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Viertes Kapitel.

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Amtsrichter Hettstädt hatte seiner Braut einen blühenden Myrtenstock geschickt und ihr den goldenen Reif an den Finger gesteckt, aber die weissen Myrtenblüten rieselten welk und matt zu Boden, als sei das kräftige Stämmchen plötzlich krank geworden, seit der müde, resignierte Blick der jungen Braut es getroffen, — und der Ring, so hell er auch blinkte, war zu weit für das schlanke Fingerchen und fiel von ihm ab wie etwas Fremdes, Ungehöriges, was absolut nicht für sie passte.

Frau Agnes war wie umgewandelt.

Die Katze hatte die Krallen eingezogen und zeigte nur Samtpfötchen.

Freundlich grinsend begab sie sich an das Werk, die Ausstattung für die junge Braut zu beschaffen. Man hatte dazu den letzten kleinen Vermögensrest, den die Witwe des Justizrats ihrem Töchterchen hinterlassen, flüssig gemacht, und der Professor überliess es dem praktischen Sinn der lieben, guten Agnes, die junge Braut beim Einkauf der nötigen Dinge zu beraten. Frau Hauser tat sehr bescheiden und meinte, es sei doch gut, wenn die künftige Frau Amtsrichter schon jetzt etwas selbständig würde und ihre Wünsche selber, nach eigenem Gutdünken verwirklichte! Sie bestand infolgedessen darauf, dass Margret die paar hundert Mark ihres Vermögens selber in Verwahrsam nahm, und hatte nur zeitweise zu drängen und zu treiben, dass die so wenig eilige und gleichgültige Braut Einkäufe an Wäsche und Leinen machte, welch letzteres doch noch zu verarbeiten war.

Und diese viele eilige Arbeit war das Morphium, das die junge Märtyrerin in ein wohltätiges Traumleben versetzte und ihr Herzeleid betäubte. Nie war sich Margret einsamer und verlassener vorgekommen, als seit dem Tage, der sie zu einer Braut gemacht.

Das Aufsehen, das ihre Verlobung machte, war ein ungeheures, aber durchaus kein erfreuliches und beglückendes!

Sie hatte seit jeher allein gestanden, der Anhang und die Sippschaft der „Doktorslina“ hingegen war gross, durch die Patienten des Vaters erstreckte er sich über ganz Rügenfurt, und so war es kein Wunder, wenn die gesamte Einwohnerschaft Partei für die „unglückliche, verlassene“ Braut — denn als solche hatte man Fräulein Lina bereits erachtet — nahm.

Für die Fremde hatte man nie grosse Sympathie gehabt, höchstens die Herren, und da auch diese es nicht recht leiden mögen, wenn sich eine von ihnen gefeierte Dame mit einem anderen verlobt, so liefen auch bald die ehemaligen Anhänger Margrets in das feindliche Lager über.

Selbstverständlich gab man Fräulein von Uttenhofen einzig und allein die Schuld an dem Ereignisse.

Sie war eine ganz empörende, abgefeimte Kokette, die kein Mittel gescheut hatte, den armen, netten, harmlosen Hettstädt in ihre Schlingen zu ziehen.

Sie hatte ihn mit den unerlaubtesten Mitteln der unglücklichen Lina abspenstig gemacht, hatte sich nicht geschämt, voll kalter Selbstsucht die Hände nach fremdem Gut auszustrecken. Das war himmelschreiend! Das war empörend! Fräulein Lina gefiel sich ausnehmend in der Rolle der Dulderin, sie rang die Hände und weinte sich an jedweder Brust, die sich ihr voll Mitgefühl dazu darbot, so recht aus tiefster Seele aus, — und darum steigerten sich die Gerüchte über ihr „gebrochenes, gemordetes Herz“ geradezu ins ungeheuerliche; denn wehe, wenn die Phantasie der Rügenfurter Klatschbasen losgelassen! — Nur Leutnant Olmütz hielt nach wie vor voll fanatischer Anbetung an der armen Margret fest.

Es war der einzige, der der jungen Braut seinen Glückwunsch in Form eines Blumenstockes schickte, der nach wie vor zu den Fenstern seines „Ideals“ emporschmachtete.

