Das liebe Kind wollte gerade für das nächstemal so eine feine Leberpastete mit Trüffeln machen, und der Professor hat ein neues Fass Moselwein bestellt — wenn die Krebszeit anfängt, Herr Amtsrichter — wir essen viel Krebse ... o und die arme Margret ... ihr wird ja das Herz brechen, wenn Sie wegbleiben!“ —

Die Sprecherin hob den Schürzenzipfel an die Augen und schütterte vor innerlichem Schluchzen derart, dass ihre massige Gestalt wogte: „Die schlechten Menschen! — Die abscheulichen Klatschmäuler, wie waren wir so harmlos froh mitsammen!“ — Der Amtsrichter war aufgesprungen und fuhr mit gespreizten Fingern durch sein spärliches Haar. Mit grossen Schritten rannte er in der Stube auf und nieder.

„Ja, diese Elenden — diese Gottvergessenen! Infame Bande hier!!“ schimpfte er ingrimmig, und dann blieb er mit blinzelnden Augen vor Frau Agnes stehen: „Aber sagen Sie, Liebe, Teuerste! Liesse sich denn kein Ausweg finden? Wenn ich nun zum Beispiel öffentlich erkläre, dass ich überhaupt niemals zu heiraten gedenke, dass ich weder die eine noch die andere nehme ... dass ich nur aus Freundschaft für den Professor hier so viel im Hause verkehre — —“

Frau Agnes kniff entschlossen die Lippen zusammen.

„Glaubt ja kein Mensch! Im Gegenteil — das stellt die Margret erst recht bloss. — Nee, nee, Freundchen, is nich. Entweder verloben, oder wegbleiben!“

„Aber teuerste Frau — ich verspreche Ihnen, dass der Ruf des Fräuleins ...“

„Entweder verloben — oder wegbleiben!“ wiederholte Frau Hauser mit erhobener Stimme und schlug zur Bekräftigung mit der flachen Hand den Kork tief in die Weinflasche. —

Hettstädt zuckte mit tückischem Blick die Achseln. „Je nun, so will ich’s mal überlegen ...“

„Schön, überlegen Sie. Am Mittwoch gibt’s die Leberpastete mit Trüffeln, — schmeckt uns auch alleine gut.“

Leberpastete mit Trüffel! Just das, wofür auch der Amtsrichter ohne Besinnen das Recht der Erstgeburt hergegeben hätte! Aber jetzt gleich ... nachdem die Alte ihm derart das Messer an die Kehle gesetzt ...

Nein, ein bisschen zappeln lassen musste er sie auch.

Verstimmt warf er sich in den Sessel zurück und schob mit nervöser Hast die Schachfiguren auf dem Brett zusammen.

Der Professor trat wieder ein.

Er war ganz harmlos.

„Liebe Agnes ... ich finde trotz alles Suchens den Tabak nicht, und hatte ihn doch wie immer in der dritten Schublade liegen ... aber vielleicht können wir heute mal die guten Zigarren probieren, mir ist gerade so lecker darauf! ... Was meinst du, liebe Agnes ... diese hier — —“

Ganz betroffen und erschreckt verstummte der Sprecher, denn seines Hauses milde Hüterin hatte ihm das Kistchen sehr gelassen und sehr bestimmt aus der Hand gerissen.

„Diese Zigarren, wo das Stück fünfzig Pfennig kostet? Aber Herr Professor! Sie wissen doch, dass das die Verlobungszigarren sind! Die hat der brave Herr Vetter ehemals für ganz besondere Ereignisse bestimmt, weil es eine ganz grossartige, fürstliche Zigarre sei, wie in Rügenfurt noch keine geraucht worden ist! Da haben Sie doch selber gesagt: ‚Die soll mal der Bräutigam unserer Kleinen rauchen!‘ — na — und Sie wissen doch, dass der Husar sich schon angemeldet hat!“

„So, so! — Wirklich, liebe Agnes?“ stotterte Herr von Uttenhofen und sah voll Sanftmut und Geduld der energischen Hausdame nach, die mit den Zigarren im Arm gravitätisch durch die Tür wuchtete.

Der Amtsrichter hatte die Nüstern schon aufgeblasen und mit aufleuchtenden Augen das Kistchen angestarrt, das durch sein vielverheissendes Etikett zu den grossartigsten Hoffnungen berechtigte.

