Читать книгу Nachtschatten - Nataly von Eschstruth - Страница 8
Fünftes Kapitel.
ОглавлениеMargret fand nicht Zeit, sich in dem einfachen Schlafzimmer, das sie betraten, umzuschauen; ihre ganze Aufmerksamkeit richtete sich voll zitternder Angst auf den Verwundeten, und die ungewohnte Anstrengung, die schwere Last zu tragen, trieb ihr dicke Tropfen auf die Stirn. Einen Augenblick sank sie, auf das äusserste erschöpft, auf den Stuhl neben dem Bett nieder, während der Bursche die bereits brennende Lampe aus dem Nebenzimmer holte.
Dann richtete sie sich energisch empor und winkte dem Soldat, ihr zu leuchten.
„Es scheint eine schwere Wunde am Hinterkopf zu sein! Sie blutet noch stark, wir müssen sofort Kompressen auflegen!“
Das Lampenlicht fiel abermals auf die ernsten, regelmässigen, jetzt so todesbleichen Züge des fremden Offiziers, und das junge Mädchen neigte sich, heldenhaft gegen ein Gefühl des Grausens ankämpfend, und suchte in dem dicken, blutverklebten Blondhaar die Wunde.
„Hier — rechts am Hinterkopf — o Herr des Himmels, sie scheint tief und gefährlich!“
„Wissen Sie, Fräuleinchen ... es war heut Liebesmahl im Kasino, da hat der arme Kerl hier sich feste die Nase begossen und ist auf dem unbekannten Wege hingeschlagen! Gewiss mit dem Kopf auf einen Stein! Na — der kann auch von Glück sagen, dass just wir beide ihn aufgefunden haben, denn wissen Sie, Fräuleinchen, wenn so ein Offizier betrunken aus dem Strassengraben aufgelesen wird, und es wird dem Obersten gemeldet, dann kostet es ihm rettungslos den Kragen!“
Der Bursche sprach flüsternd, mit einem Ausdruck, der zwischen Mitleid, Wichtigkeit und Vertraulichkeit schwankte, und Margrets Augen blickten noch entsetzter wie zuvor, und sie hob wie beschwörend die Hände: „O, dann wollen wir die Sache um Gottes willen geheimhalten, damit der Arme nicht noch Ungelegenheiten bekommt! Nicht wahr, Sie versprechen mir, zu schweigen?!“
„Na, Fräulein, das versteht sich, — so ein schlechter Kerl bin ich doch nicht!“ —
„Und nun schnell, schnell einen Arzt herbei! Wissen Sie, wo der Militärarzt wohnt?“
„Das versteht sich!“ —
„Holen Sie ihn! Er muss augenblicklich kommen, sonst verblutet sich der Kranke!“
„Ja aber ... allein kann der Herr Leutnant doch nicht bleiben ... wenn ich weglaufe, dann müssen Sie solange bei ihm sein, — Bergmanns oben sind verreist, — wir sind man allein im Haus ...“
„Gewiss! Ich muss ja bleiben und ihm Umschläge auflegen! — Kann ich diese Handtücher nehmen, ja?“
„Man immer zu! — Ich denke, der Leutnant kommt auch bald nach Hause! Na, und nu lauf’ ich, was die Stiefeln halten!“ und damit zog er die Tür hinter sich zu, und Margret hörte seine schweren Nägelschuhe über die Strasse traben.
Wie still, wie dämmerig — wie unheimlich war es, so allein mit diesem bleichen, blutüberströmten Manne zu sein!
Wenn er nun stirbt? Wenn er ...
Mit zitternden Händen windet das junge Mädchen das Tuch aus dem kalten Wasser und legt es mit weicher, sorgender Hand auf die Wunde.
Das Haupt des Verletzten liegt auf der Seite, das starre, farblose Antlitz wendet sich ihr zu.
Ein jähes Zucken — eine ruckhafte Bewegung, als das kalte Wasser das Haupt berührt, ein tiefer, leiser Seufzer, — und dann liegt der Offizier wieder regungslos, wie tot.
Margret setzt sich an seinem Lager nieder. Eine wundersame Ruhe überkommt sie plötzlich, ein Gefühl wundervoller Befriedigung.