„Aha!“ sagten die bösen Zungen, „der leichtsinnige Fant träumt sich in die Rolle des Hausfreundes! Und weil die vortreffliche Braut seine Rosen und Gelbveiglein nicht, wie sich das gehört hätte, auf die Strasse warf, hat er sicherlich recht leichtes Spiel mit ihr! O der arme, betörte Amtsrichter, dem die holde Auserwählte schon jetzt die Narrenkappe über die Ohren zieht! Was wird er noch an ihr erleben!“

Fräulein von Uttenhofen ahnte nichts von dem Sturm, der ihr aus der ganzen Stadt entgegenblies, bis man ihr denselben so fühlbar und empfindlich machte, dass sie wie versteinert, mit tränenlosen Augen zu Agnes aufsah und flüsterte: „Wissen Sie, was man mir in der Stadt für bösen Leumund macht?“

Die Alte lachte und zuckte die Achseln. „Neid! Ganz gemeiner Neid, Fräuleinchen! Darum lassen Sie sich kein graues Haar wachsen! Wer das Glück hat, führt den Bräutigam heim! Aber eins wollte ich Ihnen doch noch sagen: Dem Amtsrichter liegen die Klatschbasen natürlich auch in den Ohren und machen ihm mit allen möglichen Andeutungen die Hölle heiss! Da müssen wir sehr auf dem Posten sein, solchen Pfeilen die Spitze abzubrechen! Die Lina blökt ja in der ganzen Stadt herum, wie sehr sie Hettstädt geliebt hätte, — und das ist wahr, — wie die reine Schmeichelkatze ist sie ihm immer um den Bart gegangen, und hat die Augen verdreht, als wolle sie vor Liebe gleich den Geist aufgeben! Sie aber, Fräulein Gretchen, sind überhaupt nicht wie eine Braut! Du lieber Himmel, so kühl und ‚weit ab‘ und ‚rühr’ mich nicht an‘ wie eine Nonne! — Neulich hat der Amtsrichter sich schon darüber beschwert, dass Sie ihm niemals entgegenlaufen und so wenig Zärtlichkeit hätten —! Was denken Sie sich denn um alles in der Welt? — Da muss ja der Mann schliesslich glauben, sie hielten’s heimlich noch mit dem windigen Schlingel, dem Olmütz! — Wenn Hettstädt heute abend kommt, dann ziehen Sie mal andere Saiten auf! Keine Marmorbraut, die wie Eis im Arme liegt ...“

„Ich kann’s nicht — ich kann nicht anders sein!“ stöhnte Margret leichenblass.

„Unsinn! Kann nicht! Wenn ich solch ein albernes Geschwätz höre!“ Frau Hauser vergass alle Freundlichkeit und fuhr mit bissigem Ton in ihrer so brutalen Weise auf: „Wenn Sie sich so auf die zimperliche Prinzess spielen wollen, dann werden Sie sehr bald verspielt haben! Eine Tränenweide, einen Holzklotz mag keiner freien! Und wenn der Amtsrichter jetzt noch zurückzupft, was soll dann werden? He? Überlegen Sie mal selbst, wie Sie dann dastehen würden! Solch eine Schande über Ihren alten Onkel bringen — das wäre sein Tod! Geradeswegs sein Tod! Und der Hohn und Spott in der Stadt! Da könnten Sie sich gleich mit begraben lassen ...“

„Ach, Agnes ... wie furchtbar ...“

„Ja, so als Mörderin von seinem Wohltäter ... und als solche würden Sie dastehn, wenn den unglücklichen alten Mann der Schlag rührte ...“

„Barmherziger Gott!“ —

„Na, nur kein Geheule! Das hilft nichts! Aber wenn der Amtsrichter heute abend kommt, dann mal alle Minen springen lassen! Wer so hübsch ist wie Sie, kann schon einen Mann toll machen, dass er um Ihretwillen der ganzen Stadt trotzt! Also zärtlich! Sehr zärtlich! Schätzchen hier — und Schätzchen da! Und dann vergessen Sie nach Tisch sein Bullrichsalz nicht! Sie wissen, dass er es einnehmen muss! Und ausserdem können Sie ihm einen hübschen, grünen Augenschirm sticken, Sie wissen, dass er kranke Augen hat — —“

Wie vernichtet sank Margret auf den Stuhl und nickte nur stumm und mechanisch vor sich hin. — Wie Schauer des Entsetzens rieselte es durch ihre Glieder.