Jetzt sanken diese Hoffnungen in ihr ödes Nichts zusammen.

Nicht der zärtlichste Blick folgte der Entschwindenden, und mit leisem Seufzer setzte sich auch der Professor wieder in seinen Sessel zurück.

„Wir wollen weiter spielen!“ —

Schweigsam, langweilig sassen sich die Herren gegenüber. Dieses dumme kleine Ding, die Margret, dass sie so empfindlich war! Wie angenehm war es doch gewesen, wenn sie mit ihrer Handarbeit neben dem Amtsrichter am Tisch sass und ihn so freundlich anlächelte ...

Potzwetter ja, hübsch war die kleine Hexe! Das liess sich nicht leugnen, der junge Pastor hatte neulich erst im „Löwen“ behauptet: „Fräulein von Uttenhofen ist eine hervorragende Schönheit, wie kommt diese Perle in die so sehr gewöhnliche und unbedeutende Muschel Rügenfurt?! —“

Und Leutnant Olmütz sollte bei dem letzten Liebesmahl in der Sektlaune geäussert haben: „Margret ist das wonnigste Weib unter der Sonne — und ich werde sie besitzen, um jeden Preis!“

Wahrlich, wird er? — Je nun, wenn der Herr Amtsrichter Hettstädt nichts dagegen hat! Wenn er den Rivalen nicht glänzend aus dem Sattel wirft! —

Nächsten Mittwoch also Leberpastete mit Trüffeln — und die famosen Zigarren ... schade, wenn die ein Mensch wie der Olmütz rauchen würde ...

Hm — wollen einmal sehen ...

„Amtsrichterchen — Sie müssen aufpassen! Sie sind nicht bei der Sache!“ schmunzelte der Professor. „Wenn Sie die Königin nicht sicher nehmen, werden Sie mattgesetzt! —“

„Hihi! nehmen Sie man die Königin sicher!“ lachte Frau Agnes spöttisch von der Tür herüber, „sonst ist sie plötzlich futsch, und ein anderer isst die Pastete und die Krebse ...“

„Wie meinst du, liebe Agnes?! —“

„O, Frau Hauser scherzt ein wenig mit mir! —“ lächelte Herr Hettstädt und umkrallte mit gierigen Fingern die arme, kleine Königin.

Welch furchtbare Tage!

Wenn jemals ein hilfloses Menschenkind erfahren hatte, was es heisst, unter der Gehässigkeit und Bosheit eines rachsüchtigen Weibes zu leiden, so war es Magret von Uttenhofen. Wenn Frau Agnes ihr das Haus des Onkels nie zu einem angenehmen Aufenthalt gemacht hatte, so verwandelte sie ihr dasselbe jetzt zur wahren Hölle.

Voll Verzweiflung rang das junge Mädchen die Hände.

Was sollte sie beginnen, um diesem — oder dem künftigen Elend zu entrinnen?

Ach, kein rettender Ausweg zeigt sich.

Schon früher hatte sie monatelang vergeblich sich um eine Stelle als Kinderfräulein oder Gesellschafterin bemüht, — doch trotz der bescheidensten Ansprüche fand sie nichts Geeignetes.

Hervorragende Talente besass sie nicht, die Lebensstellung einer Bühnenkünstlerin widerstrebte ihr, — was sollte sie tun?

Hier im Hause war ihres Bleibens nicht länger, das sah sie ein.

Sie war eine Last, eine Bürde, unter der der alte Onkel doppelt litt.

Er musste die furienhafte Laune seines Faktotums Agnes ertragen und ausserdem noch namhafte Geldopfer bringen, um den Lebensunterhalt der Nichte zu bestreiten.

Nicht einmal ein heilsames Bad konnte er mehr besuchen, — um ihretwillen!

Tränen der Verzweiflung stürzten aus den Augen des unglücklichen Mädchens.

Was blieb ihr anderes übrig, als wie eine Heirat?

Eine Heirat mit dem Amtsrichter!

Sie schauderte bei diesem Gedanken. Schrecklich, sie liebte ihn nicht. Weder ihn noch einen andern. Dieser letztere Umstand erleichtert ihr den schweren Schritt. Sie kennt noch die Liebe nicht, die grosse, heilige, allgewaltige Liebe, vor der jedes Todesgrauen zusammenschrumpft wie ein Schatten vor der Sonne.