Zum zweitenmal an diesem Tage konnte sie Hilfe in der Not bringen, konnte armen Mitmenschen nützlich und wert sein. — Wie schön ist das! Welch einen Wert gibt das dem inhaltlosen, freude- und glücksarmen Leben!
Welch eine eigenartige Fügung Gottes, dass just sie gerade des Weges daherkam, diesen jungen Mann aufzufinden. Der Weg war so einsam, möglicherweise hätte der Verwundete die ganze Nacht unter freiem Himmel zubringen müssen, es war gegen Morgen noch empfindlich kühl — welch schwere, ernste Folgen hätte das haben können!
Oder aber — es wären beim Morgengrauen die Fabrikarbeiter zum entfernten Fabrikdorf hinausgegangen, — sie hätten den Offizier gefunden, und bei ihrer demokratischen Gesinnung wären sie wohl nicht allzu schonend mit ihm verfahren.
Welch ein Stadtgespräch! Der Oberst hätte Kenntnis von dem Vorfall erhalten, und wie der Bursche eben sagte, hätte das den Abschied des jungen Mannes zur Folge gehabt.
Welch eine Schande, welch ein Elend für ihn! —
Margret atmet hoch auf. Ein warmer, leuchtender Blick trifft den Bewusstlosen, und gleichsam, als wolle sie ihn abermals schirmend in die Arme nehmen, neigt sie sich über ihn und lächelt wie ein holder Schutzengel zu ihm nieder.
Welch ein ernstes, schönes, edles Gesicht!
Könnte sie nur einmal seine Augen schauen! Alles Blut strömt ihr heiss zum Herzen, ein wundersames, nie gekanntes Gefühl überkommt sie, — es ist nicht das Mitleid allein, es ist ein Gemisch von Weh und Glück, ein Sehnen nach etwas Fremdem — Unbekanntem, der qualvolle Seufzer: „Ach, warum gleicht dein Verlobter nicht ihm!“ —
Das junge Mädchen erschrickt vor ihrem eigenen Gedanken.
Sie erhebt sich jählings und wechselt abermals die Kompresse.
Ihre Hände gleiten über sein Haupt, — sie legt die kühle Rechte auf seine Stirn, und er atmet tief auf. —
„Er lebt! O Herrgott des Himmels — wie dank’ ich dir!“ —
Wundersam, — er sieht so gar nicht aus, als ob er von einem Trinkgelage käme. Da ist kein Zug in dem schmalgeschnittenen Antlitz, der auf Unmässigkeit, auf allzu grosse Genusssucht schliessen liesse.
Möglicherweise hat er sich krank gefühlt, hat das Kasino früher verlassen, — ist auf dem unbekannten Wege gestürzt. —
Werden das aber die Menschen glauben? Gewiss nicht. Die skandalsüchtige Welt liebt es, „das Glänzende zu schwärzen“ und jedwedes Vorkommnis so übel und schmutzig wie möglich zu deuten. O, wie gut, wie gut, dass die Menschen niemals erfahren werden, was sich in dieser Nacht ereignet! —
Der Bursche wird sicher schweigen, und sie? —
Margret presst die schmalen Lippen zusammen und lächelt wie verklärt. Auch sie wird schweigen, — um jeden Preis. —
Und dann ruht ihr Blick wieder voll süsser, mädchenhafter Schwärmerei auf seinem Antlitz — sie lächelt und sinnt. —
Die Uhr tickt, sie schlägt die elfte Stunde. —
Da schrickt sie plötzlich aus all ihren Träumen empor.
Wie wird Agnes auf sie warten!
Wie wird Hettstädt ihr zürnen!
Gleichviel, wenn sie ihnen mitteilt, welche Not sie im Hause des Konzertmeisters gefesselt, werden sie bald versöhnt sein.
Gott sei Dank — endlich hört sie auch eilige Schritte auf der Strasse ... der Bursche kommt zurück, er bringt den Arzt.
Zum erstenmal fliegt ihr Blick durch das Zimmer. Wo ist sie eigentlich? Wer wohnt hier?