Ach, so schwer, so furchtbar schwer hatte sie sich ihr Martyrium doch nicht gedacht!

Wehe ihr, dass sie den Ring an ihren Finger gestreift, nun lag er als schwere, erdrückende Kette an ihr, nun konnte keine Macht der Welt ihn wieder lösen und zerbrechen, — und sie musste die qualvolle Last durch das Leben schleppen — durch ein ganzes, langes — trostloses Leben!

Frau Agnes war gegangen.

Margret regte die bebenden Hände so fleissig wie zuvor, stopfte die groben Küchenhandtücher und schaute mit grossen, glanzlosen Augen in den dämmernden Lenz, der mit tausend jungen Blütenknospen hinaus — weit fort und hinaus lockte, während die Myrtenblüten an ihrer Seite trauernd die bleichen Blättchen streuten, als fehle ihnen Kraft und Mut, zu der grossen, lügenhaften Tragödie einer Vernunftsheirat die lieblichsten Symbole zu leihen.

Die Uhr nickte und holte zum Schlage aus. Margret hob jählings das Köpfchen, wie aus schweren Träumen erwachend.

Ein weiches, wehmütiges Lächeln huschte über ihr bleiches Antlitz.

Sieben Uhr! Die Stunde, wo sie hineilen durfte zu ihrem guten, freundlichen Musiklehrer, bei träumerischen Klängen und süssen Harmonien das Elend ihres Lebens zu vergessen!

Margret erhob sich hastig, faltete ihre Arbeit zusammen und schob sie in den Flickkorb. Dann griff sie nach Mantel und Hut, öffnete ihr Fensterchen und eilte lautlos und hastig, als liesse die Sehnsucht ihr Flügel wachsen, die Treppe hinab.

Weiche, wonnige Frühlingsluft wehte ihr entgegen.

Die letzten Glutengarben des Abendrotes flammten noch über den westlichen Himmel, während über ihr, auf blassblauem Meer der Unendlichkeit, die matte Mondscheibe schwebte wie eine einsame, verlassene Seele, die kein rettendes Ufer mehr erreichen kann.

Ohne rechts und links zu blicken, eilte Margret die einsame Allee entlang, deren rechte Seite nur vereinzelte Häuser säumten, während sich zur Linken weite Felder dehnten.

Hier ausserhalb der Stadt, wo die meiste Ruhe herrschte und die beste Luft wehte, hatte der Professor seine Wohnung gemietet, und auch der Musikdirektor wohnte in einer der freiliegenden Vorstadtstrassen, weil hier die Quartiere noch billig und geräumiger waren, ja, wo er sich den Luxus eines Gartens gestatten konnte, was bei seiner zahlreichen Familie immerhin ein grosser Vorteil war.

Musikdirektor Halm gehörte zu jenen Stiefkindern des Schicksals, die es trotz alles Fleisses und bester Begabung nicht zu wirklichen Erfolgen bringen können.

Zu schüchtern und gutmütig, um sich in der Grossstadt voll rücksichtsloser Energie durch alle Kabalen und sperrenden Hindernisse Bahn brechen zu können, liess er sich wieder und immer wieder von anderen zur Seite schieben und überflügeln, und trotz seiner Begabung und seiner recht bedeutenden Kenntnisse musste er schliesslich froh sein, bei sehr schmalem Gehalt als Leiter der kleinen Stadtkapelle in Rügenfurt angestellt zu werden.

Zwar verdiente er noch durch Privatmusikstunden und kleine Konzerte, die er in der Umgegend arrangierte, aber dennoch blieb der Wohlstand seiner kinderreichen Familie fern.

Seine tapfere kleine Frau mühte und quälte sich redlich, den grossen Haushalt mit Hilfe nur eines einzigen jugendlichen Mädchens zu bestreiten, und Margret hatte schon oftmals in freier Stunde die wilde, kleine Schar „gehütet“, wenn Mutter und Magd voll edlen Wetteifers in Küche und Keller tätig waren.