Sterben! — Ja, sie hat schon daran gedacht. Aber ihr junges, lebenswarmes Herz schlägt angstvoll und erschreckt bei solchem Gedanken. Ach, das Sterben ist so schwer; und ihr Leid ist noch nicht so gross, um es dadurch beenden zu müssen.

Wie viele Mädchen haben schon ungeliebte Männer geheiratet, ohne dadurch für ihr ganzes Leben unglücklich zu werden.

Wie schnell kann sich oft ein Schicksal wenden, wie wundersam sind oft die Lebenspfade verschlungen und führen über Dorn und Stein doch schliesslich in selige Lande der Verheissung!

Nein, das Leben schaut sich nicht rosig an und malt Margret keine lieblichen Bilder voll Sonnenschein, Lenzesglück und Liebeslust, aber so verzweifelt, um sie in den Tod zu treiben, — nein, so schlimm steht es gottlob doch nicht.

Sie teilt das Los von unzähligen Mitschwestern, die ohne Liebe heiraten, um nicht zu verhungern. Wieder und immer wieder sagt es sich das junge Mädchen, und eine gewisse Resignation überkommt sie, eine Gleichgültigkeit gegen sich, das Leben und die ganze Welt. —

Wie oft hatte ihre Mutter mit herzzerreissendem Dulderlächeln gesagt: „Man lebt, um zu leiden! Geh auf einen Kirchhof! Schau die stillen, ernsten Kreuze an! Decken sie mehr Glück — oder mehr Schmerz und Weh? — O, welche Untiefe, welch ein Abgrund ist solch ein Grab — und wie überhoch füllen es dennoch die Tränen und das Herzeleid aus!“

Margret verschlang seufzend die Hände.

Der Glückskinder auf dieser Welt sind es so wenige, warum sollte gerade sie zu ihnen gehören?

Warum will sie ein besseres Los verlangen wie ungezählte andere?

Und Agnes sagt, einen Mann, wie den Amtsrichter, zu heiraten, sei für jedes Mädchen ein Glück. Was will sie mehr, als wohl versorgt zu sein?

Glück? seliges, junges Liebesglück?

O phantastischer Traum, der jedes Mädchenherz berückt und so wenigen doch zur Wahrheit wird!

Margret drückte die kühle kleine Hand gegen die Augen, dass sie sich öffnen, dass sie ruhig und wunschlos in das Leben schauen und die lichten Bilder und Traumgespinste vergessen, die ihnen so lockend vorgegaukelt. —

Nein, so schlimm, dass sie sterben möchte, ist das Leben doch nicht.

Der Mittwoch kam, und Frau Agnes triumphierte mit einem mächtigen Spiegelkarpfen im Netz und einem recht vielverheissenden Kalbskopf im Arm an der Wohnung des Herrn Amtsrichters vorüber, just in dem Momente, wo der gestrenge Herr gähnend am Fenster stand und den Trommeln und Pfeifen der vorüberziehenden Soldaten lauschte. Das tat er stets; Agnes wusste es und hatte sich voll kluger Berechnung dein Bataillon angeschlossen.

Und sie ward bemerkt!

Herr Hettstädt kniff die rotgeränderten Augen noch schmaler zusammen und nickte ihr mit huldvollster Miene zu, — ja, er öffnete sogar das Fenster und sprach die Alte an.

„Wie geht’s, wie steht’s?“

Frau Hauser hatte nicht viel Zeit. Die Pastete bedürfe grosser Vorbereitungen, ein so delikates Essen könne nicht in einer halben Stunde zusammengeschüttelt werden, noch dazu, wo der Professor noch einen Karpfen befohlen habe!

Wie sehnsüchtig der Herr Amtsrichter sie ansah, — wie locker er den Mund spitzte und schluckte, er sah schon im Geist Karpfen, Kalbskopf und Pastete vor sich. —

Aber die liebe, gute Agnes verstand „seiner Augen stummes Weinen“ nicht. Ungerührt schwenkte sie links um und wuchtete mit Karpfen und Kalbskopf davon, und ihr Gesichtsausdruck und die Haltung des Kopfes markierten es dem Freier voll unverkennbarer Deutlichkeit: „Entweder anhalten — oder wegbleiben.“ Wie schwer war das letztere. Gerade heute. Ausserdem hatte der Amtsrichter just diese Nacht von Fräulein von Uttenhofen geträumt, — einen Traum, der merkwürdig lyrisch und wonnesam für seine sonst so kühle Art und Weise war.