Und dann zuckt sie jählings empor und alles Blut schiesst ihr schwindelnd in die Schläfe, — hier wohnt Olmütz! —
Sie hat das Empfinden, als müsste sie erschreckt davonfliehen, doch öffnet sich die Türe bereits, und der junge Offizier steht ihr gegenüber.
„Margret!“ — Wie ein Aufschrei leisen, namenlosen Entzückens klingt es von seinen Lippen, er eilt ihr entgegen und reicht ihr beide Hände dar. Sie umklammert mit den ihren die Stuhllehne, ihre schlanke, elfenhafte Gestalt scheint zu wachsen. Sein Ausruf — der Ausdruck seines Gesichts erscheinen ihr geradezu beleidigend.
„Leutnant Olmütz — wir haben einen Kranken in Ihr Zimmer gebracht, — verzeihen Sie ...“
Schon steht er neben ihr und fasst ihre Hand. So kühl, so ruhig und unberührt das bleiche Antlitz des Verwundeten vor ihr in den Kissen liegt, so weinerhitzt und unberechenbar in leidenschaftlicher Glut, neigt sich ihr das Gesicht des anderen entgegen. Unwillkürlich weicht sie zurück.
„Margret — endlich — endlich —“, murmelt Olmütz. — „O, ich wagte es kaum zu glauben, als der Bursche es mir eben ins Ohr flüsterte — Sie hier! Sie bei mir, Margret — in dunkler, verschwiegener Nacht — — o endlich, Margret — endlich ...“
Ein Schauer des Entsetzens rieselt durch ihre Glieder, ein Abscheu erfasst sie vor dem Sprecher, der mit heissem Atem nur allzu deutlich verrät, dass er vom Liebesmahl kommt. Mit wenigen Schritten steht sie an der Tür. Ihr Auge blitzt voll zorniger Drohung zu ihm auf.
„Meine Anwesenheit hier ist wohl überflüssig, da Sie jetzt da sind, den Kranken zu warten!“ sagt sie hoch erhobenen Hauptes. „Mein Werk als Samariterin ist getan — gute Nacht!“ —
„Fräulein von Uttenhofen — um alles in der Welt, habe ich Sie beleidigt?!“ ruft Olmütz, plötzlich nüchtern werdend, und er folgt der Entfliehenden, reisst die Haustür auf und starrt ihr nach. „Margret!“ wie ein leiser, flehender Ruf der Sehnsucht und der Bitte um Vergebung klingt’s. Umsonst, wie ein Schatten huscht ihre schlanke Gestalt die Treppe, die in den Vorgarten führt, hinab. Margret stürmt mit fiebernden Pulsen in die Nacht hinaus, sie reisst die kleine Gartentür auf und taumelt auf die Strasse; gleicher Zeit weicht sie entsetzt zurück.
Ihr entgegen kommen vier Gestalten — sie treffen auf dem Fusssteig just mit ihr zusammen.
„Herr des Himmels!“ schreit eine schrille Frauenstimme, „Herr Amtsrichter! Ihre Braut!“
„Wie? Was?“ tönt eine tiefere Altstimme dazwischen, „und kommt bei Nacht und Nebel aus dem Hause des Leutnants Olmütz?!“
Ein knirschender Laut der Wut. Margret fühlt ihren Arm erfasst, sie blickt in das wutentstellte Gesicht ihres Verlobten.
„Also hier steckst du, und lässt mich daheim vier Stunden vergeblich auf dich lauern? Hier — im Hause deines Anbeters, — du ehrloses Geschöpf — du — du — schamlose ...“
Ein leiser Wehelaut. —
Margret taumelt gegen das Gitter zurück und schlägt voll Verzweiflung die Hände vor das Antlitz.
„Annchen! Komm, mein Kind, mein Liebling! Fort aus der Nähe dieser Person!“ schreit Mama Bürgermeisterin auf und zieht die Tochter an sich.