Auch heute hallte Fräulein von Uttenhofen ein lärmender Jubel aus dem Garten entgegen, der ihr schon von weitem bewies, dass die Kleinen sich ungebundenster Freiheit erfreuten.

Selbst das Allerkleinste sass noch weinend in dem niederen Holzwägelchen, sicherlich hungrig und müde, und dennoch fand sich keine hilfreiche Hand, es droben zu betten.

Beim Anblick des jungen Mädchens stürmte die ausgelassene Schar sofort auf sie ein.

„Fräulein Margret! Fräulein Margret! Die Mama ist schlimm gefallen! Sie liegt im Bett! Und wir dürfen heute aufbleiben, solange wie wir wollen!“

„Gefallen?!“ Erschrocken schob Fräulein von Uttenhofen die lärmenden Trabanten beiseite und stürmte die Treppe empor.

Alle Türen standen sperrangelweit offen, und aus dem Schlafzimmer tönte ihr die leise klagende Stimme der Musikdirektorin entgegen. „Marie! bist du wieder da? Ach, hole doch Lieschen schnell herauf, ich höre das Kind schon seit einer halben Stunde schreien!“ —

Margret trat auf die Schwelle, und die Kranke ward dunkelrot vor Schreck.

„Ach, Sie sind es, gnädiges Fräulein! O, vergeben Sie, dass die Stunde nicht abbestellt ist, — ich hatte keine Menschenseele zum Schicken ...“

„Frau Halm! Sie sind krank? Um alles in der Welt, was ist passiert?! —“

Die Kranke drückte herzlich die dargebotene Hand. „O, gottlob nichts Allzuschlimmes! Es hätte sehr viel übler ablaufen können. Wir wollten Gardinen aufstecken ... die Leiter rutschte ... und da habe ich mir den Fuss gebrochen! Besser doch den als den Hals!“

„Und liegen so ganz allein?“

„Mein Mann ist telegraphisch für drei Tage nach Lutzenburg gerufen, — die Marie hat erst den Doktor geholt und ist nun zu meiner Freundin, der Registratorin, ob sie wohl zur Hilfe herkommen kann? Ich hoffe es! Sie hat keine Kinder, und der Mann ist so gut! — Na, und nun toben die Kinder im Garten, keins lässt sich hier oben blicken, und Lieschen schreit so sehr ...“

Ein angstvoller Ausdruck trat auf das Gesicht der Kranken, und die heisse Röte ihrer Wangen vertiefte sich. Ungeduldig strebte sie empor: „Ach, welch ein Unglück, so hilflos liegen zu müssen! Sie glauben gar nicht, wie schwer es ist, wenn man ...“

Margret stand neben der Sprecherin und drückte sie mit sanfter Hand in die Kissen zurück. „Liegen Sie ganz still, Frau Halm, und regen Sie sich nicht auf! Ich hole Lieschen und bringe es zu Bett!“ —

„Ach, Sie wollten? O, Sie Liebe, Beste ...“

Schon war das junge Mädchen mit hastigem Schritt davongeeilt; nach wenig Augenblicken verstummte das Geschrei im Garten, und zärtlich kosend und die Kleine beruhigend, trat Fräulein von Uttenhofen alsbald wieder, mit dem Kinde auf dem Arm, in das Zimmer.

Kaum, dass Frau Halm sie anzuleiten brauchte, besorgte sie schnell das Nötige, setzte die Milch auf den Herd, bereitete das kleine Lager im Kinderwagen und begann das Baby zu waschen.

Lieschen wehrte sich zwar ein wenig gegen die fremde Dame, aber die weiche, liebevolle Stimme Margrets wirkte wie ein holder Zauber auf die übermüdete Kleine, sie schluchzte noch ein paarmal auf, verlangte zur Mutter und liess sich dann wohlbefriedigt zur Seite der Kranken im Wägelchen betten.

Nun noch die Flasche ... ein paar gierige Züge, und die Augen fielen bereits zu. —

„Nun gehe ich und hole die andern! Die Hafersuppe, die auf dem Feuer brodelt, ist wohl das Abendessen?“ flüsterte Margret.