Ja, hübsch war der kleine Racker ... und Leutnant Olmütz war ein unverschämter Flegel.

Er war auch soeben wieder vorübermarschiert, ohne den Herrn Amtsrichter eines Blickes, geschweige eines Grusses zu würdigen.

„Warte, Bürschchen, das soll dir eingetränkt werden. Glaubst, mit deinen Zigeuneraugen ein so grosses Feuer in Margrets Herzen entflammt zu haben? — Haha! Die Schönste von allen gebührt dir noch lange nicht, — berufenere Hände sind da, die die Rose pflücken werden!“

Und unter der Wucht der momentanen Eindrücke, beeinflusst von Karpfen, Kalbskopf, Traum und Leutnant, liess sich Herr Hettstädt vor seinem Schreibtisch nieder, putzte die Brille und schrieb kurz und bündig an den Professor von Uttenhofen, dass er, der Endesunterfertigte, sich hiermit erlaube, in aller Form und Feierlichkeit um die Hand seiner Nichte Margret anzuhalten.

— — Frau Agnes hatte gerade den Karpfen in eine Wanne voll Wasser gesetzt, als das grosse Amtsschreiben des Herrn Hettstädt gebracht wurde.

„Aha!“ sagte sie, und ihre Augen blitzten Triumph, sie drückte das Kinn so steif und stolz gegen den Kleiderkragen, dass ein vierfacher Ring darum herquoll.

Dann trocknete sie die Hand am Schürzenzipfel, nahm den Brief zwischen zwei Finger und trug ihn zu ihrem Brotherrn in das stille Studierstübchen.

„So, Herr Professor, — den hätten wir!“

„Wie du meinst, liebe Agnes!“ nickte der Gelehrte zerstreut und schob den Brief mechanisch zur Seite. Da rüttelte sie ihn unsanft aus seinem Sinnen wach, und Herr von Uttenhofen starrte fassungslos auf den Heiratsantrag.

„Ja, — ja ... ich weiss aber doch nicht recht ..., sag’ mal, beste Agnes ... liebt das Kind ihn denn auch?“

Über solch eine Gefühlsduselei schlug Frau Hauser die Hände über dem Kopf zusammen, und dann ergoss sich ein Wortschwall über den alten Herrn, dass an keinerlei Widerspruch mehr zu denken war.

Sollte der Professor wahrlich noch an dem Glück seiner Nichte gezweifelt haben, so machte es ihm sein Faktotum jetzt sonnenklar, dass sich gar keine bessere Partie auf der ganzen Welt für Margret finden liesse, wie dieser solide, wohlsituierte, angenehme Mann, der doch die vollste Garantie für die Zukunft biete.

„Welch ein Segen, dass das Mädchen so brillant unterkommt, dass Sie die Waise noch derart versorgen können! Nützen ihr die Luftikusse von Leutnants etwas? Nicht das geringste! Und wenn Sie mal die Augen zutun, Herr Professor, was soll dann aus dem armen Wurm werden, die keinen roten Heller zu eigen hat? Danken Sie Gott, dass sich ein Mann wie der Amtsrichter für das arme Seelchen findet, bei dem ist sie geborgen, sitzt im warmen Nest, und braucht nicht Hungers zu sterben! Nun können Sie mal ruhig sterben, Herr Professor, nun sind Sie die Sorge los!“

Herr von Uttenhofen war stets ein kränklicher, etwas weichlicher Herr gewesen, den jede Anspielung auf sein eventuelles Ableben aufs tiefste rührte.

Auch jetzt ward er weich — so weich, dass er mit feuchten Augen seufzte und nickte und in schluchzendem Ton wiederholte: „Nun kann ich ruhig sterben — ach du lieber Gott, ja — nun kann ich sterben, — wie du meinst, liebe Agnes!“

Und als ihn die kraftvollen Hände seiner Wirtschafterin samt dem Heiratsantrag zur Tür schoben, „damit er dem Fräulein das Glück selber zutrage“ — da seufzte und schluchzte der alte Herr voll tiefster Wehmut noch immer: „Ach ja! Gott sei Dank — nun kann ich ruhig sterben!“

Und diese Worte — und die tränenfeuchten Augen des Onkels erschreckten Margret zuerst aufs äusserste.