„Albert,“ — stöhnt Margret auf, — „Albert, höre mich!“ —
Ein höhnisches Lachen antwortet ihr: „Ich verbitte mir diese Anrede! Nach dem, was ich soeben hier vor Zeugen erlebte, erkläre ich jedwede Beziehung zwischen — uns gelöst, — du Dirne!“ —
Etwas Blankes fliegt blitzend durch den Mondschein und schlägt hart vor Margret auf: der Verlobungsring, den der Amtsrichter von seinem Finger gestreift und dem jungen Mädchen vor die Füsse geworfen hatte. —
Dann wendet ihr Hettstädt mit dem zürnenden Stolz eines Theaterhelden den Rücken und folgt Bürgermeisters, die so eilig ihren Weg fortsetzen, als sei die Luft um Fräulein von Uttenhofen her verpestet.
Margret klammert sich an das Staket, um nicht zu Boden zu sinken. Sie hat das Gefühl, als habe sich die Erde vor ihr aufgetan, um sie in gähnend schwarzer Tiefe zu verschlingen. Was war geschehen?
Sie reibt sich mit eiskalten, bebenden Fingern die Stirn, um das Furchtbare, Entsetzliche zu fassen! Und als ihr das Verständnis kommt, als das furchtbare Wort „Dirne!“ ihr wie ein Todesurteil in den Ohren gellt, da ringt sich ein leises Stöhnen über ihre erbleichten Lippen, ein Frösteln geht durch ihre Gestalt, wie eine Blume zittert, wenn sie ein mordender Rauhreif getroffen.
Sie wankt weiter, — sie starrt mit tränenlosen Augen zu dem klaren Nachthimmel empor, — wie ein Aufschrei qualvoller Erbitterung geht es durch ihre Seele: „Lohnst du die Werke der Barmherzigkeit also — du Gott, der sich die Barmherzigkeit selber nennt?!“ —
Die Nachtigallen schlagen im Gebüsch, weiche, balsamische Frühlingsluft weht um ihre Stirn, und das Mondlicht flimmert über Margrets Haupt wie segnende Geisterhände. —
Da fluten Tränen über ihr Angesicht, heisse, erlösende, rettende Tränen! —
Dunkel und still ist es in dem Hause, dessen Tür glücklicherweise noch nicht verschlossen war. Wie eine Nachtwandlerin, mechanisch, müde steigt Margret die schmale Holzstiege empor.
An der Flurtür erscheint Frau Agnes, bereits im Negligé, die Fäuste in die Seiten gestemmt, das feiste, rote Gesicht entstellt von Zorn und Brutalität, — das vollendete Bild des bösen Weibes.
Eine Flut von Schmähungen ergiesst sich über die Nahende.
Das sollte die versprochene Zärtlichkeit und Holdseligkeit gegen den Herrn Bräutigam sein, wenn die Mamsell Habenichts überhaupt nicht zum Abendessen erschiene und ohne jedweden triftigen Grund sich die halbe Nacht herumtriebe. Der Amtsrichter sei empört, aufs höchste beleidigt, und das mit Recht! Und wenn es die Mamsell nicht morgen wieder ins reine brächte, und es womöglich dahin käme, dass Herr Hettstädt ihr aufschriebe, dann möchte sie nur gleich ihr Bündel schnüren, denn der Professor habe auch keine Lust, liederliche Weibsbilder durchzufüttern!
Margret antwortet nicht, sie verschlingt die bebenden Hände voll stummer Qual vor der Brust, und Frau Hauser scheint auch gar keine Rechtfertigung zu erwarten, sie schlägt die Tür schmetternd hinter sich ins Schloss, und das junge Mädchen tastet sich im Dunkeln nach ihrem Stübchen.
Mondschein füllt es mit silbernem Licht, und wie vernichtet vor Leid und Weh sinkt Margret auf die Knie und presst das Antlitz in die Hände.
Was ist geschehen?
Ach, dass sie selber das Furchtbare, Entsetzliche fassen und begreifen könnte!
Vernichtet! Moralisch gemordet! Ihre Ehre aufs rettungsloseste gebrandmarkt! O Herr des Himmels, solch eine Schmach ist ja gar nicht auszudenken!
Kann sie jemals vor der Welt wieder gerechtfertigt werden?