„Mit Brotschnitten dazu! O, liebes, gnädiges Fräulein — wie soll ich Ihnen danken — —“

„Pst!“ lächelte das junge Mädchen und legte den Finger an den Mund. — Ihre Augen strahlten, und die Wangen färbten sich mit zartem Rot. Welch eine Freude war diese ungewohnte Tätigkeit für sie! Welch eine Genugtuung und Befriedigung war es, der Kranken behilflich und den Kindern nützlich zu sein!

Leichtfüssig eilte sie wieder in den Garten, während die arme Kapellmeisterin mit tiefem Seufzer der Beruhigung auf ihr schlummerndes Kind blickte.

Drunten im Garten entspann sich fürerst ein hitziger Kampf.

Die Buben wehrten sich mächtig gegen die Beschränkung ihrer Freiheit, und die Mädels stoben zwitschernd wie die jungen Vögelchen nach allen Seiten auseinander und jauchzten: „Fang’ uns erst, Tante Margret! Fang’ uns!“

Und das tat das junge Mädchen unter Lachen und Scherzen, und ihre frische, liebenswürdige Art entzückte die Kinder und lockte sie unwiderstehlich in die aus-ausgebreiteten Arme.

Bald hing die wilde Schar an ihren Kleiderfalten, und wie weiland der Rattenfänger von Hameln zog Margret durch die Haustür.

„Wenn ihr ganz ruhig und artig seid, erzähle ich euch während des Abendessens eine Geschichte!“

„Ach ja, eine Geschichte!!“

„Von Indianern? Sonst höre ich nicht zu!“

„Indianern? Nein, aber von Seeräubern ...“

„Och fein! Dann man los!“

„Aber ihr esst in der Küche und macht keinen Lärm! Lieschen schläft!“

„Lass sie man! So ein bisschen Radau stört die Krabbe nich!“

„Pfui, Gustav!“ —

„Ach erzähl’! Erzähl’! Fang’ jetzt schon an!“

„Gut! Hört zu. Also, es war einmal ein reicher, reicher Kaufmann —“

„Hatte er hunderttausend Geld?“

„Ja, hunderttausend und noch mehr. Der wohnte in Hamburg!“ — Und Margret schloss die Küchentür hinter sich und begann während der Erzählung die Mahlzeit herzurichten. Die grösseren Kinder halfen die Teller aufstellen und die Löffel legen, sehr leise und behutsam, damit sie kein Wort der Geschichte versäumten.

Und welch eine herrlich interessante und endlos lange Geschichte war das!

Sie fesselte die Zuhörer noch immer, als man fertig gegessen und nun flink „gekämmt und abgewaschen“ wurde, ja, sie näherte sich kaum dem Ende, als Margret ihre Schar in das grosse, langgestreckte Schlafzimmer führte, wo Bett an Bett längs der weissgetünchten Wände stand.

„Aber erst fertig erzählen, sonst schlafen wir nicht!“

„Gut! Ich setze mich noch zu euch und erzähle den Schluss; aber dann müsst ihr auch sofort einschlafen!“

Ein gedämpftes Hurra, Liebkosungen und Schmeicheleworte, — die Grossen entkleideten sich allein und huschten in ihre Nester, die Kleineren besorgte Margret und legte sie zur Ruh.

Dann zog sie die gelbgeblümten Vorhänge zu und setzte sich an das Lager des Kleinsten, um weiterzuerzählen, während die andern, auf dem Bauche liegend und den Kopf in die Hände gestemmt, sich ihr zudrehten, wie die Sonnenblumen dem strahlenden Himmelsgestirn.

Die erst so aufregende Geschichte ward sanfter und sanfter. Die armen, geraubten Kaufmannskinder waren glücklich aus den Händen der Seeräuber befreit und in die Arme der Eltern zurückgeführt, und nun lebten sie still und behaglich, assen ihr Süppchen, liessen sich auskleiden und ins Bettchen legen und fingen an zu träumen. Das erste vom Christkindchen ..

Leise und leiser ward die Stimme der Erzählerin, die Äuglein der Kinder schlossen sich, und die auf dem Bauche liegenden drehten sich langsam um und gähnten — und bald tönten aus diesem und jenem Bettchen tiefe Atemzüge — fest und ruhig ...

„Ich wache noch, Tante Margret! Komm zu mir!“ flüsterte es vom Fenster her, — und Fräulein von Uttenhofen wechselte lautlos den Platz.