Dann, als sie den Brief las, ging es wohl wie ein kalter Schauer durch ihr Herz, aber sie vergass beinahe den Inhalt des Briefes über den Anblick des alten Mannes.

Der Professor war auf einen Stuhl gesunken, hatte die Hände gefaltet und wiederholte immer wieder voll tiefster Wehleidigkeit: „Ach ja, nun kann ich ruhig sterben — nun bist du versorgt!“

Margret schlang die Arme um den alten Herrn. „Ach Onkel — freust du dich wirklich darüber? Ist es dir wirklich eine Beruhigung?!“

„Mein Herzenskind — welch eine Beruhigung! Wenn ich nun die Augen zutue ...“

Er vollendete nicht, die Rührung übermannte ihn, und Margret, die die weichherzige Natur des Hypochonders nicht so genau kannte wie Frau Hauser, war aufs höchste betroffen und ergriffen von der Wirkung, die ihr vermeintliches Glück auf den alten Herrn ausübte.

Auch ihre Nerven waren durch all die Aufregung und Qual der letzten Tage nicht die stärksten, die Sentimentalität findet sowieso keinen bessern Grund und Boden als wie bei jungen Mädchen, und so übte der Anblick des Onkels eine doppelte Wirkung aus.

Erstlich rührte es Margret aufs tiefste, dass der alte Mann so innigen Anteil an ihr nahm, und zweitens überkam sie ein neues, ihr bisher noch ganz fremdes Gefühl eines Martyriums, in dem sie sich erhobenen Herzens, geduldig und freudig für das Wohl eines Mitmenschen opfert. —

Konnte sie es nach dem Anblick dieser feuchten Augen wohl je über sich gewinnen, den Antrag des unsympathischen, ungeliebten Mannes abzulehnen? O wahrlich nicht!

Sie sah es jetzt voll herzbewegender Deutlichkeit, wie hoch es den alten Herrn beglückte, sie versorgt zu wissen, wie unaussprechlich er sich über den schrecklichen Brief freute.

Es wäre geradezu ein Verbrechen, ihm diesen liebsten und letzten Trost zu nehmen.

Für empfindsame Seelen hat es stets einen grossen Reiz, sich in eine erhabene, poesievolle Lebensaufgabe hineinzudenken, und namentlich liegt es in der weiblichen Natur, sich voll süsser Schwärmerei in den Dienst des Samaritertums zu stellen.

Der Wunsch, sich zu demütigen — zu dienen — sich aufzuopfern im Dienste der Barmherzigkeit ist ein Charakterzug der weiblichen Tugend.

Wie manches kaum erwachsene Mädchen erblickt ein Ideal darin, Diakonissin zu werden, oder einen kranken, zum Krüppel geschossenen Mann zu heiraten, nur um ihn pflegen und sich selber für ihn hingeben zu können.

Der Opfermut ist des Weibes ewiger Anteil, und nirgends gefällt sich die schwärmerische Phantasie der Jugend besser, als auf dem Leidenswege interessanter Selbstverleugnung. Auch Margret konnte sich dem Reiz dieses neuen Empfindens nicht verschliessen.

Was ihr vor wenigen Stunden noch als unerträgliche, widerwärtige Bürde erschienen, das lud sie jetzt mit dem Lächeln der Dulderin als selbsterwähltes Kreuz auf sich, das trug sie geduldig in dem Bewusstsein, eine edle Tat zu vollbringen. — Wie begeistert war sie seit jeher für alles Ideale, Hochherzige gewesen, wie glühte in ihrem jungen Herzen noch das heilige Feuer des Glaubens und Vertrauens auf das wahrhaft Gute! Das Leben bot ihr nur rauhe, nüchterne Höflichkeit und Prosa, sie aber wob sich selber einen glänzenden Schleier voll zauberischer Poesie darüber, der täuschte ihr Auge und schlug es mit wohltätiger Blindheit.

„Soll er kommen, Gretchen?“ flüsterte der Professor mit der Miene eines Sterbenden, und das junge Mädchen kniete an seiner Seite, hob das bleiche Gesichtchen und lächelte mit krankem Herzen:

„Ja, Onkelchen, — er soll kommen!“ —

An der Tür aber horchte Frau Agnes und rieb sich vergnügt die Hände. Das war besser gegangen, als wie sie dachte. Du liebe Zeit! Was doch so ein bisschen Sentimentalität tut!!

So ward Margret von Uttenhofen — Braut.

Nachtschatten

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