Wenn der Bursche die Wahrheit aussagt, wie sie den Verwundeten fanden und unter das erste beste Dach schleppten — —
Aber nein! Das würde ja den jungen Offizier aufs äusserste blossstellen, würde es stadtbekannt machen, in welch unwürdigem Zustand er sich befunden, und die Folge würde sein, dass er den Abschied bekäme, — sagte der Bursche nicht so? —
Dann ist die Existenz eines jungen Menschen, der vielleicht noch viel Gutes und Nützliches in der Welt wirken kann, für immer vernichtet, und warum? Um ihr armseliges, nutz- und zweckloses Dasein dem Elend zu erhalten. Nimmermehr! — Sie muss und wird schweigen, um ihn zu retten, — was liegt an ihr? —
Und doch ... wenn Olmütz auf sein Ehrenwort versicherte ...
Margret schüttelt leidenschaftlich das Haupt. Umsonst! Kein Mensch würde ihm Glauben schenken! Was nützen Worte angesichts der vernichtenden Tatsache, dass ein junges Mädchen in der Nacht die Wohnung eines Herrn verlässt? —
Ach, es bedurfte nicht der bitteren, feindseligen Stimmung der ganzen Gesellschaft gegen sie, um sie durch diese Tatsache für ewige Zeit zu richten.
Verlassen und verloren! Wie der Stein auf den Strassen — so schutzlos allein! —
Die Würfel sind gefallen.
„Schnüre dein Bündel! Deines Bleibens ist’s in diesem Hause nicht länger!“ — sagte es Agnes nicht schon heute abend? Ach — und was wird sie erst sagen, wenn sie morgen die ganze furchtbare Wahrheit erfährt, — wenn sie hört, was geschehen ist, was der Amtsrichter der Braut angetan! — Margret schaudert, voll Entsetzen springt sie empor und krampft die Hände um die Stuhllehne. Nur das nicht erleben!
Soll sie denn den Leidenskelch noch bis zum letzten Tropfen auskosten?
Ihres Bleibens in diesem Hause ist nicht länger; sie muss gehen, — und je eher sie es tut, desto besser.
Mechanisch greift sie nach dem Licht und entzündet es; mit unsicher tastenden Händen, voll fieberischer Hast beginnt sie ihre wenigen Habseligkeiten zu packen.
Auf dem Tisch liegen Zeitungen, sie wickelt ihre Sachen darein, öffnet den kleinen Koffer und füllt ihn mit dem Notwendigsten. Und während sie, halb tot vor Angst und Sorge, davor kniet, wirbeln die Gedanken hinter ihrer Stirn —: wohin? Wohin in der grossen, fremden, schrecklichen Welt! — Gott mag es wissen, — ihm vertraut sie sich an! — Und in ihrer höchsten Not faltet sie die Hände und hebt sie voll inbrünstigen Flehens zum Himmel: „Da die Menschen mich verlassen in meinem Elend, erbarme du dich meiner, du barmherziger Vater droben! Ich habe ja keinen anderen Helfer in der Not, wie dich allein!“
Und es wird stiller in ihrem Herzen, eine wundersame Zuversicht überkommt sie plötzlich, und sie hört die Stimme des Predigers, als er ihr die Hand segnend auf das Haupt legte und ihr den Konfirmationsspruch mit auf die lange Pilgerfahrt des Lebens gab: „Aus sechs Trübsalen will ich dich erretten, und in der siebenten soll dich kein Übel rühren!“
Nun will sie des Herrn harren, — er wird es wohl machen.
Zuerst kehrt sie zurück in die Pension, wo sie ehemals so liebevoll aufgenommen war, — von da aus finden sich dann wohl schon Mittel und Wege, für ein Unterkommen zu sorgen. Die müden, umschatteten Augen beleben sich bei diesem Gedanken, eifriger noch schaffen die bebenden Hände! Und als Margret abermals ein Stück Zeitung fasst, einen Schuh hineinzuschlagen, treffen ihre Blicke eine grossgedruckte Anzeige.
Das Licht flackert, — mechanisch hebt Fräulein von Uttenhofen das Blatt.
„Frauen und Jungfrauen gebildeter Stände, die das herzliche Verlangen und den Beruf in sich fühlen, sich der Krankenpflege zu widmen, respektive als Diakonissinnen einzutreten, finden jederzeit freundliche Aufnahme in der Kinderheilstätte Bethesda.“ — Der Namen einer grossen Stadt folgt sowie die Unterschriften des Vorstandes. Wie ein leiser, halb erstickter Jubellaut ringt es sich von Margrets Lippen.