Es hatte längst neun Uhr geschlagen, als sie endlich wieder in das Zimmer der Kranken trat.

Frau Halm drückte voll unbeschreiblicher Dankbarkeit wieder und wieder die Hände ihrer geliebten Helferin in der Not und erzählte, dass der Doktor während der Zeit nochmals dagewesen sei, dass er ihr eine beruhigende Medizin für die Nacht verschrieben, die Marie soeben noch in der Apotheke besorge!

„Und wird Ihre Freundin kommen?“

„Ja, sie will heute nacht bei mir schlafen, in meines Mannes Bett — und auch morgen bei mir bleiben, bis Paul zurückkommt! Ich denke, sie kann jeden Augenblick hier sein!“

„Schön, so lange bleibe ich noch bei Ihnen! Vielleicht kann ich während der Zeit das Bett frisch beziehen, damit Sie nachher bald zur Ruhe kommen!“

„Aber nein! Liebstes Fräulein Margret! Wie könnte ich das annehmen! Sie haben schon so unendlich viel Güte für mich gehabt ...“

„Still, still! Das ist ja alles so selbstverständlich! Wo liegt die frische Wäsche? In dem Spinde hier? Richten Sie sich doch, bitte, nicht auf, — ich finde ja alles!“

Und lautlos, wie ein guter Geist waltete das junge Mädchen ihres Amtes, richtete das Bett her, schaffte Ordnung im Zimmer und stellte eine Flasche frischen Wassers bereit.

Endlich kam die Frau Kalkulator, ebenso Marie, und nach letzten Abschiedsworten und Wünschen für gute Besserung eilte Margret nach Hause.

Es schlug vom Kirchturm die zehnte Stunde, als sie vor das Haus trat, und jetzt erst fiel ihr mit Schrecken ein, dass sie über die Gebühr lange ausgeblieben sei.

Ihr Bräutigam war gewiss recht ungeduldig geworden! Aber Agnes sowohl wie er wussten es, dass sie bei Halms war, konnte er ihr nicht entgegenkommen, sie abholen?

Ein tiefer Seufzer entrang sich ihrer Brust. Wie hätte wohl jeder andere Liebhaber voll Entzücken die Gelegenheit wahrgenommen, mit dem herzlieben Schatz durch den Zauber dieser stillen, mondhellen Nacht zu wandeln!

Die Blüten dufteten in den Gärten, die ersten Nachtigallen sangen der Liebe ihre seligen Psalter, und die Sterne standen so hell und klar an dem fleckenlosen Nachthimmel, wie brennende Kerzen auf dem Altar traumhafter Glückseligkeit!

Ach, welch ein Wandeln wäre das jetzt im Arm der Liebe! Geleitet von dem, den sie als das Ideal aller Männlichkeit so oft mit klopfendem Herzen in süssem Sinnen geschaut, von dem — der so jung, so männlich schön — so stolz und edel war, dass sie vor ihm niedersinken möchte mit dem demütigen Schluchzen: „Darfst mich niedre Magd nicht kennen, hoher Stern der Herrlichkeit!“ —

Ach, wie anders — wie furchtbar anders aber war der Mann, der in Zukunft ihr Herr sein sollte! —

Da war kein schwärmerisch seliges Kosen und Minnen, kein begeistertes Aufflammen zu himmelhochjauchzender Wonne, — der Amtsrichter fragte nichts nach Mondesglanz und Maienduft, — er hasste die Nachtluft und sass griesgrämlich vor den Schüsseln der Frau Agnes, die kranken Augen vom Lichtschirm geschützt, die Gedanken voll Weltschmerz und ungeheurer hausbackener Prosa ...

Margret presste wie in stummer Qual die Hände gegen die Brust, und unwillkürlich schreitet sie langsamer, als müsse sie so lang wie möglich die Zeit geniessen, wo sie ihm fern sein kann.

Zärtlich zu ihm sein! Ihn umschmeicheln mit Worten, die himmelschreiende Lügen sind! Wie soll sie es nur möglich machen, wie soll sie das Widerwärtige ertragen!

Ach, noch nie deuchte ihr das Los, das ein unbarmherizges Schicksal ihr bestimmt, so bitter hart wie gerade jetzt, wo ihr junges Herz unter dem Zauber dieser mondeshellen Maiennacht so weich — so weit — so sehnsuchtsvoll der Liebe entgegenschlug!