Sie rafft sich empor, sie liest ein-, zweimal, und ein verklärendes Leuchten zieht über das bleiche, tränenfeuchte Angesicht —: Jederzeit! Jederzeit findet sie Aufnahme! —
Diakonissin! —
Hochauf schlägt ihr Herz in freudigem Entzücken. Wie war es möglich, dass ihr dieser Gedanke nicht schon längst gekommen!
Welch ein anderer Beruf möchte ihr so zusagen, wie just dieser!
Diakonissin! —
Hat sie es nicht erst heute erprobt, welch eine Fülle von Seligkeit und froher Genugtuung in dem Samariterdienst liegt?
Stand sie nicht am heutigen Tage schon zweimal an seiner Schwelle, just, als sei ein Ruf an sie ergangen: Komm! Eile dem Elend und der Not zu Hilfe! Hier wohnt Glück und Frieden, kehre ein bei den Kranken und Hilflosen, sie rufen nach dir und geben deinem Leben den Wert, der es vor Gott wohlgefällig macht! Sie hatte aber diesen Ruf nicht verstanden, sie strauchelte blind und gleichgültig auf ihrem dornigen Pfade weiter ... und Gottes Hand musste erst nach ihr greifen und sie mit einem wehen, harten Schlag der Zuchtrute dem rechten Ziele zuweisen.
O, nun versteht sie den Willen des Allmächtigen, der selber von sich sagt: Meine Wege sind nicht eure Wege! —
Wie eine Flut von Licht wogt es plötzlich vor Margrets Blicken und lässt ihr armes, gequältes Herz hoch aufschlagen in gläubigem Entzücken. Sie hat eine Heimat gefunden!
Eine Tür ist vor ihr aufgetan, darinnen steht im weissen Kleid die Barmherzigkeit, die breitet die Arme nach ihr aus und lächelt sie mit dem Blick heiliger Liebe an: Kehr ein bei mir, du armes, verwaistes Kind, ich will hinfort deine Mutter sein! —
Nun kennt Margret ihr Vaterhaus.
Wie ein Aufatmen der Erlösung geht es durch ihr ganzes Wesen und Sein.
Ihre Lippen lächeln, ihre fleissigen Hände schaffen doppelt so schnell, und bald sind ihre wenigen Sachen gepackt; sie steht und blickt voll Wehmut durch das stille, kleine Stübchen. Und dann schreibt sie voll fliegender Hast noch ein paar Zeilen an den Onkel, dankt ihm voll warmer Herzlichkeit für all das Liebe und Gute, das er an ihr getan, und schwört es ihm, beim Andenken an ihre teuern Eltern, dass sie schuldlos sei, so sehr auch aller Schein gegen sie sein möge! Sie könne keine Beweise zu ihrer Entlastung bringen, Gott sei’s geklagt, und darum werde die Meinung der Stadt gegen sie sein und sie aufs härteste verdammen, — dennoch sei ihr Gewissen rein und ihre Ehre makellos. — Immerhin könne und wolle sie ihm unter diesen herben Anschuldigungen nicht länger zur Last fallen. Sie wolle sich ihren Weg durch das Leben bahnen und hoffe, ihm nach Jahren den Beweis bringen zu können, dass sie seinen Namen in Ehren gehalten. Er möge nicht nach ihr forschen, sondern sie ihrem Schicksal überlassen, es werde sich alles zum besten wenden. Wie gern hätte sie persönlich Abschied von ihm genommen, doch sei es besser, die Aufregung bliebe ihm erspart. — Noch einmal ein Lebewohl und die Versicherung inniger Dankbarkeit, — dann schloss Margret den Brief und legte ihn recht auffällig mitten auf den Tisch.
Das Licht der Kerze fiel auf ihre Hand und leuchtete auf den schmalen Goldreif an ihrem Finger.
Das junge Mädchen zuckte zusammen.
Langsam streifte sie den Reifen ab und legte ihn auf das Schreiben.
Und dabei war es ihr plötzlich, als habe sie eine erdrückend schwere, demütigende Last von sich geworfen.
Sie hob die Arme und breitete sie voll schwärmerischen Entzückens dem mondhellen Nachthimmel entgegen.
„Erlöst! — O Herrgott des Himmels, habe Dank!“ stammelte sie, — küsste den roten Streif, den der Ring auf ihre Haut gezeichnet, und lächelte wie verklärt. „Ich habe ihn geduldig getragen, wie ein Joch, das mir dein Wille, o Herr, auferlegt! Nun hast du es voll Barmherzigkeit selber von mir genommen, und das dank’ ich dir in Ewigkeit!“ —
Frei! — Ja sie war frei! —
So entflieht ein Vögelchen dem Käfig, hinter dessen Gittern es in qualvoller Gefangenschaft geschmachtet. Frei! Los und ledig von all dem Elend, das sie hier umgeben.
Nun will sie einem neuen Leben entgegengehen.
Freundliche Sterne zeigen ihr den Weg, und der ganze Frühling voll Duft und Klang zieht mit ihr und gibt das Geleit!
Ach, wie so ganz verändert lächelt Margret jetzt in seinen wonnigen Zauber hinaus! Ihr Blick schweift über die träumenden Wipfel und haftet auf dem fernen, dunklen Dach, unter dem ein bleiches, zu Tode erschöpftes Antlitz in den Kissen ruht. —
Wie heisst er, dem sie Hilfe gebracht, um dessentwillen sie selber bei Nacht und Nebel entfliehen muss, einem unbekannten Schicksal entgegen?
Ihn hielt sie barmherzig im Arm, derweil ein Blitzstrahl vernichtend ihr eigen Nest getroffen. Ach, dass sie seinen Namen wüsste! —
Aber wozu? — Die Wege, die sie künftighin wandelt, werden fernab von der Welt und ihrem Glücke liegen.
Und sie wird sich nicht danach sehnen. Unter dem Schleiertuch der Diakonissin ist kein Platz für die Myrte, wohl aber für die Erinnerung, die ihre bleichen Immortellen um das Bild eines fremden Mannes flicht.
Eines fremden Mannes! Wie kommt es, dass ihre Gedanken wieder und immer wieder zu ihm zurückkehren? — Dass sie sein Antlitz noch immer schaut, ob sie auch die Augen schliesse?
Sie wird ihn nie wiedersehen im Leben, das weiss sie, — aber sie weiss auch ein anderes: dass sie ihn nicht vergessen wird. —
Vier Schläge von der Kirchturmuhr. —
Margret richtet sich entschlossen auf und greift nach Mantel und Hut, steckt das Ledertäschchen, das das Geld für ihre Ausstattung birgt, zu sich und fasst den kleinen Reisekorb.
Er ist so leicht. —
Noch einen Abschiedsblick über den stillen Raum. Dann öffnet sie die Tür und schreitet lautlos die Treppe hinab.
Um ein halb fünf Uhr geht der Schnellzug, der sie in wenig Stunden zu dem ersehnten Ziele bringt.
Der Bahnhof ist nicht weit, dennoch reichen ihre Kräfte nicht aus, den Korb zu tragen.
Voll sorgender Angst steht sie auf der stillen Strasse und blickt um sich, ob keine Menschenseele zu ihrer Hilfe naht.
Da rumpelt es heran. Der Milchwagen aus der Vorstadtmolkerei. Margret kennt den alten Mann, der ihn lenkt. Sie ruft ihn an — sie bittet! Und nach wenig Augenblicken ist der Korb aufgeladen, sie selber sitzt neben dem freundlichen Helfer und fährt dem Bahnhof entgegen.
Die ersten roten Strahlen flammen am östlichen Himmel auf.
Die Nacht versinkt, — voll sieghafter Pracht steigt die Sonne empor.
Margret wendet ihr voll lächelnder, hoffnungsfroher Zuversicht den Blick entgegen, — ihr Begleiter aber schüttelt nachdenklich den Kopf und sagt: „Es steht noch eine Nebelwand davor! — Wollen sehen, ob die Sonne sie niederzwingt!“ —