Wie still ist’s um sie her!

In den Häusern brennt wohl Licht, aber auf den Strassen ist es totenstill, nur weiter unten trabt eine Schar Knaben in angstvoller Eile, — sie haben bei Spiel und Freuds wohl vollständig die Zeit vergessen.

Noch ein paar Schritte wandelt Margret des Weges, — da stutzt sie plötzlich und weicht mit leisem Schrecksschrei zurück.

Vor ihr, halb in den Strassengraben niederhängend, liegt eine dunkle Gestalt, starr — regungslos, wie tot.

Im ersten Augenblick will sich das junge Mädchen entsetzt zur Flucht wenden, dann aber beisst sie energisch die Zähne zusammen und sagt sich, dass es heilige Pflicht sei, näherzutreten, um Hilfe zu bringen, falls sie erforderlich ist.

Und beherzt schreitet sie herzu.

Abermals ein leiser Laut höchster Betroffenheit. Das helle Mondlicht blinkt auf goldenen Knöpfen, eine Mütze liegt seitlich auf der Strasse, ein Säbel starrt querüber ...

Ein Offizier! — Hier ist ein Unglück geschehen!

Vergessen sind Scheu und Angst, voll sorgender Angst wirft sich Margret neben der starren Gestalt nieder und richtet mit Aufbietung aller Kraft den Oberkörper, der in den Graben niederhängt, empor.

Das Mondlicht beglänzt ein totenblasses Antlitz mit geschlossenen Augen.

Blondes Haar hängt wirr in die Stirn, ein kleiner Schnurrbart deckt die Lippen.

Wer ist es? — Ein Fremder?

Margret entsinnt sich nicht, dieses schöne, schmale Antlitz jemals gesehen zu haben.

Schwer, — unerträglich schwer hängt der starre Körper in ihren schwachen Armen.

Ist er schon tot? — Stirbt er? —

Namenlose Angst überkommt das junge Mädchen.

„Hilfe! Hilfe!“ ringt es sich von ihren Lippen.

Umsonst, niemand hört sie, — es ist so still und einsam hier ...

Was tun? „Allmächtiger Gott, hilf mir!“

Noch einmal ruft sie. Keine Antwort, kein — Laut. Aber der starre Körper in ihrem Arm zuckt leise zusammen, ein Aufstöhnen trifft ihr Ohr. —

Er lebt! Er muss Hilfe haben!

Ein schneller Entschluss reift in Margrets Seele. Sie bettet den Kranken, so gut sie kann, in das Gras, reisst ihr Tuch ab und schiebt es als Kissen unter sein Haupt, und dann stürmt sie, fiebernd vor Erregung, die Chaussee entlang nach dem ersten Haus, hinter dessen Parterrefenstern noch Licht schimmert.

Als sie just die Haustür öffnen will, tritt ihr ein Soldat, die Hände in den Taschen, pfeifend entgegen.

Margret ruft ihn an, schildert mit wenig Worten die Lage des fremden Offiziers und bittet um Hilfe.

„Alle Donner — dann mal schnell, Fräuleinchen!“ ruft der Bursche und trabt mit ihr die stille Strasse entlang.

Kraftvoll packt er den Bewusstlosen und schaut ihm ins Gesicht.

„I gar! Das ist ja ein fremder Ulan! Wie kommt denn der hierher? — Und wissen Sie, Fräulein — ich glaube, er hat höllisch einen über den. Durst ...“

Margret starrt auf ihr helles Tuch. „Diese Flecken ... wo er mit dem Kopf auflag! Allmächtiger Gott, er blutet!“

Sie tastet zitternd nach seinem Haupt, feuchtwarm rieselt es über ihre Finger.

„Donnerwetter ja! Eine Wunde hat er! Na, da fassen Sie mal mit an, Fräulein — da müssen wir ihn auf dem Leutnant sein Bett schleppen ... uff! Der hat sein Gewicht!“

Zitternd vor Entsetzen stützt Margret die leblose Gestalt, mit grösster Anstrengung schaffen sie den Verwundeten in das Haus.

Nachtschatten

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